JHK 1993

Die Instrumentalisierung des Marxismus-Leninismus

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 160-170

Autor/in: Hermann Weber (Mannheim)

In den kommunistisch regierten Staaten galt der Marxismus-Leninismus als \"herrschende Ideologie\". Nach offizieller Lesart stützten sich nicht nur Konzeptionen und Strategien, sondern die gesamte Politik der Kommunisten auf den Marxismus-Leninismus. Auch die Umgestaltung der Gesellschaft wurde in dieser Sicht als \"Anwendung\" des Marxismus interpretiert. Programmatisches Ziel kommunistischer Parteien war in ihrer Selbstdarstellung eine Gesellschaft der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit entsprechend der Tradition der Arbeiterbewegung und des \"Marxismus\".Deshalb ist zu prüfen: Erstens, war der Marxismus-Leninismus tatsächlich die von der Führung angewandte Theorie, deren Vorgaben ihre Politik bestimmten oder aber diente er vor allem der Rechtfertigung und Verschleierung ihres Handelns. Zweitens, waren die durch dogmatische Schulung verbreiteten Inhalte der Ideologie Grundlage politischer Einsichten und Motivation oder wurden sie vorwiegend als Glaubensdoktrinen zur Disziplinierung der Anhängerschaft, vor allem der Funktionäre, benutzt?Gegenwärtig findet wieder eine Auffassung Verbreitung, die schon in den fünfziger Jahren im Westen dominierte: Kommunistische Politik wird im wesentlichen als \"Verwirklichung\" der Ideologie des Marxismus-Leninismus, ja der Theorien von Marx gesehen. Dadurch wird noch im Nachhinein die Behauptung der Kommunisten \"bestätigt\", ihre Politik ziele auf die klassenlose Gesellschaft, realisiere die Ideen der Arbeiterbewegung im Sinne von Marx. Bei entsprechenden Zitatenzusammenstellungen1 aus den (nicht selten widersprüchlichen) Arbeiten von Marx und Engels fehlt die nötige Historisierung und damit erscheinen die Thesen von Marx und Engels als \"Grundlage\" der späteren Politik der Kommunisten. Tatsächlich: \"Geschickte Auswahl versetzt unschwer in die Lage, Marx und Engels beliebig als Trumpf auszuspielen\"2 - sie sogar als Stammväter der Diktatur kommunistischer Parteiführungen auszugeben.Wenn nun in einer Dissertationsankündigung verlautet: \"Der Realsozialismus ist die Umsetzung der politischen Programmatik und Dogmatik des \'Manifest der Kommunistischen Partei\' von 1848\",3 wird mit solchen Vorstellungen nicht nur - zwar mit umgekehrten Vorzeichen - die These der ehemals herrschenden Parteikommunisten übernommen, sondern zugleich die Instrumentalisierung, die Ideologisierung der Theorie verwischt.Marxismus. Quellen-Lexikon. Hrsg. von Konrad Löw. Köln 1985. 2., erg. Aufl., Köln 1988. Vgl. hingegen das wissenschaftlich fundierte Marx-Lexikon: Zentrale Begriffe der politischen Philosophie von Karl Marx. Hrsg. von Hans-Joachim Lieber und Gerd Helmer. Darmstadt 1988. 2 Das Zitat stammt aus den mehr als dürftigen \"Kommentaren\" Löws (a.a.O., S. 72) und kann \"unschwer\" gegen seine Sicht angewendet werden. Typisch für seine Erläuterungen ist, wie er Marx\' Aussage, der Mensch sei das höchste Wesen für den Menschen, es gelte der \"kategorische Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist\", kommentiert als \"ganz ungewöhnliche Gefühlskälte\" des jungen Marx. Ebenda, S. 142. 3 So die Verlagsankündigung für Gentsch, Lutz: Realsozialismus und Karl Marx. Die Stalinismus-Legende. Frankfurt/M. u.a. 1993. H. Weher: Instrumentalisierung des Marxismus-LeninismusJHK 1993 161Mit der Instrumentalisierung rückte indes an die Stelle einer Theorie, die mittels einer bestimmten Methode Tatsachen erforscht und daraus entsprechende Schlußfolgerungen zieht, eine Ideologie, die (ganz im Sinne der ideologiekritischen Definition von Marx) die Funktion hatte, die Interessen einer herrschenden Klasse oder Schicht zu verdecken.Der Gebrauch von Termini des Marxismus und der Arbeiterbewegung