JHK 1993

Blutige Vergangenheit*

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 226-248

Autor/in: Alexandr N. Jakowlew (Moskau)

Es gibt Wunden, die nicht vernarben. Mal fließt das Blut in Strömen, mal sickert es nur aus den Wunden und vermischt sich mit den Tränen. Bald sind die Wunden wieder offen, nässen sie auf dem Leib, schmerzen sie in den leidenden Seelen und im Gedächtnis. Die Zeit heilt diese Wunden nicht. Denn je weiter wir uns von jenen verdammten Jahren entfernen, desto lauter wird der Ruf des unerbittlichen Gedächtnisses.Die Frage ist ihrem Wesen nach gleichzeitig einfach und abscheulich: Wie konnte es passieren, daß Millionen ganz und gar unschuldiger Menschen aus der Manie einer Handvoll Verbrecher heraus vernichtet, daß noch mehr zu qualvollem Leid verurteilt wurden. Und all dies fand mit lauter oder stillschweigender Billigung ebenfalls von Millionen von Menschen statt, die irregemacht wurden, die sich nicht klar wurden, daß auch sie der Generation der Erschossenen angehörten, potentielle Opfer waren.Die Tragödie betraf aber nicht nur die Toten, sondern auch die Lebenden. Millionen von Menschen lebten ihr Leben, freuten sich, waren glücklich, zogen Kinder auf, träumten von einer besseren Zukunft. Sie glaubten leidenschaftlich an diese Zukunft und haßten all diejenigen, die, wie man ihnen einredete, den schnellen Weg zu diesem Glück verstellten.Diese verdammten, aber auch widersprüchlichen Zeiten mit den geteilten Herzen und Seelen, mit ihrem durch trügerischen Glauben verdorbenen Gewissen!Charakter und Dimension der Rehabilitierung in den fünfziger JahrenAlles schien unerschütterlich wie ein Felsen, nichts - so schien es - konnte das Bild trüben. Da hielt aber am 25. Februar 1956, am letzten Tag des XX. Parteitages der KPdSU, in nicht-öffentlicher Sitzung außerhalb der Tagungsordnung N.S. Chruschtschow sein Referat \"Über den Personenkult und seine Folgen\". Die Wahrheit über die von Stalin* Der vorliegende Text basiert auf einem Referat, das der Autor am 18. Mai 1992 auf einer Veranstaltung des Hamburger Instituts für Sozialforschung gehalten hat. Er wurde übersetzt und redaktionell überarbeitet von Dr. Waleri Brun-Zechowoj und Carsten Tessmer. A. N. Jakowlew: Blutige VergangenheitJHK 1993 227und seiner Umgebung gegen das Sowjetvolk begangenen Greueltaten und Verbrechen kam ans Licht.Es sei erwähnt, daß die ganze Welt im großen und ganzen von diesen Verbrechen wußte, auch in unserem Land wußte man Bescheid. Sowohl damals in den fünfziger Jahren als auch heute symbolisiert das \"Jahr 1937\" Recht- und Gesetzlosigkeit.Als junger Parteifunktionär saß ich während dieses Parteitags auf der oberen Galerie. Ich war 32 Jahre alt. Gewiß - ich war Marxist, hatte an Stalin geglaubt und war mit diesem Glauben durch den Krieg gelangt. Auch ich glaubte inbrünstig an das dem Volk versprochene Paradies auf Erden. Ehrlich gesagt, bewegten mich - wie viele andere - in Gedanken vage Zweifel, stellten sich mir unangenehme Fragen. Doch der Glaube an die \"Größe\" der zu vollbringenden Aufgaben, die Ehrfurcht vor den weisen Männern im Kreml, die zweifelsohne besser wußten als andere, was sie taten, verdrängten sie ohne Schwierigkeiten.Das, was ich jetzt hörte, ließ mich verzweifeln, machte aber auch nachdenklich. Ich hörte alles, was Chruschtschow sagte, aber ohne zu begreifen. Alles schien so irreal zu sein. Die Rede machte zunichte, was der Inhalt meines Lebens gewesen war, sie zerschlug den Sinn des Vergangenen, wirbelte Seele und Herz durcheinander.Im Saal herrschte bedrückende Stille. Man hörte weder Sessel knarren noch ein Husten. Der Saal war tot. Keiner sah den anderen an - entweder wegen der Schande oder aus Furcht. Chruschtschow nannte Fakt nach Fakt, einer schlimmer als der andere. Schritt für Schritt wurde klar, daß sich das niemand ausgedacht haben konnte, daß alles wahr war.Gesenkten Hauptes verließ man die Versammlung. Wenige unterhielten sich. Nur einsilbig waren die Antworten, zumeist ein \"Ja\", hinter dem sich aber viele, nuancenreiche Emotionen verbargen. Der Schock steckte sehr tief. Schließlich hatte das Regime mit Stalin als dem Hauptschuldigen offiziell Verbrechen eingestanden. Damals war dies etwas unglaubliches. Doch auch die Angst war groß. Der Vortrag wurde im Land nicht gedruckt. Man veröffentlichte ihn erst in der zweiten Hälfte der Amtszeit Gorbatschows und dies auch erst nach langen Diskussionen.Im Parteipräsidium saßen die ehemaligen \"Kampfgefährten\" Stalins, die mit ihm zusammen gegen das Volk gewaltsam vorgegangen waren. Im Saal waren auch nicht wenige unmittelbar verantwortliche Täter anwesend. Dennoch - so verzeichnet es das Stenogramm des Parteitags - klatschten alle Zuhörer dem Redner Beifall. Sowohl diejenigen, die zum ersten Mal von den Verbrechen gehört, als auch diejenigen, die sich an ihnen beteiligt hatten. Ich erinnere mich nicht an Applaus.Allgemein geht man davon aus, daß die Rehabilitierung der Opfer aus der Stalin-Ära erst mit diesem Parteitag begann. Aber bereits einige Wochen nach der Beerdigung Stalins wandte sich die Staatsführung dem Schicksal der Opfer der Repressalien zu. Schon am 20. März 1953 wurde auf der Sitzung des Präsidiums des ZK der Fall Schemtschuschina, der Frau Molotows, die Ende der vierziger Jahre Repressionen ausgesetzt gewesen waren, besprochen. Sie wurde vollständig rehabilitiert. So ging also die erste offizielle Rehabilitierung vonstatten.Einige Tage danach, am 3. April 1953, erörterte das Präsidium das Referat und die Vorschläge des Innenministeriums der UdSSR bezüglich der sog. \"Schädlingsärzte\". Es wurde festgestellt, daß Recht gebrochen und Zeugenaussagen gefälscht worden waren. Man schlug vor, die Untersuchungsführer zu bestrafen. Am selben Tag wurde der Fall 228 JHK 1993Biographische Skizzen/ZeitzeugenberichteMichoels besprochen. Eine Woche später befaßte sich das Präsidium mit den sog. mingrelischen Nationalisten, dem Fall Baramija. Es wurde entschieden, die unschuldig Verurteilten zu rehabilitieren.Am 3. Mai 1953 wandte sich das ZK-Präsidium dem sog. \"Leningrader Fall\" zu, beauftragte die zuständigen Stellen, ihn wiederaufzurollen und das genaue Schuldmaß von A.A. Kusnezow, M.I. Rodionow, N.A. Wosnessenski und anderen zu erörtern. Bis zum Februar 1956 wurde eine ziemlich große Gruppe Gefangener entlassen - alles Verwandte von Regierungs- oder ZK-Mitgliedern. Das alles tat man aber insgeheim. Die Staats- und Parteiführung fürchtete, dem Volk offen und ehrlich von den Verbrechen zu berichten, weil man über sich selbst hätte sprechen müssen.Wie die Dokumente belegen, wurde das Referat Chruschtschows in aller Eile während des Parteitags vorbereitet. Der Autor der ersten (erhaltenen) Fassung war Pospelow. In ihr werden die dem Präsidium des ZK schon bekannten Fakten ziemlich nüchtern aufgelistet und der Versuch unternommen, die verübten Verbrechen als \"historisch unvermeidlich\" und \"zwangsläufig\" zu rechtfertigen. Es wurde erneut die ganze Litanei propagandistischer Klischees von der Verschärfung des Klassenkampfes über die Einkreisung durch den Kapitalismus und die Existenz antisowjetischer Untergrundorganisationen bis hin zur Behauptung, Stalins Gegner in der Partei hätten den Kapitalismus wieder errichten wollen, wiederholt. Chruschtschow übernahm aus diesem Entwurf nur die Gesamtstruktur und die konkreten Fakten. Seine Bewertung der Willkür und Gesetzlosigkeit fiel ungleich schärfer aus.Nach dem Parteitag jedoch geriet die Haltung der Sowjetführung hinsichtlich der weiteren Untersuchung der Verbrechen und der Unterrichtung der Allgemeinheit allmählich ins Schwanken und begann, Widersprüche aufzuweisen. Zudem bildete sich eine Gruppe, die sich allen Maßnahmen zur Entstalinisierung der Gesellschaft, auch der Veröffentlichung des Referates Chruschtschows, widersetzte.Im Anschluß an den XX. Parteitag wurde eine von Schwernik geleitete Rehabilitierungskommission eingesetzt. Ihr gehörten Mitglieder des Parteiapparates und Vertreter der Justizorgane an. Grundlage der Kommissionsarbeit waren die Eingaben der Opfer, ihrer Angehörigen oder derjenigen, die von ihren liquidierten Genossen berichteten. Zudem existierte eine Sonderkommission zur Aufklärung des Kirow-Mordes.In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre kehrten Zehntausende in den dreißiger, vierziger und sechziger Jahren unschuldig Verurteilter aus den Lagern, Gefängnissen und der Verbannung zurück. Ziemlich bald gerieten die Rehabilitierungen leider ins Stocken, bevor sie Ende der sechziger Jahre ganz eingestellt wurden. Für den damaligen Rehabilitierungsprozeß war eine Besonderheit kennzeichnend. Die Anschuldigungen wurden für unbegründet erklärt und zurückgenommen, die Menschen wurden aus den Gefängnissen entlassen. Aber eine Bewertung der zugrundeliegenden Gründe für die Gesetzlosigkeit blieb genauso aus, wie diejenigen, die an den Greueltaten schuldig waren, nicht namentlich genannt wurden.Es wurde nicht in Zweifel gezogen, daß die politischen Prozesse in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre begründet waren. Genausowenig wurden Zweifel an der Richtigkeit der damaligen Einschätzung der politischen Lage im Land und in der Partei sowie der Behauptung, es existierten \"Untergrundszentren\", Blöcke usw., angemeldet.Offensichtlich wollte man auf den in den dreißiger Jahren geschaffenen Mechanismus der Repressionen genausowenig wie auf die Konzeption der Parteigeschichte und der A. N. .lakowlew: Blutige Vergangenheit.!HK 1993 229sowjetischen Gesellschaft der zwanziger/dreißiger Jahre verzichten. Es ist verständlich, daß die Männer der Staatsführung nicht über Repressionen, deren Organisatoren und Vollstrecker reden wollten, hätten sie doch über sich selbst sprechen müssen.Ohne die Bedeutung der nach dem XX. Parteitag getroffenen Maßnahmen mindern zu wollen, muß gesagt werden, daß es sich nur um erste, zudem sehr kleine Schritte gehandelt hat. Es folgte danach eine sehr lange Zeit, in der man nicht nur versuchte, Stalin und seine Umgebung reinzuwaschen, sondern in der auch eine Tendenz zu Tage trat, die Willkür und Gesetzlosigkeit jener Zeit sowie ihre Opfer zu verschweigen.Warum führte Chruschtschow die Rehabilitierungen nicht zu Ende? Warum stellte er diesen Prozeß ein? Doch nur deshalb, weil er, indem er die Wahrheit über die Verbrechen gesagt hätte, das System hätte charakterisieren, die Greueltaten des Systems und nicht von Menschen hätte bewerten müssen. Nötig wären konkrete Maßnahmen gewesen, die Repressionen in Zukunft ausschlössen und die garantierten, daß ein Rückfall in den Stalinismus oder eine Rückkehr zu einer beliebigen seiner Erscheinungen unmöglich würde.Nötig wären konkrete Maßnahmen gewesen, die einem verbrecherischen System eine entschiedene Absage erteilt hätten. Doch dieses Ziel verfolgte weder Chruschtschow noch jemand aus seiner Umgebung. Im Gegenteil war man bemüht, das System zu erhalten und höchstens dessen Extreme, dessen inhumanen und antidemokratischen Erscheinungen, zu beseitigen.Überwogen unter Chruschtschow noch Inkonsequenz sowie ein Hin und und Her in der Bewertung Stalins und des Stalinismus, so trieb seine Nachfolger mehr die Rehabilitierung Stalins um, dessen Autorität unter den \"Schlägen\" des XX. Parteitags sehr gelitten hatte. Die Verbrechen des Stalinismus, die massenhafte Verfolgung sollten verschwiegen werden.Warum stellte sich die Frage nach der Rehabilitierung der Opfer des Stalinismus im Zuge der Perestroika erneut? Wohl deshalb, weil wir im Verlauf der gesellschaftlichen Reformen an einen Wendepunkt gelangt waren, an dem entweder auf Reformen verzichtet oder aber dem stalinistischen System eine entschiedene Absage erteilt werden mußte.Bildung der Kommission zur Untersuchung der Repressionen in den dreißiger und vierziger Jahren sowie Anfang der fünfziger JahreIm Zuge der Perestroika begann eine aktive Entstalinisierung. Ende 1987 wurde eigens eine Rehabilitierungskommission des ZK der KPdSU ins Leben gerufen. Ihr gehörten unter meinem Vorsitz die KGB-Chefs Tschebrikow und Krjutschkow, die ZK-Sekretäre Medwedjew, Rasumowski und Lukjanow, der Leiter der ZK-Abteilung, Boldin, sowie der Generalstaatsanwalt und der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs an. In etwas mehr als drei Jahren, in denen die Kommission tätig war, wurden mehr als eine Million Menschen - das sind um ein vielfaches mehr als bis 1988 - durch richterliches Urteil rehabilitiert.Es war eine äußerst schwere Arbeit, sowohl physisch als auch moralisch. Es galt, viele Dokumente durchzulesen, aus denen das Blut unschuldiger Opfer des Stalinregimes triefte. Wahrscheinlich bin ich seit jener Zeit von der Politik im allgemeinen enttäuscht. Doch endeten die durchwachten Nächte damit, daß ich mich selbst verfluchte, weil mich irgendeine böse Macht in die Politik getrieben hatte. 230 JHK 1993Biographische Skiu,en/ZeitzeugenberichteFrüher hielt ich die Politik für eine saubere, anständige Tätigkeit, die in der Lage ist und danach trachtet, dem Allgemeinwohl im Interesse der Menschen zu nutzen. So dachte ich, bis ich hunderttausende \"Fälle\" vor mir hatte, hinter denen Menschen standen, die gelebt, sich des Lebens gefreut, ihre Familie und ihr Land geliebt hatten, aber dann auf Befehl oder infolge einer Denunziation ohne Gerichtsverfahren erschossen worden waren. Ihre Leichen wurden in Gräben oder Sümpfe geworfen, so daß viele Gräber bis heute nicht gefunden wurden.Durch das Studium dieser blutbefleckten Dokumente, dieser Zeugnisse von Unglück und Verrat, kam ich mehr und mehr zu der Überzeugung, daß Politik nichts anderes als ein Ausfluß von Immoralität und feierlicher Betrug zu eigennützigen Zwecken ist, angetrieben von Machtgier, Heuchelei und Ehrlosigkeit.Die Sitzungen der Kommission fanden ziemlich regelmäßig statt. Grundlage ihrer Arbeit waren Dokumente, Gutachten und Beschlußprojekte, die von der Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR, vom KGB, dem Obersten Gericht, dem Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der KPdSU und einer kleinen Gruppe von ZK-Mitarbeitern vorbereitet worden waren.Die Arbeit der Kommission gestaltete sich folgendermaßen. Wenn es um die Rehabilitierung konkreter Personen ging, lag der Kommission bereits der diesbezügliche Beschluß des Obersten Gerichts vor. Indem sie diese Beschlüsse zur Kenntnis nahm, erarbeitete sie sich eine Haltung zu den Wesensmerkmalen der Prozesse und Menschen, zur Fälschungspraxis usw. Die Kommission ersetzte weder das Oberste Gericht noch die Staatsanwaltschaft oder die Staatssicherheit. Ich halte die Gründung der Kommission unter den konkreten Bedingungen für richtig. Denn nur so wurde verhindert, daß die mit diesen schweren Entscheidungen über menschliche Schicksale befaßten Amtsträger der Versuchung erlagen, die eigene Weste bzw. das eigene \"Nest\" reinzuhalten. Streit hat es in den Sitzungen nicht gegeben.Heute, da manche Kommissionsmitglieder als Teilnehmer am August-Putsch bekannt sind, ist es freilich einfach zu sagen, daß sie in ihr eine besondere Stellung inne hatten und ihre Arbeit behinderten. Doch das wäre falsch. Es gab keinerlei Dissens darüber, daß die unschuldig Verurteilten rehabilitiert werden mußten. Wenn es zu Auseinandersetzungen kam, waren sie rein sachlicher Natur.Wie kann man die Arbeit der Kommission bewerten? Wie kann man ihre Tätigkeit bilanzieren? Die Kommissionsarbeit war auf das Engste verbunden mit dem Prozeß der Perestroika, mit jenen Veränderungen der sowjetischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Mit ihnen erschlossen sich auch eine neue Herangehensweise und ein neues Verständnis unserer Geschichte. Wichtig war, nicht nur die Gerechtigkeit wieder zur Grundlage des Rechtssystems zu machen, sondern auch historische Ereignisse hinsichtlich ihrer politischen und moralischen Seite zu bewerten.Am Anfang der Kommissionsarbeit stand die Untersuchung aller Umstände der Schauprozesse in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre. Nach dem sorgfältigen Studium aller diesbezüglichen Materialien stellte die Kommission fest, daß sie verfälscht worden waren und auf Aussagen beruhten, die auf verbrecherische Art und Weise durch Mißhandlung und Erpressung der Angeklagten erlangt worden waren. Es gab also weder einen \"trotzkistisch-sinowjewistischen\" noch einen \"rechts-trotzkistischen\" Block oder \"Reserven\" - das waren alles \"Erfindungen\" der Organisatoren und Exekutoren der Repressionen. A. N. Jakowlew: Blutige VergangenheitJHK 1993 231Wir stellten fest, daß man in den dreißiger Jahren außer den vier allseits bekannten Schauprozessen allein in Moskau noch mehr als 60 Geheimprozesse unter Ausschluß der Öffentlichkeit inszeniert hat, in denen Tausende unschuldiger Menschen verurteilt wurden. Verhandelt wurden dort u.a. der \"Kreml-Fall\", die Fälle \"Moskauer\" und \"Leningrader Zentrum\" sowie Anklagen gegen die Arbeiteropposition usw.Die Liquidierung der Kulaken - Krieg gegen das eigene VolkOpfer der ersten Massenrepressionen waren die Kulaken - der aktivste Bevölkerungsteil des nachrevolutionären Dorflebens - während der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft zu Beginn der dreißiger Jahre. Ein beträchtlicher Teil der Betroffenen - etwa 1,2 Millionen Bauern - wurde zusammen mit ihren Familien in entlegene Regionen des Landes oder in Arbeitslager in der Nähe von Bauvorhaben in Sibirien oder im hohen Norden verbannt. Die überaus grausamen Strafmaßnahmen richteten sich nicht nur gegen die Hofbesitzer, sondern auch gegen ihre Familien, Kinder und Greise eingeschlossen. Millionen wurden obdach- und mittellos, verloren zudem alle Rechte. Im Zuge der Repressionen gegen die Kulaken - der russische Terminus technicus lautet in wörtlicher Übersetzung \"Entkulakisierung\" - wurden 520 000 Bauern zu Freiheitsstrafen verurteilt. Viele von ihnen wurden erschossen oder kamen auf dem Weg in die Verbannungsorte und Sondersiedlungen um. Besonders hoch war die Sterblichkeit in den Lagern und unter den Zwangsarbeitern, die im Bergbau und beim Holzeinschlag eingesetzt waren.Es sind nur wenige Dokumente erhalten, die das Schicksal dieser unglücklichen Menschen beleuchten. Doch es gibt Angaben darüber, daß im Laufe eines Winters Zehntausende in den Nordural zwangsumgesiedelter Bauern aus dem Gouvernement Cherson vor Kälte und Hunger starben.Wie Stalin selbst die Maßnahmen gegen die Kulaken einschätzte, ist überliefert. Er tat dies gegenüber Churchill während einer dessen Visiten in den Kriegsjahren in Moskau. Churchill fragte Stalin: \"Sagen Sie mir, ob sich die Belastungen dieses Krieges auf Sie persönlich genauso schwer auswirken wie die Durchführung der Kollektivierung.\"\"Oh nein\", antwortete Stalin, \"die Politik der Kollektivierung war ein schrecklicher Kampf.