diente vorrangig der Verschleierung der wirklichen Verhältnisse. Zumindest seit der Herausbildung der stalinistischen Ideologie (d.h. ihres \"Marxismus-Leninismus\") in den zwanziger Jahren sollten Diktatur und die Herrschaft einer neuen privilegierten Oberschicht durch die Berufung auf die Theorie von Marx, die Übernahme seiner Begriffe bei radikalem Wertewandel, verschleiert werden. Die Ausbeutung wurde als Aufbau des Sozialismus stilisiert, trotz blutiger Säuberungen vom \"sozialistischen Humanismus\" gesprochen und die terroristische Diktatur als \"sozialistische Demokratie\" beschrieben. Damit sollte verdeckt werden, daß die diktatorische Willkürherrschaft die Abkehr von den sozialen und humanistischen Ursprüngen auch des radikalen Flügels der Arbeiterbewegung bedeutete.Durch die Indoktrination mit ausgewählten Zielvorstellungen von Marx (Verstaatlichung der Wirtschaft als Schritt zur klassenlosen Gesellschaft, Planung als Überwindung einer Krisenwirtschaft) wurde versucht, davon abzulenken, daß dieser \"Staatssozialismus\" die wirtschaftliche Grundlage kommunistischer Parteidiktatur war. Marx\' Kritik am Kapitalismus des 19. Jahrhunderts wurde zur Immunisierung gegenüber allen \"westlichen\" Ideen benutzt, um durch \"falsches Bewußtsein\" das Regime zu festigen. Dabei zeigte sich, daß die Ideologie oft weniger auf positiver denn auf negativer Haltung beruhte: Die Beschwörung der Gefahr des Faschismus - als \"Ergebnis\" des Kapitalismus an die Wand gemalt - sollte z.B. die Funktionäre durch \"Antifaschismus\" zusammenschliessen und Kritik am eigenen System verhindern.Die Behauptung, der Marxismus-Leninismus sei eine \"wissenschaftliche\" Lehre, mit deren Hilfe die Führung der \"Gesetzmäßigkeit der Geschichte\" folge, wirkte wie Opium, um die Gläubigkeit der Kader zu festigen. Zugleich sollte die These von der \"Unvermeidlichkeit\" des \"Sieges des Kommunismus\" und ebenso die Prophezeiung, das \"Rad der Geschichte\" drehe sich in Richtung Kommunismus, bei Anhängern Hoffnung erzeugen und die Gegner erschrecken oder verwirren. Doch gerade hier setzte die Verschleierung ein, weil in den Mittelpunkt der Politik längst Machterringung und dauerhafter Machterhalt gerückt waren und nicht Zukunftsutopien mit dem Ziel einer gerechten Gesellschaft.Dies galt auch für die SED (die im folgenden vor allem berücksichtigt wird). Deren Propagandisten haben die Ideologie in Agitation umgesetzt: Die Parteidiktatur hieß \"Diktatur des Proletariats\" - obwohl gerade die Arbeiter rechtlos waren. Ihr Instrument Streik war ihnen mit der Behauptung genommen, sie seien inzwischen die \"Eigentümer\" der Betriebe und deshalb könnten sie nicht gegen sich selbst streiken. Zynismus war dann die Bezeichnung der Mauer als \"antifaschistischer Schutzwall\".Der \"Marxismus-Leninismus\" diente der Verbrämung der Existenz und Rolle einer neuen Oberschicht sowie der Diktatur der Parteiführung, nicht zuletzt durch Funktionswandel der Begriffe, wie Karl Mannheim schon 1925 konstatierte: \"Wachsen neue Schichten in Ideengehalte von bereits vorhandenen Schichten hinein, so wird es sich immer zeigen lassen, daß dieselben Worte für sie etwas anderes bedeuten werden, weil 162 JHK 1993Forumdie Strebungsrichtung und der Existenzzusammenhang, aus dem diese neuen Schichten denken, auch ein anderer ist. \"4Da es sich bei der stalinistischen Ideologie um Verschleierung handelte, sind deren Aussagen nicht einfach zu glauben, sondern kritisch zu überprüfen.5 \"Wie man im Privatleben unterscheidet zwischen dem, was ein Mensch von sich meint und sagt, und dem, was er wirklich ist und tut, so muß man noch mehr in geschichtlichen Kämpfen die Phrasen und Einbildungen der Parteien von ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellung von ihrer Realität unterscheiden. \"6 Das galt gerade für die stalinistische Ideologie.Neben der