\"\"Ich dachte mir auch, daß Sie sie für schwieriger halten\", bemerkte Churchill, \"hatten Sie es doch nicht mit einigen Zehntausend Aristokraten und Großgrundbesitzern, sondern mit Millionen kleiner Leute zu tun.\"\"Mit 10 Millionen\", sagte Stalin und hob die Hände, \"Das war etwas schreckliches, was vier Jahre dauerte... \"\"Waren das die Menschen, die Sie Kulaken nannten?\" \"Ja\", entgegnete Stalin, ohne das Wort zu wiederholen. \"Was ist passiert?\" fragte Churchill. \"Nun\", antwortete Stalin, \"viele von ihnen waren mit unserem Weg einverstanden und gingen ihn mit. Einigen von ihnen gab man ein Stück Land in den Bezirken Tomsk, Irkutsk und noch weiter im Norden, das sie selbst bearbeiten konnten. Aber der größte Teil von ihnen war sehr unbeliebt und wurde von ihren Knechten umgebracht.\" 232 JHK 1993Biographische Skizzen/ZeitzeugenberichteStalin und seine Umgebung - die eigentlichen Organisatoren der MassenrepressionenIm Laufe der Kommissionsarbeit fanden wir bestätigt, daß während der Ermittlungsarbeiten und der Gerichtsverfahren mit Billigung der Staatsführung gefoltert und mißhandelt worden war.Als die Welle der Repressionen 1938 etwas abflaute und die Führer örtlicher Parteiorganisationnen anfingen, den Mitarbeitern des NKWD zur Last zu legen, sie hätten physischen Zwang auf die Häftlinge ausgeübt, war es niemand anderes als Stalin, der den Sekretären der Gebiets- und Regionalkomitees der Partei sowie den ZKs der nationalen KPs, den Volkskommissaren für innere Angelegenheiten und den Verwaltungsleitern des NKWD am 10. Januar 1939 ein chiffriertes Telegramm schickte.In diesem Telegramm hieß es: \"Das ZK der WKP(B) [Wsesojusnaja kommuni-stitscheskaja Partija = Allunions-KP, d. Übers.) erklärt, daß die Anwendung physischenZwanges durch den NKWD seit 1937 vom ZK der WKP(B) zugelassen ist...\" Die \"Anwendung physischen Zwanges\" ist eine allzu gelinde Bezeichnung dessen,was in Wirklichkeit vor sich ging. Es gab Folter, Mißhandlung durch Prügeln, Schlafentzug, Nachtverhöre nach dem \"Fließbandprinzip\" (die Untersuchungsführer lösten sich ab, dem Häftling wurde keine Pause gegönnt), stundenlanges Stehen, die Androhung, daß man mit den Angehörigen und nahen Bekannten abrechnen werde, u.v.m. Was den Zeitpunkt betrifft, von dem an vom NKWD gefoltert worden war, log Stalin. Die Folter setzte man schon vor 1937 ein.Stalin dirigierte persönlich die Vorbereitung vieler Gerichtsverfahren. Er hat bekanntlich am 2. Dezember 1934 bei seiner Ankunft in Leningrad nach der Ermordung Kirows die Ergebnisse der Untersuchung abgelehnt und die Weisung ausgegeben, daß der Mord an Kirow das Werk der Sinowjewisten gewesen sei.Auch früher hatte sich Stalin bereits in die Arbeit der Untersuchungsbehörden eingemischt. Dies belegt z.B. sein uns überliefertes Schreiben an Menschinski, den Vorsitzenden der OGPU, während der Vorbereitung des Verfahrens gegen die \"Industriepartei\". In diesem Brief schreibt Stalin, daß die Untersuchungshäftlinge über ihre Verbindungen zu den Regierungen in Westeuropa und über die Vorbereitung einer militärischen Intervention in der Sowjetunion auszusagen hätten. Der Brief endet mit der Frage an Menschinski: \"Verstanden?\" Menschinski und seine Mitarbeiter haben den Wunsch ihres \"Chefs\" sehr gut verstanden. Die gewünschten \"Geständnisse\" wurden geliefert.Wie man zu diesen \"Geständnissen\" gelangte, belegen viele Dokumente. Dazu gehören die Aussagen des ehemaligen Direktors des Lefortowo-Gefängnisses, Simins: \"Zu den Verhören kamen oft auch die Volkskommissare des NKWD - sowohl Jeschow als auch Berija. Beide verprügelten dabei Gefangene. Ich selbst habe gesehen, wie Jeschow Gefangene schlug... Als Berija Blücher übel zurichtete, schlug er ihn nicht nur mit den Händen, sondern er ermunterte seine Begleiter, Blücher regelrecht zu foltern, so daß dieser schrie: \"Stalin, hörst Du wie man mich mißhandelt?\" Berija brüllte zurück: \"Erzähl, wie Du den Osten verraten hast!\" Am Ende der Folter bezichtigte Blücher sich selbst, in Verbindung mit rechten und trotzkistischen Organisationen gestanden zu haben. Kurz darauf verstarb er in der Untersuchungszelle. A. N. Jakowlew: Blutige VergangenheitJHK 1993 233Wie jetzt feststeht, liefen viele Gerichtsverfahren nach vorher vorbereiteten Szenarien ab, waren die Urteile bereits geschrieben.Es sind die Aufzeichnungen der Begegnungen zwischen Radek und Wyschinski während der Vorbereitungen des Prozesses gegen das \"Antisowjetische trotzkistische Parallelzentrum\" erhalten. Der Angeklagte Radek las Wyschinski den von ihm verfaßten Entwurf seines \"Schlußwortes\" vor.Nach Augenzeugenberichten reagierte Wyschinski wie folgt: \"Und das ist alles?\", fragte er streng. \"Das taugt nichts. Bemühen Sie sich, dieses und jenes zu erklären, dieses und jenes zu gestehen, dieses und jenes zu verurteilen.\" Und Radek erfüllte die Forderungen Wyschinskis.Erwähnt werden muß, daß alle Entwürfe der Anklageschrift in dieser Sache Stalin persönlich zugeleitet und auf dessen Geheiß mehrere Male umgearbeitet wurden. So schreiben Jeschow und Wyschinski in einem Begleitbrief zum zweiten Entwurf der Anklageschrift am 9. Januar 1937: \"Wir übersenden Ihnen den in Übereinstimmung mit Ihren Anweisungen überarbeiteten Entwurf der Anklageschrift gegen Pjatakow, Sokolnikow, Radek und andere... \" Stalin selbst redigierte die zweite Fassung der Anklageschrift und ersetzte dort den Namen S.B. Tschlenows durch den I.D. Turoks. So wurde bis zum Tode Stalins verfahren. Seit Ende der vierziger Jahre beobachtete er persönlich alle Verfahren, in denen Anklagen wegen \"jüdischen Nationalismus\" verhandelt wurden. Am 3. April 1952 richtete der Minister für Staatssicherheit der UdSSR einen Brief an ihn: \"An den Genossen StalinAnbei schicke ich Ihnen eine Kopie der Anklageschrift gegen die jüdischen Nationa-listen und amerikanischen Spione Losowski, Fefer und andere. Ich melde, daß die Untersuchungsakten zur Prüfung an das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR mit dem Vorschlag weitergeleitet worden sind, Losowski, Fefer und alle ihre Mitangeklagten - mit Ausnahme Sterns - zum Tode durch Erschießen zu verurteilen.Stern sollte für 10 Jahre in eine entlegene Gegend des Landes verbannt werden. S. Ignatjew\".Stalin war mit dem Vorschlag des Ministeriums einverstanden, kürzte jedoch die Dauer der Verbannung für Stern auf fünf Jahre. Gerade Stalin war der Initiator und Organisator der Massenverhaftungen, der Erschießungen ohne Gerichtsverfahren, der Deportationen Hunderttausender von Menschen.Die verbrecherische Praxis war weit verbreitet: Das NKWD stellte Listen mit Personen zusammen, deren Fälle durch das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR oder die \"Besondere Konferenz\" des NKWD untersucht wurden, wobei die \"Strafe\" bereits vorher feststand. Diese Listen gingen an Stalin persönlich. In ihnen unterschied man drei Kategorien von Strafen: Erstens Tod durch Erschießen, zweitens Gefängnis zwischen 8 und 25 Jahren und drittens Gefängnis bis zu 8 Jahren und Verban-nung. Es wurde nur ein Teil der Listen gefunden, die das NKWD an Stalin persönlich ge-schickt hatte, bisher 383 Listen aus den Jahren 1937/38 mit 44 000 Namen prominenter Politiker, hoher Militärs und Wirtschaftsfunktionäre. Von ihnen wurden 39 000 erschossen, 5 000 zu Gefängnisstrafen zwischen 8 und 25 Jahren und 102 zu Haftstrafen bis zu 8 Jahren verurteilt oder in die Verbannung geschickt. Auf den Listen finden sich handschriftlich notierte Beschlüsse von Stalin und anderen Politbüromitgliedern. Von den 383 Listen tragen 362 die Unterschrift Stalins, 373 die von Molotow, 195 die von Woro- 234 JHK 1993Biographische Skizzen/7,eitzeugenberichteschilow, 191 die von Kaganowitsch und 177 die von Schdanow. Auch Mikojan, Jeschow und S. Kossior haben einige unterschrieben.Die Mitglieder des Politbüros billigten nicht nur die vorgeschlagenen Repressionen, sondern spornten die Mitarbeiter des NKWD durch entsprechende Anmerkungen zu weiteren Repressionen und Quälereien der Häftlinge an. Neben manchen auf den Listen genannten Namen war notiert worden: \"Verprügeln und nochmals verprügeln.\"Eine der typischen Aktenvorlagen Jeschows sah wie folgt aus: \"An den Gen. Stalin. Ich schicke zur Bestätigung vier Listen mit Personen, die der Gerichtsbarkeit des Militärkollegiums unterliegen: 1. Liste Nr. 1 (allgemeine) 2. Liste Nr. 2 (ehern. Militärs) 3. Liste Nr. 3 (ehern. Mitarbeiter des NKWD) 4. Liste Nr. 4 (Ehefrauen von Volksfeinden) Ich bitte um die Genehmigung, alle zur Strafe der ersten Kategorie zu verurteilen.\" Die Listen wurden von Stalin und Molotow geprüft. Auf allen findet sich die Notiz: \"Einverstanden. J. Stalin, W. Molotow\". Am 30. Juli 1937 legten Stalin, Molotow und Kaganowitsch in Ergänzung des Befehls Nr. 00447 von Jeschow fest, daß 258 950 Personen zu Strafen der Kategorie 1 und 2 zu verurteilen seien. Diese Vorgabe wurde an die Republiken, Regionen und Bezirke weitergeleitet. Den örtlichen Organen des NKWD blieb es vorbehalten, die vorher festgesetzte Zahl von \"Volksfeinden\" ausfindig zu machen. Nicht selten machte man vor Ort Gegenvorschläge und überschritt die von oben vorgegebene Obergrenze. Die unmittelbare Verantwortung für die Repressionen tragen neben Stalin Molotow, Kaganowitsch, Berija, Woroschilow, Schdanow, Malenkow, Chruschtschow, Bulganin, Andrejew, S. Kossior, Suslow. Auch Jagoda, Jeschow, Abakumow, Wyschinski, Ulrich und andere waren persönlich an den Repressionen beteiligt. Als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare der UdSSR (1930-1941) war WM. Molotow maßgeblich mit der Organisation und Durchführung der Massenrepressionen in den dreißiger Jahren befaßt. Er trägt in erster Linie Verantwortung für die Liquidierung von Funktionären aus dem Staatsapparat. Viele von ihnen wurde auf seine persönliche Initiative hin verhaftet und umgebracht. Von denjenigen, die 1935 Mitglieder des Rats der Volkskommissare der UdSSR gewesen waren, kamen 20 in den Jahren der Repressionen ums Leben. Am Leben blieben lediglich Mikojan, Woroschilow, Kaganowitsch, Andrejew, Litwinow und Molotow selbst. Von den 28 Mitgliedern, die der Rat der Volkskommissare Anfang 1938 zählte, wurden 20 Opfer der Repressionen. Allein in den sechs Monaten zwischen Oktober 1936 und März 1937 wurden ungefähr 2 000 Mitarbeiter der Volkskommissariate (mit Ausnahme derjenigen der Verteidigung, des Inneren und des Äußeren) verhaftet. Im August 1937 bereitet Jeschow einen Einsatzbefehl des NKWD vor, der die massive Verfolgung gegen Personen polnischer Nationalität regelte. Auf diesem Befehl befinden sich handschriftliche Vermerke: \"Einverstanden - J. Stalin, W. Molotow, L. Kaganowitsch, S. Kossior\". Von August bis Dezember 1937 wurden im Rahmen dieser Operation 18 193 Menschen Opfer von Repressionen. A. N. Jakowlew: Blutige VergangenheitJHK 1993 235Während des Großen Vaterländischen Krieges und nach seiner Beendigung genehmigte Molotow Verhaftungen. Es gab Fälle, in denen Molotow statt der Genehmigung, die betreffenden Personen zu inhaftieren, neben die Familiennamen die Buchstaben \"WMN\", das Kürzel für Höchststrafe, notierte.1949 gab Molotow die Genehmigung zur Verhaftung vieler sowjetischer und ausländischer Bürger, die der Spionage und antisowjetischer Tätigkeit beschuldigt wurden. Die meisten von ihnen sind heute rehabilitiert, weil die Anklage jeder Grundlage entbehrte.Die gesamte politische Laufbahn L.M. Kaganowitschs steht in Verbindung mit Repressionen und Verfolgung. Die unsäglichen Folgen seiner Tätigkeit in den Jahren der Kollektivierung in der Ukraine, im Bezirk von Woronesch, im Nord-Ural und in WestSibieren sind bekannt.Eine besonders unheilvolle Rolle spielte Kaganowitsch in den Jahren der massiven Verfolgungen 1935-1939. Mit seiner Genehmigung waren Tausende und Abertausende Arbeiter aus den Bereichen Eisenbahn und Schwerindustrie verhaftet worden, die später zur Höchststrafe oder zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt wurden.Die von Kaganowitsch eigenhändig unterzeichneten Haftbefehle oder Genehmigungen zur Verhaftung von l 587 Transportarbeitern, die in den Jahren 1937-1939 Opfer der Repressionen geworden sind, füllen fünf Bände. Aus dem Briefwechsel zwischen Kaganowitsch und dem NKWD ist ersichtlich, daß er in einigen Fällen die Verhaftung von Personen genehmigte, über die man ihm kompromittierendes Material vorgelegt hatte; in anderen Fällen war er aber selbst der Initiator von Verhaftungen.Um die Verfolgungen zu organisieren, reiste Kaganowitsch in die Bezirke Tscheljabinsk, Jaroslawl und Iwanowo sowie ins Donbass. Nach seiner Reise nach Jwanowo wurden dort 297 Menschen Opfer der Repressionen.A. Schdanow hatte de facto lange Zeit die Funktion des zweiten Sekretärs des ZK der WKP(B) inne. Insofern trägt auch er direkte Verantwortung für die Repressionen. Im September 1936 forderte er zusammen mit Stalin in einem an das Politbüro gerichteten Telegramm die Verschärfung der Repressionen. Auf ihren Vorschlag übernahm Jeschow die Leitung des NKWD. Unter der Leitung Schdanows wurden 1935-1940 in Leningrad 68 088 Menschen Opfer der Repressionen.Um die Repressionen auch auf Baschkirien und Tatarien sowie Orenburg auszudehnen, bereiste Schdanow die dortigen Parteiorganisationen. Im Bezirk Orenburg wurden zwischen April und September 1937 3 655 Menschen Opfer der Repressionen; die Hälfte von ihnen wurde zur Höchststrafe verurteilt. Und dennoch hielt Schdanow bei seiner Ankunft in Orenburg Anfang September 1937 das Ausmaß der Verfolgungen für nicht ausreichend. Nach seinem Besuch wurden noch einmal 598 Menschen Repressionen ausgesetzt. Nach den von Schdanow in der tatarischen Parteiorganisation durchgeführten \"Säuberungen\" wurden 232 Personen verhaftet; fast alle wurden erschossen. In Baschkirien wurden 342 Menschen Opfer der Repressionen.Eine aktive Rolle spielte Schdanow bei der Abrechnung mit der ZK-Führung des Komsomol 1938. Bei seinem Auftritt im Namen des Politbüros bezeichnete er die ZKSekretäre des Komsomol als \"Verräter am Vaterland, Terroristen, Spione, Faschisten, politisch durch und durch verfaulte Volksfeinde, die die Sache des Feindes in den Komsomol getragen haben, als konterrevolutionäre Bande\". Auch die Sprache jener Jahre ist kennzeichnend. Zudem war Schdanow der Initiator der Verfolgungen vieler Künstler und Wissenschaftler. 236 JHK 1993Biographische Skizzen/ZeitzeugenberichteAktiv an der Organisation der Repressionen beteiligte sich K.E. Woroschilow. Mit seiner Genehmigung wurde die Liquidierung höchster militärischer Führer und Politoffiziere der Roten Armee organisiert. In den dreißiger Jahren wurden drei der fünf Marschälle, 15 der 16 Armeekommandeure, 60 der 67 Korpskommandeure, 136 der 199 Divisionskommandeure, alle vier Geschwaderkommodores der Flotte sowie alle sechs Geschwaderkommodores ersten Ranges und neun der 15 Geschwaderkommodores zweiten Ranges liquidiert. Erschossen wurden 17 Armeekommissare ersten und zweiten Ranges sowie 25 der 29 Korpskommissare. Faktisch war damit vor dem Zweiten Weltkrieg die gesamte Führung der Streitkräfte liquidiert worden.In der Amtszeit Woroschilows als Volkskommissar für Verteidigung wurden zwischen 1936 und 1940 mehr als 36 000 Angehörige der Roten Armee Opfer der Repressionen. Im KGB-Archiv sind mehr als 300 Schriftstücke Woroschilows aufgetaucht, die die Festnahme bekannter hoher Militärs genehmigten.Als erster Sekretär des Moskauer Stadt- und Gebietskomitees der WKP(B) in den Jahren 1936/37 sowie seit 1938 als erster Sekretär der KP(B) der Ukraine gab N.S. Chruschtschow persönlich sein Einverständnis zur Verhaftung unzähliger Menschen. Im KGB-Archiv finden sich Dokumente, die Chruschtschows Beteiligung an der Durchführung der Verfolgungen in der Stadt und im Bezirk Moskau sowie in der Ukraine in den Jahren vor dem Krieg belegen. Er selbst machte Vorschläge, wer von den leitenden Funktionären des Moskauer Stadtsowjets und des Moskauer Bezirkskomitees der Partei zu verhaften sei. Insgesamt wurden in den Jahren 1936/37 in Moskau 55 741 Menschen Opfer der Repressionen. In der Ukraine, in der Chruschtschow seit Januar 1938 tätig war, wurden zwischen 1938 und 1940 insgesamt 167 565 Personen verhaftet.Unmittelbar beteiligt an den Verfolgungen war A.I. Mikojan. Mit seiner Erlaubnis wurden Hunderte Mitarbeiter der Volkskommissariate für Lebensmittelindustrie und für Außenhandel verhaftet.Er genehmigte nicht nur Verhaftungen, sondern er selbst trat als ihr Initiator auf. So schlug er in einem Schreiben vom 15. Juli 1937 Jeschow vor, die Verfolgungen auf die Mitarbeiter des wissenschaftlichen Allunions-Forschungsinstituts für Fischwirtschaft und Ozeanographie des Volkskommissariats für Lebensmittelindustrie der UdSSR auszudehnen. Im Herbst 1937 reiste Mikojan nach Armenien, um die dortigen Partei- und Staatsorgane von \"Volksfeinden zu säubern\". Tausende Tote waren das Resultat.Zusammen mit Jeschow war Mikojan in der Sache Bucharin Berichterstatter auf dem Februar-/März-Plenum des ZK der WKP(B). Er war es, der im Namen des Politbüros den Festvortrag anläßlich des zwanzigjährigen Bestehens von Tscheka-GPU-NKWD hielt, den er nach einer Lobpreisung Jeschows und Rechtfertigung der Massenverfolgungen - das Jahr 1937 im Blick - mit den Worten schloß: \"Großartig hat das NKWD in dieser Zeit gearbeitet.\"Auf dem Posten des Abteilungsleiters \"Führende Kader\" im ZK der WKP(B) hatte G.M. Malenkow direkten Bezug zu den meisten Aktionen des NKWD gegen führende Funktionäre in der Hauptstadt und in der Provinz. Mehr als einmal bereiste er die örtlichen Parteiorganisationen, um Verfolgungsmaßnahmen vor Ort umzusetzen.So fuhr er zusammen mit Jeschow 1937 nach Weißrußland, wo die Kader in einer regelrechten Schlacht niedergemacht wurden. Auch in den Bezirken von Tula, Jaroslawl, Saratow, Omsk und Tambow sowie in Tatarien organisierte Malenkow zusammen mit A. N. Jakowlew: Blutige VergangenheitJHK 1993 237Mitarbeitern des NKWD die Verfolgungen. In vielen Fällen nahm er persönlich an Verhören und Mißhandlungen teil.Zusammen mit Berija konstruierte er den Fall einer konterrevolutionären Organisation in Armenien; auch bei der Konstruktion des \"Leningrader Falles\" spielte er eine üble Rolle.Als Politbüromitglied und ZK-Sekretär der WKP(B) war A.A. Andrejew in vielen Fällen persönlich an der Organisation der Verfolgungen in den Parteigliederungen der mittelasiatischen Republiken, besonders in Usbekistan und Tadschikistan, sowie im Wolgagebiet und Nordkaukasus beteiligt. Nach seinen Reisen wurde von Stalin, Molotow und anderen die Verhängung der Höchststrafe gegen 430 Funktionäre im Bezirk von Saratow, gegen 440 Partei- und Staatsfunktionäre in Usbekistan sowie gegen 344 in Tadschikistan genehmigt.Der Initiator der Abrechnung mit dem \"Jüdischen Antifaschistischen Komitee\" war M.A. Suslow. Am 26. November 1946 schickte er Stalin eine