Verschleierung hatte der Marxismus-Leninismus zugleich die Aufgabe, die Politik der Kommunisten zu rechtfertigen. Die Führung wollte durch ständige Berufung auf Thesen der \"Klassiker\", also von Marx, Engels und Lenin - und bis 1956 vor allem Stalin - beweisen, ihre Politik sei die Anwendung einer wissenschaftlichen Theorie, also letztlich von deren Ziel einer \"besseren\" Gesellschaft bestimmt.Wolfgang Leonhard hat das so beschrieben: \"Die Ideologie diente der Begründung und Rechtfertigung zuvor von der Parteiführung aus praktischer Notwendigkeit gefaßter Beschlüsse und Maßnahmen, die nachträglich mit der Behauptung gerechtfertigt wurden, die Führung betreibe eine \'wissenschaftliche Politik\'. \"7Beispielhaft ist zu zeigen, wie die \"Berufung\" auf theoretische Aussagen lediglich zur Scheinbegründung jeweiliger Politik benutzt wurde. \"Klassiker\"-Zitate mußten stets dazu herhalten, als dogmatische Leitsätze die \"Richtigkeit\" der Politik zu \"belegen\". Als drastischer Nachweis für solchen \"Marxismus-Leninismus\" sei hier die Benutzung zweier entgegengesetzter Lenin-Thesen angeführt. Es ging jeweils darum, die gerade gültige politische Linie zu \"untermauern\", ja sogar zu \"beweisen\"; beispielsweise, ob es \"besondere Wege\" zum Sozialismus gebe oder als Richtschnur einzig das sowjetische Modell gelte.Bei Gründung der SED hatten Anton Ackermann und andere kommunistische Ideologen entsprechend der damaligen politischen Linie Stalins als \"Beweis\" für \"verschiedene\", also auch für einen \"deutschen\" Weg zum Sozialismus, Lenins These aus dem Jahr 1916 zitiert: \"Alle Völker werden zum Sozialismus gelangen, das ist unausweichlich,4 Mannheim, Karl: Das Problem einer Soziologie des Wissens. Archiv der Sozialwissenschaft. Tübingen 1925. S. 650. - Vgl. auch ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Eingeleitet und hrsg. von Kurt H. Wolff. Neuwied 1964. S. 384. Auf die Diskussion zur Ideologie (etwa Ideologie als Werturteil im Gegensatz zur wissenschaftlichen Sachaussage, so bei Theodor Geiger oder Hans Albert) kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. z.B. Lenk, Kurt: Ideologie, Ideologiekritik und Wissenssoziologie. Frankfurt/Main, New York 1984.5 Es fällt auf, daß im Westen zwar die einstige These der SED-Führung von der \"Verwirklichung\" des Marxismus und Leninismus ernst genommen wird, nicht aber die ebenso unsinnigen Behauptungen, die Deutsche \"Demokratische\" Republik realisiere die Demokratie, die SED sei \"Friedenspartei\" usw. Stojanovic hat schon 1970 konstatiert, es sei in der UdSSR ein \"neues, ausbeuterisches Klassensystem entstanden, das sich beharrlich als Sozialismus ausgibt. Leider glaubt man nahezu allgemein an die sozialistische Identität der stalinistischen Gesellschaft\". Stojanovic, Svetozar: Der etatistische Mythos des Sozialismus. Wiederabgedruckt in Oelmüller, Willi: Weiterentwicklungen des Marxismus. Darmstadt1977. S. 367 ff. 6 Marx, Karl: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx/Engels Werke. Bd. 8. Berlin (Ost) 1960.S. 139. 7 Leonhard, Wolfgang: Referat vor der Enquete-Kommission des Bundestages \"Aufarbeitung von Ge-schichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland\" am 12. Februar 1993. Ms. O.O.u.J. S. 6. H. Weber: Instrumentalisierung des Marxismus-LeninismusJHK 1993 163aber sie werden dahin nicht auf ganz dem gleichen Weg gelangen, jedes Volk wird dieser oder jener Form der Demokratie, dieser oder jener Abart der Diktatur des Proletariats, diesem oder jenem Tempo der sozialistischen Umgestaltung, der verschiedenen Seiten des gesellschaftlichen Lebens seine Eigenart verleihen!