Notiz mit verleumderischen Beschuldigungen gegen das Komitee. Sie wurde zur Grundlage für die Untersuchungen in Sachen des \"Jüdischen Antifaschistischen Komitees\" durch die Organe des Ministeriums für Staatssicherheit, in deren Folge 140 Menschen verurteilt wurden - 23 zur Höchststrafe, 20 zu 25 Jahren Haft.Als Sekretär des Bezirkskomitees in Rostow war Suslow an den dortigen Massenverfolgungen beteiligt. Als er erster Parteisekretär des Kreiskomitees in Ordschonikidse wurde, sprach er sich nicht nur strikt gegen die Freilassung einer Reihe unschuldig Verurteilter aus, sondern bestand auf neuen Verhaftungen. Die Kommission des NKWD der UdSSR berichtete im Juli 1939 an Berija, Suslow sei mit der Arbeit der NKWD-Führung in seinem Kreis nicht zufrieden, da sie Herzensgüte und Sorglosigkeit an den Tag lege. Suslow nannte direkt die Personen, deren Verhaftung unumgänglich sei. Daraufhin verstärkte sich 1939/40 der Druck der Repressionen in seinem Kreis merklich.Als Vorsteher des Büros für Litauen im ZK der WKP(B) trägt Suslow direkte Verantwortung für die Deportationen aus dem Baltikum. Er organisierte zudem die Verfolgung vieler bekannter Vertreter der sowjetischen Intelligenz aus Kunst und Wissenschaft.Gesondert muß über M.I. Kalinin gesprochen werden, der als Vorsitzender des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR (ZEK) den von Stalin und Jenukidse vorbereiteten Beschluß vom 1. Dezember 1934 \"Über die Änderungen der geltenden Strafprozeßordnungen der Unionsrepubliken\" unterzeichnete. Dieser Beschluß machte den Weg frei für Verfolgung und Repression, indem er die Untersuchung von Strafsachen ohne Beteiligung der Betroffenen möglich machte, das Begnadigungsrecht abschaffte und die sofortige Vollstreckung der Todesstrafe erlaubte. In den Jahren 1931 bis 1946, in denen Kalinin an der Spitze einer Kommission beim ZEK stand, die Gerichtsverfahren prüfte und entschied, übte er Nachsicht mit Gesetzlosigkeit und Massenterror, indem er Gnadengesuchen keinerlei Beachtung schenkte.Wo begann Blut zu fließen?Obwohl sich die Kommission in ihrer Arbeit auf die dreißiger bis fünfziger Jahre konzentrierte, war es unmöglich, Tatsachen früherer Jahre zu ignorieren. Schritt für Schritt verlor die stereotype Erklärung, wonach Repressionen und Gesetzlosigkeit mit Stalin 238 JHK 1993Biographische Skizzen/Zeitzeugenberichteeinsetzten, ihre Grundlage. Nach dem Bürgerkrieg wurde bekanntlich der Übergang zum Bürgerfrieden, dem Zustand gegenseitigen Einvernehmens, ausgerufen. Doch das war Heuchelei. Der staatliche Terror gegen offene oder potentielle - vom Standpunkt der bolschewistischen Führung aus - Gegner des damaligen Regimes hörte nicht auf. Die Intoleranz der Bolschewisten gegenüber ihren ideologischen, politischen Gegnern wuchs noch weiter.Opfer der gesetzwidrigen Verfolgungen und Repressionen wurden die Angehörigen der sogenannten nicht-werktätigen Bevölkerungsschichten, die es nicht geschafft oder nicht gewollt hatten, die Heimat während des Bürgerkriegs und nach seinem Ende zu verlassen. Geplant und umgesetzt wurde die Liquidierung des Adels, des Offizierskorps, der Kaufmannschaft und der Grundbesitzer. Prominente Führer aller Parteien mit Ausnahme nahme der Bolschewiki waren Verfolgungen ausgesetzt.Der Appell zum Bürgerfrieden fiel mit der blutigen Niederschlagung des Aufstands der Matrosen in Kronstadt zusammen, die nur die angemessene Repräsentation aller sozialistischen zialistischen Parteien in den Sowjets verlangt und gegen das Machtmonopol der Kommunistischen munistischen Partei protestiert hatten. Von den 10 000 Matrosen, die nach der Niederschlagung des Aufstands in der Festung geblieben waren, wurden 6 500 zu Gefängnisstrafen verurteilt und mehr als 2 000 erschossen. Es hätte mehr Opfer geben können: Im Vorgefühl der folgenden grausamen Abrechnung waren etwa 10 000 Aufständische nach Finnland geflüchtet.Gleichfalls Opfer harter Repressionen wurden die Teilnehmer zahlreicher Bauernerhebungen u.a. im Gouvernement Tambow, am Don und in West-Sibirien. Im Sommer 1922 wurde den Führern der Partei der Rechten Sozialrevolutionäre in Moskau öffentlich der Prozeß gemacht. Das Tribunal hielt eine eigens vom ZK der RKP(B) dazu gebildete bildete Sonderkommission.In Petrograd wurden im sog. Fall Taganzew 120 ehemalige Offiziere der Zarenarmee, unter ihnen Nikolai Gumilew [berühmter russischer Dichter, d. Übers.], erschossen. Auch Kirchenvertreter und Geistliche wurden verfolgt. Im Herbst 1922 wurde eine große Gruppe von Wissenschaftlern (Historiker, Philosophen, Ökonomen), die sich als Forscher scher in ganz Europa einen Namen gemacht hatten, des Landes verwiesen.Diese Fakten widerlegen die Ansicht, daß die Verfolgungen und Repressionen durch Tscheka und später GPU etwa 1922 aufhörten. Sie gingen weiter und richteten sich gegen gen Gegner Stalins in der Partei selbst. Parteimitglieder wurden inhaftiert oder in die Verbannung geschickt, weil sie sich eine eigene Meinung erlaubten, die sich von der der Führung unterschied.In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wurde ein Schlag gegen die alte Intelligenz der Ingenieure und Techniker geführt. In dem bekannten \"Schachty-Prozeß\" wurde eine große Gruppe von Ingenieuren und Technikern verurteilt. Auf den wenig später inszenierten Prozeß gegen die \"Industriepartei\" folgten Tribunale gegen \"Schädlinge\" in allen Branchen der Volkswirtschaft, angefangen bei der Schwer- und Rüstungsindustrie bis hin zur Leichtindustrie, darunter auch die Bereiche der Tabak- und Parfümproduktion.Es wurde ermittelt in Sachen des \"Unionsbüros des ZK der SDAPR (Menschewiki)\" und der \"Partei der werktätigen Bauern\". Im Zusammenhang mit dem sogenannenten \"Akademischen Fall\" kam es in jenen Jahren zu Verfolgungen einer großen Gruppe von Wissenschaftlern, die laut Untersuchungsakten den \"Allunionskampfbund für die Wiederentstehung derentstehung eines freien Rußlands\" gebildet haben sollten. Begleitet wurden die noch A. N. Jakowlew: Blutige VergangenheitJHK 1993 239Ende 1929 eingeleiteten Ermittlungen mit einer lautstarken Kampagne gegen die Akademie der Wissenschaften sowie gegen eine große Gruppe von Wissenschaftlern aus Moskau, Leningrad und anderen Städten. 115 Personen, darunter große Gelehrte wie S.F. Platonow, E.W. Tarle, H.P. Lichatschow, A.E. Presnjakow, S.W. Roschdestwenski, M.K. Ljubarski, J.W. Gotje u.a., wurden verhaftet. Zusammen mit ihnen gerieten einige bekannte sowjetische Künstler in Haft. Ihnen wurden - dies entwickelte sich damals zur Standardanklage - verdächtige Verbindungen zu Emigranten, ausländischen Staatsmännern und Personen des öffentlichen Lebens zur Last gelegt. Viele von ihnen fanden ein tragisches Ende in den Lagern oder in der Verbannung.Es ist also offensichtlich, daß es bereits zu Beginn der zwanziger Jahre wiederholt zu Verfolgungen - sei es durch Gerichtsprozesse, sei es durch außergerichtliche Maßnahmen - gekommen ist.Mit Blick auf die unmenschliche Grausamkeit, mit der mit den Aufständischen von Kronstadt kurzer Prozeß gemacht wurde, auf die Deportation der friedlichen Bevölkerung der Stadt wegen des Verdachts, sie habe mit den aufständischen Matrosen in Verbindung gestanden, auf die Erschießungen nach Denunziationen durch Informanten der Tscheka kann man mit Bestimmtheit sagen, daß dies das Vorspiel des \"entwickelten Stalinismus\" gewesen ist.Woher rührt diese Grausamkeit im Umgang mit allen Andersdenkenden, die Zweifel an der Richtigkeit der Monopolisierung der Staatsmacht in den Händen einer Partei anmeldeten? Woher rührt diese Tendenz, mit ihnen gleich massenweise kurzen Prozeß zumachen? Begründet wurde dies von der bolschewistischen Partei in der Praxis mit einer Dok-trin des Marxismus, dem Klassenkampf. Beim Aufbau der neuen Gesellschaft ging der Marxismus nur von den Interessen einer sozialen Gruppe aus, dem Proletariat. Wenn die alte Welt zusammenbricht und an ihrer Stelle im Eiltempo eine neue geschaffen wird, in der kein Platz mehr ist weder für die Bauernschaft noch den Adel, weder für Kaufleute noch für Unternehmer, weder für Geistliche noch für die bürgerliche Intelligenz, dann braucht man kein Mitleid mit diesen zum Untergang verurteilten sozialen Gruppen zu haben, dann braucht man vor Opfern in ihren Reihen nicht zurückschrecken.Im Klassenkampf sind Grausamkeit und Intoleranz unvermeidliche Erscheinungen getreu der Formel: \"Wer nicht mit uns ist, der ist unser Feind und muß fallen.\"Während der Verhöre der \"Volksfeinde\" machten sich die Henker gerne die bekannten Worten eines proletarischen Dichters zu eigen: \"Wenn sich der Feind nicht ergibt, muß man ihn vernichten.\"Es bleiben die Fragen: Wieviele Menschen sind auch nach Abschluß der Arbeit unserer Kommission noch nicht rehabilitiert worden? Wie kann man die Gesamtzahl aller Opfer von Verfolgung und Repression bestimmen? Wir müssen offen gestehen, daß wir über keine genauen Zahlen verfügen, die sich auf zuverlässige Quellen stützen und über das Ausmaß der Tragödie, die die gesamte Gesellschaft, die gesamte Nation betraf, exakt Aufschluß geben könnten.Es werden verschiedene Zahlen genannt; die Unterschiede zwischen ihnen sind enorm. Publiziert wurden Zahlen, die sich auf Dokumente aus dem Zentralarchiv der Oktoberrevolution stützen. Danach belaufen sich die Opfer politischer Verfolgung in den dreißiger bis fünfziger Jahren auf etwa drei bis vier Millionen Menschen, von denen 765 000 erschossen worden sein sollen. Dies ist die offizielle Zahl des KGB. Sie wurde 240 JHK 1993Biographische Skizzen/ZeitzeugenberichteChruschtschow 1954 vom Innenminister, S. Kruglow, mitgeteilt (der sich übrigens selbst aktiv an den Verfolgungen beteiligt und die Deportationen der nordkaukasischen Völker organisiert hatte, wobei er mit besonderer Grausamkeit vorgegangen war).Eine erste seriöse Überprüfung durch Spezialisten ergab, daß diese Zahlen viel zu niedrig waren. Sie enthielten nicht die Zahlen der Häftlinge in den seinerzeit überfüllten Gefängnissen des NKWD. Gleichermaßen war eine Analyse der Sterblichkeit in den Lagern für politische Gefangene ausgeblieben.Leider stützen sich alle veröffentlichten Zahlen auf lückenhaftes statistisches Material oder auf Überschlagsberechnungen von Historikern. Nötig sind seriöse Untersuchungen, die alle Quellen aller Behörden einbeziehen.Ein aufmerksames Studium der Anklagen, der Arbeitsmethoden der Strafverfolgungsbehörden und der Gerichtsverfahren vermittelt einen Eindruck des Mechanismus, der hinter den Massenverfolgungen steckte; dies gilt insbesondere für die Verfolgungen ohne Gerichtsverfahren durch die Handlanger der jahrelang herrschenden Willkür und Gesetzlosigkeit.Die Kommission schlug daher vor, alle außergerichtlich - etwa vom NKWD und seiner Führung, von den Kollegien der OGPU und auf \"Sondersitzungen\" von NKWD, Ministerium für Staatssicherheit und Innenministerium - getroffenen Entscheidungen der dreißiger, vierziger und beginnenden fünfziger Jahre aufzuheben. Das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR hat durch seinen Erlaß vom 16. Januar 1989 diesen Vorschlag angenommen.Ein zweifelsohne bedeutendes Ereignis stellte der Erlaß des Präsidenten der UdSSR vom 13. August 1990 \"Über die Wiederherstellung der Rechte aller Opfer der politischen Verfolgungen in den zwanziger bis fünfziger Jahren\" dar. In ihm wurde anerkannt, daß die Repressionen gegen die Bauern während der Kollektivierung sowie die politisch, sozial, national, religiös oder anders motivierte Verfolgung anderer Bürger in den zwanziger bis fünfziger Jahren ungesetzlich waren und Bürger- sowie sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechten widersprochen hatten. Die Rechte dieser Menschen wurden durch den Erlaß wiederhergestellt.Mit Recht kann man sagen, daß mit diesem Erlaß sowie mit dem später vom Kongreß der Volksdeputierten der RSFSR angenommenen Beschluß \"Über die Opfer politischer Verfolgung in der RSFSR\" eine Bilanz der diesbezüglich geleisteten Arbeit gezogen wurde.Es wurde also die Rehabilitierungsarbeit nicht nur der letzten Jahre, sondern auch der ganzen vorangegangenen Zeit bilanziert. Dennoch sind die damit offenstehenden Möglichkeiten noch nicht Wirklichkeit geworden. Bedauerlicherweise kommt man nicht umhin festzustellen, daß der Rehabilitierungsprozeß 1991 ins Stocken geraten ist.Einige ethische Aspekte des RehabilitierungsprozessesDer Rehabilitierungsprozeß ist kompliziert und voller Widersprüche. Man wird hier nicht nur mit politischen und rechtlichen, sondern auch mit moralischen Aspekten konfrontiert.In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre wurde bekanntlich eine Vielzahl von Mitarbeitern des NKWD - mehr als 40 000 Menschen - Opfer von Verfolgung und Repres- A. N. Jakowlew: Blutige VergangenheitJHK 1993 241sion. Folglich litten also auch Angehörige des Herrschaftsapparates unter der Tyrannei Stalins. Wer aber ist in diesem Fall das Opfer?Ziemlich oft wurde Mitarbeitern des NKWD, die zum Opfer geworden waren, die Rehabilitierung verweigert, weil sie auch Täter gewesen waren und dafür Verantwortung zu tragen haben. Kann man in solchen Fällen dem Henker, der zum Opfer geworden ist, vergeben?Nach der Verhaftung Jagodas säuberte der neue Volkskommissar Jeschow den gesamten Apparat des Volkskommissariats des Innern. Nach dem Sturz Jeschows erfolgte unter Berija eine noch umfassendere Säuberung des NKWD-Apparates - sowohl in der Zentrale als auch in den Außenstellen.In der Amtszeit Jeschows wurden solch verhaßte Persönlichkeiten wie Agranow, Prokofjew, Moltschanow, Gaj, Slutzki und Uschakow hingerichtet. Nach der Amtsenthebung Jeschows rollten die Köpfe solcher Henker wie Frinowski.Die Mitarbeiter des NKWD, die in die Fänge ihres eigenen Apparates gerieten, wurden nicht wegen der von ihnen begangenen Verbrechen bestraft, sondern ihnen wurden die damals üblichen Delikte zur Last gelegt: Verrat am Vaterland, Spionage, Sabotage, Gründung antisowjetischer Organisationen, Vorbereitungen zur Ermordung Stalins.Natürlich waren sie im Sinne dieser Anklagen unschuldig. Doch die Maschinerie des Terrorregimes war intakt: Sie gestanden alle vom Untersuchungsrichter \"erdichteten\" Verbrechen.Ihnen die Rehabilitierung zu verweigern, kommt einer Bestätigung der phantastischen Anschuldigungen gleich, wegen derer sie erschossen worden sind. Die falschen Anklagen wurden von ebensolchen \"Drehbuchautoren\" ausgeheckt, die sie selbst bis zu ihrer Verhaftung gewesen waren. Also was tun? Rehabilitieren und verurteilen?Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang das Schicksal Jeschows. Nach den blutigen Verfolgungen der Jahre 1937/38, die Jeschow organisiert hatte, wurde er selbst verhaftet. Dem Gerichtsprozeß ging ein langes Untersuchungsverfahren voraus, in dessen Verlauf Jeschow die körperliche und seelische \"Behandlung\" erfuhr, die er früher selbst gegenüber Angeklagten angeordnet hatte. Jeschow bekannte sich in allen ihm zur Last gelegten Punkten schuldig.Während des Prozesses distanzierte er sich jedoch von diesen Aussagen und erklärte, während der Untersuchungshaft gefoltert und mißhandelt worden zu sein. Er sagte, daß er jetzt nach der Untersuchungshaft, nach dem Weg, auf den er Tausende unschuldiger Menschen geschickt habe, verstehe, daß er Verbrechen begangen habe, aber nicht die, derer er angeklagt sei.Jeschow bat nicht, ihm sein Leben zu schenken. Denn er wußte, daß das Urteil bereits gefällt war. Er sagte aber dem Gericht - und dies wurde ins Verhandlungsprotokoll aufgenommen -, daß ihn am Vorabend Berija besucht habe, um ihm einzureden, sich schuldig zu bekennen, wofür er versprochen habe, ihm das Leben zu schenken. Jeschow antwortete, er selbst habe viele Male auf die gleiche Art und Weise auf Gefangene eingeredet, doch keiner von ihnen sei am Leben geblieben. Daher, erklärte Jeschow, sei er auf den Vorschlag Berijas nicht eingegangen.Jagoda wurde damals als Teilnehmer an einer rechts-trotzkistischen Verschwörung verurteilt und erschossen. An einer solchen Verschwörung hatte er nicht teilgenommen, weil es sie nie gegeben hat. Das bedeutete, daß auch er wie alle anderen zu rehabilitieren sei. 242 JHK 1993Biographische Skizzen/ZeitzeugenberichteDoch die Kommission betrachtete den Fall unter moralischen Aspekten. Sie entschied, daß es unmöglich sei, Jagoda zu rehabilitieren. Die Gerichte aber ließen die Anklage, aufgrund derer Jagoda zum Richtplatz geführt wurde, unverändert. Vom juristischen Standpunkt aus ist das völliger Unsinn. Der Prozeß war für getürkt erklärt worden, alle Verurteilten waren von den ihnen zur Last gelegten Anklagepunkten freigesprochen worden; nur für einen von ihnen sollte das nicht gelten.Wahr ist, daß man Jagoda nicht frei von Schuld sprechen kann; unwahr aber ist, daß er dessen schuldig ist, wessen er sich bekannte und weswegen man ihn hinrichtete.Es gibt noch eine Gruppe von Personen, die nicht rehabilitiert worden sind. Sie sind mitschuldig an den Verfolgungen und Repressionen, obwohl sie die Inhaftierten nicht persönlich gefoltert haben. Als Schreibtischtäter nutzten sie ihre Macht und ließen Menschen hinrichten, \"Hexenjagden\" veranstalten, um sich bei Stalin lieb Kind zu machen. Oft nur, um ihr eigenes Leben zu retten, lösten sie immer wieder neue Repressionen aus.Doch Stalin bestrafte gelegentlich auch sie wegen der Anordnung oder Durchführung ungesetzlicher Repressionen, die als schädigend und als das Werk von Saboteuren angesehen wurden. So war Stalin. Unter ihnen waren nicht nur Mitarbeiter des NKWD, sondern auch führende Parteifunktionäre (z.B. Postyschew). Heute sieht man diese Menschen als Opfer an. Waren sie das? Ist das gerecht?Wenn den Henkern Stalins vergeben und ihr Tun vergessen wird, dann läßt man den Opfern Ungerechtigkeit widerfahren und ermuntert neue Henker. In jedem Fall muß man aber dieses Feld gesondert untersuchen. Nicht alle Mitarbeiter des NKWD, die in den dreißiger Jahren verurteilt wurden, hatten im selben Maße oder überhaupt Schuld auf sich geladen.Heute öffnen sich die Archive des KGB. Forscher können Dokumente einsehen, die den Ablauf der Untersuchungs- und Gerichtsverfahren aufdecken. Der Umgang mit diesen Quellen erfordert große Aufmerksamkeit, ein hohes Maß an Professionalität und Menschlichkeit, um sich durch die Haarspaltereien der von den Henkern und Verfolgern hinterlassenen Dokumente durchzufinden, ohne den Opfern Schaden zuzufügen.Die Logik des Kampfes gegen Andersdenkende ist verwerflichDie Schwere der Verbrechen des Stalinschen Regimes machen nicht nur die Millionen völlig unschuldiger Opfer, die Tragödien ihrer Familien, die unheilvolle Angst, in der das Land lebte, sondern auch das durch Haß, Hatz gegen \"Feinde\" und Mißtrauen deformierte gesellschaftliche Bewußtsein aus, das heutzutage den Reformen im Wege steht.Nehmen wir nur einmal das Problem der Dissidenten, das auch heute nicht bis zum Ende durchdacht wird, das aber zweifellos ein Kind des bolschewistischen Systems war, eine Fortsetzung der Verfolgungen, Repressionen, von Gesetz- und Rechtlosigkeit.Schon bald nach dem Tauwetter im politisch-ideologischen Bereich schreckte Chruschtschow vor den in Gang gesetzten Prozessen zurück. In seiner Umgebung machte sich schlicht Panik breit. Nachdem sie sich von dem Schock erholt hatte, begann sie, das Rad wieder zurückzudrehen.Scharf kritisierten die Bewahrer der \"heiligen Flamme des Bolschewismus\" A. Adschubej, den Schwiegersohn Chruschtschows, der sich Künstlern gegenüber überaus of- A. N. Jakowlew: Blutige VergangenheitJHK 1993 243fen gezeigt hatte. Namentlich ihm ist es zu verdanken, daß einige Werke A. Solschenizyns veröffentlicht wurden.Auch Chruschtschow selbst konnte sich nicht von den Fesseln der Vergangenheit befreien, hatte er doch seinen Teil zur Geschichte beigetragen und sich dafür entschieden, die Stalinschen Verbrechen zu enthüllen und einen der Haupttäter, Berija, von der politischen Bühne zu entfernen.Bereits in seiner Amtszeit begannen neue Verfolgungen; sie richteten sich gegen Künstler. Zwar wurde niemand erschossen, doch die \"moralischen Erschiessungen\" gingen weiter. Weder die Führung des Landes noch die Gesellschaft waren reif für eine Wende hin zur Demokratie. Das Meinungsbild in der Gesellschaft war nach wie vor sehr beschränkt, es herrschten weiter phantastisch-aggressive Auffassungen vor. Insofern war kein Bruch zur Epoche Stalins erkennbar.Erneut wurden politisch motivierte Gerichtsverfahren angestrengt, wurde die Psychiatrie zur \"Ruhigstellung\" politisch Mißliebiger benutzt, wurden Menschen außer Landes verwiesen, von ihrem Arbeitsplatz entlassen, durch Hetzkampagnen in den Medien und durch Anklagen in der Presse, von Kollektiven als Leserbriefe verfaßt, verunglimpft. Erneut begannen die Staatssicherheitsorgane, die Tätigkeit der Intelligenz zu überwachen, die man nach Kategorien wie \"Reisekader\" - \"kein Reisekader\", \"darf veröffentlichen\" \"darf nicht veröffentlichen\", \"erhält Auszeichnung\" - \"erhält keine Auszeichnung\" sortierte.In diesem Zusammenhang ist es meiner Ansicht nach interessant, das Dissidententum als Erscheinung des Übergangs vom physischen zum moralischen Terror zu untersuchen. Dies ist besonders wichtig, wenn man berücksichtigt, daß die Dissidentenschicksale voller Leid gewesen sind, über das Dissidententum aber auch sehr viel spekuliert wurde und wird.Es handelt sich auch heute noch um ein Problem, das an die Nerven geht. Es ist nicht einfach, darüber zu schreiben. Schwer ist es nicht deswegen, weil schon vieles gesagt worden ist, vieles, was Zorn, Bußfertigkeit, Unnachgiebigkeit, Anklagen und Mitleid zum Ausdruck brachte. Nein, es ist schwer, weil sich der Protest unseres Gewissens bei der reinigenden Aufarbeitung der Geschichte auf das Schicksal derjenigen Einzelpersonen beschränkt, für die das Gute nicht nur ein moralisches Bekenntnis, sondern der Lebensinhalt war.Ich bin davon überzeugt, daß sich die Gesellschaft einer Bewertung ihrer eigenen Rolle nicht entziehen kann, daß sie Buße tun muß. Natürlich ist es einfacher, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, wenn sie Grund zum Lachen bietet. Wir aber müssen weinen.Lassen wir Gerechtigkeit walten: Nicht jeder von uns ist in der Lage, eine freie Wahl zu treffen, nicht jeder ist bereit, sich abzuplacken. Wohl nichts macht mehr Mühe als die Qualen der Einsicht.Die Andersdenkenden bedachte man mit dem Fremdwort \"Dissidenten\". Offensichtlich klingt das bedrohlicher. Im Bewußtsein der Massen wurden und werden sie mit einzelnen Persönlichkeiten und deren Schicksal identifiziert. Je nach dem, was man von Sacharow oder Solschenizyn, von Rostropowitsch oder Neiswestny, Brodski oder Schemjakin, Wojnowitsch oder Maximow, Tschalidse oder Sinowjew hält, werden die Dissidenten beurteilt. Dabei ist das Dissidententum ein gesellschaftliches Phänomen. 244 JHK 1993Biographische Skizzen/ZeitzeugenberichteDie Ideologie der Intoleranz wurde über Jahrzehnte hinweg kultiviert. Sie ermöglichte die Erschiessungen, förderte Denunziation und Verrat. Dies sitzt noch tief in uns.Seit 1985 wird der Umbau des Landes und der Gesellschaft betrieben. Doch bis heute hört man auf Kundgebungen, die Reformer verkauften sich an den Westen. Nicht nur einmal wurde ich auf Veranstaltungen gefragt, wieviel Bush, Kohl und Mitterand Gorbatschow, Schewardnadse und mir für die Reformen im Land bezahlt hätten.Die auf ihre Weise mit Bedacht, aber auch mit Heimtücke gewählte Bezeichnung \"Dissident\" erweckt den Eindruck, man habe es mit etwas feindlichem, mit Imperialismus und Zionismus, mit NATO und CIA, mit etwas, das für die internationale Staatenwelt schlecht ist, zu tun. Die von Stalin zur Ideologie und zum Inhalt der politischen Praxis erhobene Intoleranz erfreut sich auch unserer Tage bester Gesundheit.Bis vor kurzem wurden bei öffentlichen Veranstaltungen oft Fragen laut wie \"Warum sitzt Sacharow noch immer nicht im Gefängnis?\" oder \"Warum lebt er im Wohlstand?\"Heute werden nach diesem großen Mann Straßen, Plätze, soziale Vereinigungen und Bewegungen benannt. .. Das, was gestern noch als Verbrechen bezeichnet worden ist, gilt heute als Zeichen von Zivilcourage.Ja, man ging niederträchtig mit all denen um, die wegen ihrer Gesinnung aus der Gesellschaft ausgegrenzt worden waren. Für sie gab es psychiatrische Kliniken und Gefängnisse, sie wurden ausgebürgert, sie verloren ihre Arbeitsplätze, ihnen entzog man die Existenzgrundlage. Dies alles läßt sich moralisch nicht rechtfertigen.Doch das Phänomen des Dissidententums bedarf einer besonders sorgfältigen und aufrichtigen Analyse. Auch hier gibt es Pole und Extreme, Einsichten und Irrtümer, Wahrheit und Lüge. Doch insgesamt ist das Dissidententum als offensichtliche Quelle geistiger Beweglichkeit unser Reichtum. Dies heißt übrigens nicht, daß man jeder Idee aus dieser Richtung zustimmen und jedes Vorhaben aus dieser Ecke vorbehaltlos anhimmeln muß.Was weiß der Sowjetbürger von den Dissidenten? Wenig und nichts genaues. Er kennt einzelne Namen, die dahinter stehenden Schicksale. Das ist aber nicht alles, zumal auch sehr viel Legenden sowie Gerüchte verbreitet werden und vieles der alten Verleumdungen weiterlebt. Das wichtigste kennt er nicht: den Kern ihrer Ansichten, ihrer Arbeit und Konzepte, ihrer sozialen, politischen und kulturellen Positionen.In der Dissidentenbewegung gibt es noch viel zu entdecken. Und wenn wir heute, morgen und übermorgen Artikel, Essays und Bücher der Dissidenten lesen, wird sich uns wieder und wieder die Frage stellen: \"Mein Gott, warum wurden diese Menschen verfolgt? Was hat man an ihren Schlußfolgerungen und Vorschlägen für staatsfeindlich gehalten?\"Aber gerade die Tatsache, daß die Schlußfolgerungen begründet, die Vorschläge vernünftig waren, wurde als antisowjetisch ausgegeben. Aber sobald wir heute der Richtigkeit ihrer Analysen, Schlußfolgerungen und Einstellungen zustimmen, müssen wir uns auch mit etwas anderem einverstanden zeigen: Diejenigen, die sich dies unter Mühen gedanklich erarbeiteten, mit Risiko für sich und ihre Familie zum Ausdruck brachten, waren möglicherweise auch Sonderlinge, aber mit Sicherheit wahre Patrioten.Im Bewußtsein der Massen werden die Dissidenten oft mit den Emigranten gleichgesetzt. Dies ist ein qualitativer Irrtum. Denn nicht jeder Emigrant war Dissident, und nicht jeder Dissident ging in die Emigration. Tatsächlich emigrierte nur ein Teil der Dissidenten. Der Großteil der Andersdenkenden blieb im Land - nicht unbedingt in Gefängnis- A. N. Jakowlew: Blutige VergangenheitJHK 1993 245sen, Lagern und psychiatrischen Kliniken. Statistiken hierüber kann es nicht geben, aber sehr viele lebten in Freiheit, obgleich es nur eine Freiheit in formellem Sinn gewesen ist. Denn faktisch wurde ihnen der Zugang zu Informationen, zu ihrem Publikum verwehrt, wurde ihnen die Möglichkeit genommen, sich intellektuell zu betätigen, wurden ihnen Kontakte zu Ausländern und Auslandsreisen verboten.Warum wurden sie gerade Dissidenten genannt? Warum bezeichnete man sie im allgemeinen seltener, insbesondere wenn es zu keinem \"Strafverfahren\" kam, als \"antisowjetische Elemente\"? Warum war die Versuchung so groß, sie als Geisteskranke abzustempeln?Wohl deshalb, weil sich anders die Legende von den bösen Absichten der Dissidenten nicht länger hätte aufrechterhalten lassen können. Denn ihre ursprünglichen Gedanken und Absichten - zumindest mir stellt es sich so dar - beschränkten sich einfach darauf, diese oder jene Probleme des Daseins, die Widersprüche des wirklichen und nicht des durch die Bürokratie schön gefärbten Lebens zu analysieren, um schließlich zu irgendwelchen praktischen Vorschlägen und Lösungen zu gelangen.Damit stellen sich natürlich andere Fragen: War die Analyse in jedem konkreten Fall richtig? Waren die Schlußfolgerungen begründet? Waren die Bewertungen und Vorschläge realistisch?Letztendlich kann und muß in einer freien und demokratischen Gesellschaft dies alles Gegenstand wissenschaftlicher und öffentlicher Diskussionen sowie politischer Auseinandersetzungen sein. Doch gerade hier liegt der Hund begraben: Die russische Gesellschaft war und ist weder demokratisch noch frei.Was ist also das Dissidententum und wann ist es entstanden? Im weitesten Sinne ist es dann entstanden, als Staat und Ideologie von den Bürgern des Landes uniformes Denken verlangten. Natürlich läßt sich zu Recht einwenden, daß Rußland im Rückblick in die Geschichte kein Einzelfall ist. Alle europäischen Staaten haben in ihrer Entwicklung Phasen durchgemacht, in denen \"Hexenjagden\" veranstaltet und Glaubenskriege geführt wurden, in den der Starrsinn der Herrscher regierte. Die Tradition uniformen Denkens ist alt und stark - gerade im autokratischen Einheitsstaat. In unserem Bewußtsein haben Verfolgungen und Repressionen alle anderen Seiten des Stalinismus verdrängt. Aber faktisch begann der Stalinismus mit dem Kampf gegen Andersdenkende, gegen die Religion als ganzes und gegen jede ihrer Richtungen, gegen jede beliebige Denkschule, gegen jede These, Richtung, nur wenn sie nicht mit den Launen und Vorstellungen Stalins sowie seiner Umgebung in Einklang zu bringen waren. Anders als in den sechziger, siebziger und vor allem an der Schwelle der achtziger Jahre war geistiger Widerstand gegen das Regime kein Thema. Die Mittel, diesen mit Gewalt zu unterdrücken, waren uneingeschränkt verfügbar. Doch je weiter das Stalinsche Sozialismusmodell fortlebte, je länger die Führung auf der Unabänderlichkeit seiner ökonomischen, politischen, ideologischen und kulturellen Form beharrte, um so mehr verschärften sich die Probleme und Widersprüche sowohl im alltäglichen Leben als auch in der Gedankenwelt vieler. Das wissenschaftliche, gesellschaftliche und künstlerische Denken konnte über diese evidente Diskrepanz zwischen Wort und Tat, Idealen und Realitäten nicht hinwegsehen. Nicht immer geschah dies bewußt. Sehr oft, namentlich am Anfang, handelte es sich um Formen moralischen Protests (ein Beispiel liefert die Dorfprosa). Nicht selten wurden aufgrund politischer Unerfahrenheit Fragen in Bereichen, in denen der Fragesteller 246 JHK 1993Biographische Skizzen/Zeitzeugenberichtegroße fachliche Kompetenz besaß, gestellt - Fragen, die, wie weniger gewissenhafte, aber zynische Menschen wußten, anzuschneiden sich nicht lohnten und riskant waren.So oder so ergaben sich aus den objektiv vorhandenen Problemen und Widersprüchen mehr und mehr Fragen. Der Unwille, sie zu lösen, regte den Geist zu Protest an. Und die zunehmende Verfolgung Andersdenkender - genauer der Kampf gegen Freiheit und Wahrheit - förderte im Endeffekt nur die Fluchtbewegung in die \"innere Emigration\" und ihre Verankerung in der Gesellschaft.Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß sich die Politik der Verfolgungen nur gegen die frei denkenden Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler, die Intellektuellen überhaupt richtete. Sie war gegen alles Selbständige, gegen jede Initiativkraft, gegen alles Originelle, gegen jeden, der auf der Suche war, gerichtet. Zu ihren Opfern zählen auch Wirtschaftsfunktionäre.Die Tragödie der Wirtschaftsreformer besteht darin, daß sie rein gar nichts tun konnten, ohne unangenehm aufzufallen. Ihre Arbeit zeigte nämlich, welch ungenutzte Möglichkeiten im Verborgenen lagen. Es war ein Leichtes, sie unter Anklage zu stellen. Doch in jedem Falle wurden sie wegen ihres Freiheitswillens, ihres Schöpfertums bestraft.Das Kapitel der andersdenkenden Ökonomen in der Geschichte des Dissidententums ist im Gegensatz zu ihren anderen noch nicht aufgeschlagen worden.Welche Folgen zeitigten die moralischen Verfolgungen und Repressionen? Das Land erlitt schwere Verluste - nicht nur, weil man das moralisch Verwerfliche kultivierte, nicht nur, weil man auf geistigem Gebiet weit zurückfiel, nicht nur, weil man im Ausland an Ansehen verlor.Der Schlag gegen Gedankenfreiheit und Initiativkraft zeitigte ein weiteres bedrohliches Ergebnis: Gleichgültigkeit, Formalismus und Selbstentfremdung der Menschen führten dazu, daß sich Krankheiten in allen Bereichen der Gesellschaft einschleichen und festsetzen konnten. Niemand war gezwungen, ein bißchen mehr oder überhaupt Verantwortung zu übernehmen; niemand mußte jemandem etwas beweisen, selbst wenn dies völlig ohne Risiko für Leben und Karriere war. Der Grund dafür liegt nicht nur in der Verfolgung der Dissidenten. Doch sie trug merklich dazu bei und spielte eine äußerst destruktive Rolle.Wenn die alte, vorrevolutionäre Gesellschaft in der beständigen Furcht vor einem neuen Pugatschow oder Rasin lebte, dann muß sich die Gesellschaft, die sich auf Verfolgung und Unterdrückung der Gedankenfreiheit stützt, dessen bewußt sein, daß die Gleichgültigkeit und die Verantwortungslosigkeit, die ein durch offizielle Pläne, Vorschriften und Anweisungen bis zur Absurdität bestimmtes Leben mit sich bringt, noch verheerender wirken und unmenschlicher sind.Der Kampf gegen das Andersdenken ist der Keim, der Bazillus von Verfolgung und Repression, ist die permanente Drohung, wieder auf sie zu verfallen; er schafft die Atmosphäre und Bedingungen, die eine Rückkehr zur Praxis der Unterdrückung erleichtern und wahrscheinlich machen.Sicher haben uns Demokratisierung und \"Glasnost\" ein Stück weiter gebracht. Dennoch existieren viel Gehässigkeit und Intoleranz in uns fort, werden auf Kundgebungen und Versammlungen diejenigen, die einen anderen Standpunkt vertreten, mit Flüchen bedacht. Ja, Verunglimpfungen und Beleidigungen haben zugenommen. A. N. Jakowlew: Blutige VergangenheitJHK 1993 247Ist die Demokratie in der Lage, dem Menschen zu helfen, hiervon abzulassen? Das ist die Schicksalsfrage der Demokratie selbst.Es ist offensichtlich, daß Verfolgung und Repressionen nicht nur Kapitel einer schwierigen Vergangenheit sind. Sie bestimmen auch unsere Gegenwart, unser gesellschaftliches Bewußtsein, unsere Einstellung zu demokratischen Werten, das Maß an Verantwortung für unsere Gesellschaft.Der jahrzehntelange Schrecken, das Mißtrauen, die absolute Macht über das Volk haben unweigerlich das gesellschaftliche Bewußtsein, aber auch das Bewußtsein eines jeden Einzelnen deformiert. Gerade deshalb kann sich in meinem Land eben erst mit der Einsicht in den Stalinismus soziale Aktivität zu formieren beginnen, können die geistigen und materiellen Grundlagen geschaffen werden, die den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen und einem konsequenten Demokratieverständnis entsprechen.Der Zickzackkurs und die Widersprüche auf dem schwierigen Weg hin zur Befreiung der Gesellschaft von den Folgen des Stalinismus und seinen Erscheinungen in allen Lebensbereichen bremsten den Prozeß der Demokratisierung. Leider lassen sich die Krankheiten der Vergangenheit nur langsam und mühevoll heilen. Zudem begünstigen der heutige sozioökonomische und politische Zustand der Gesellschaft diesen Prozeß nicht.Der Stalinismus versuchte, durch sein System von Verfolgung und Repression, durch die totale Bespitzelung der Gesellschaft, durch Denunziantentum und durch Methoden ideologisch-politischer Gewalt die Persönlichkeit seiner Opfer zu brechen und deren Bewußtsein zu knebeln. Demjenigen, der selbständig Position zu politischen und wirtschaftlichen Erscheinungen in der Gesellschaft bezog, drohte das Schafott. Der, der sich barmherzig zeigte oder menschliche Gefühle offenbarte, sah sich mit den Strafverfolgungsbehörden konfrontiert. Dies alles erzeugte die Bereitschaft, jeden Befehl ohne Nachdenken auszuführen, jede Lüge der Machthaber als wahr hinzunehmen, und dies zog wiederum Doppelzüngigkeit, Apathie, Zynismus und Geistlosigkeit nach sich.Beurteilt man die Entwicklung der Gesellschaft, den Charakter und das Niveau gesellschaftlichen Bewußtseins, muß man den tragischen Umstand in Rechnung stellen, daß in den zwanziger und dreißiger Jahren hervorragende Wissenschaftler und Künstler, Vertreter der Aufklärung, Militärs, Diplomaten, Ärzte und sehr erfahrene staatliche Bedienstete das Land verlassen haben oder liquidiert worden sind. Der Schlag wurde gegen den aktivsten Teil der Arbeiter und Bauern geführt. Diejenigen, die überlebten, wurden seelisch-moralisch gebrochen oder korrumpiert.Das stalinistische System hat nicht nur eine Generation hervorgebracht, die bereit war, wann auch immer ihrem Führer Treue zu schwören und diejenigen mit dem Bannstrahl zu strafen, die sich nicht mit der Staatsmacht einverstanden zeigten. Zu diesen \"loyalen\" Menschen zählten nicht nur Arbeiter und Bauern, sondern auch Sozialwissenschaftler, Schriftsteller, Schauspieler, Künstler, Publizisten, mit einem Wort Menschen, die kraft ihres gesellschaftlichen Status und ihres Berufs aktiv an der Bildung des gesellschaftlichen Bewußtseins beteiligt waren. Viele von ihnen waren sehr talentiert. Dies erlaubte es ihnen, besonders nachhaltig menschenverachtende Ideen, falsche Werte und ungerechte Ziele unter das Volk zu tragen.Der jetzige moralische Zustand unserer Gesellschaft ist das Ergebnis der über Jahre hinweg ausgegebenen sittlichen Normen. Spuren dieser \"Erziehung\" finden sich bis 248 JHK 1993Biographische Skizzen/Zeitzeugenberichteheute in der Gesellschaft. Wir warten unruhig darauf, was das nächste Kapitel der Geschichte für uns bereithält.Vorerst ist nur eines klar: Um der Zukunft guten Gewissens entgegenzublicken, um sie aktiv gestalten zu können, müssen wir begreifen, was mit uns in der Vergangenheit geschehen ist, warum es möglich war, mit einem großen Volk so blutig abzurechnen. Darüber müssen wir uns Klarheit verschaffen. Andernfalls werden wir weiter umherirren und unsere Intoleranz nicht los.

Inhalt – JHK 1993

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