\" 8Doch schon 1948, seit dem Stalin-Tito-Konflikt, sind \"verschiedene Wege\" zum Sozialismus von der stalinistischen Führung in Moskau verworfen, für ketzerisch erklärt und ihre Verfechter verfolgt worden. Nunmehr beriefen sich die Kommunisten darauf, daß Lenin ja (auch) 1920 gesagt hatte, die \"Grundzüge\" der bolschewistischen Revolution hätten keine \"spezifisch russische\", sondern \"internationale Bedeutung\", ihre \"internationale Wiederholung\" sei unvermeidlich.9Das galt bis 1956. Denn 1956, auf dem XX. Parteitag der KPdSU, konzedierte Chruschtschow wieder \"verschiedene Wege\" zum Sozialismus - und stellte das erstgenannte Lenin-Zitat von 1916 als richtungsweisend in den Mittelpunkt. Kurze Zeit darauf, nach dem ungarischen Aufstand, erhielt erneut das spätere Lenin-Zitat von 1920 den Rang eines \"Beweises\" der nun wieder streng von Moskau diktierten Politik. Dieser fatale Umgang mit gegensätzlichen \"Belegen\" wiederholte sich mehrmals. Damit waren keineswegs etwa falsche Zitate aus der Schublade gezogen, sondern sie nach Bedarf herausgesucht worden, sollte doch jeweils der \"Beweis\" angetreten werden, die kommunistische Politik lasse sich von einer \"Wissenschaft\", dem Marxismus-Leninismus leiten. Tatsächlich dienten in diesem \"Dogmenstreit\" Lenin- und Marx-Zitate in erster Linie zur ideologischen Verschleierung und Rechtfertigung aktueller Politik.Später wurde noch deutlicher, daß gerade die Sowjetführung nicht von theoretischen Konzeptionen des \"Marxismus\" ausging, sondern diese nur der Rechtfertigung ihrer Machtpolitik dienten. Alexander Dubcek schrieb inzwischen über seine Erfahrungen in Moskau 1968: Breschnew machte \"deutlich, daß Ideen und Ideale ganz und gar zweitrangig waren. Er zeigte, was er und sein Politbüro wirklich waren: ein Haufen zynischer, arroganter Bürokraten mit dem Auftreten von Feudalherren, die schon lange niemanden mehr dienten außer sich selbst\". 10Die Instrumentalisierung des Marxismus-Leninismus hatte durch Verschleierung und Rechtfertigung stets die Macht der Parteiführung legitimieren sollen. Dies ist für die SED-Diktatur in der DDR ebenfalls nachzuweisen. Mit den politischen (Diktatur) und sozialen (Staatswirtschaft) Umgestaltungen erfolgte nach 1945 in der SBZ/DDR die Übertragung des sowjetischen Modells. Maßgeblich für die Umwandlung der DDR erwiesen sich daher nicht etwa theoretische Positionen (und schon gar nicht die Wert- und Zielvorstellungen der - ja auch von Marx geprägten - deutschen Arbeiterbewegung und ihrer Traditionen), sondern die strikte Befolgung der Vorgaben und \"Erfahrungen\" des stalinistischen Machtsystems.Gerade die Berufung auf die Geschichte, in der die Kommunisten angeblich \"immer recht\" hatten, sollte der SED-Herrschaft Legitimation verschaffen. Ein typisches Beispiel von Instrumentalisierung war der Anspruch der SED, sie habe eine marxistische Geschichtswissenschaft etabliert.Deren \"marxistische\" Darstellung beschränkte sich jedoch oft nur auf die Verwendung der Terminologie und einiger dogmatisierter Grundaussagen. Soweit es sich um die8 Lenin, W.I.: Sämtliche Werke. Bd. 19. Wien-Berlin 1930. S. 281. 9 Lenin: Aus den Schriften 1895-1923. München 1967. S. 236. 10 Vorabdruck von Dub eks Memoiren, in: Der Spiegel, Nr. 10, 8.3.1993. S. 198. 164 JHK 1993ForumDefinition von Gesellschaftsformationen oder die Beschreibung der \"gesetzmäßigen\" Entwicklung handelte, hielt sich die SED orthodox an den historischen Materialismus. Allerdings stützte sie sich bei der Einschätzung ihrer eigenen Geschichte eher auf idealistische denn auf materialistische Positionen. Als Erklärungsmuster wurden keineswegs ökonomische, politische und organisatorische Determinanten in Zusammenhang gebracht, sondern meist ideologische Konzeptionen \"der Partei\" beschrieben und diese dann als Ergebnis einer angeblich \"objektiven Gesetzmäßigkeit\" des Geschichtsverlaufs dargestellt.Die DDR-Historiographie benutzte keineswegs die ideologiekritische marxistische Methode, sondern sie hat im Gegenteil die vorhandenen realen Widersprüche vertuscht und Gegensätze der eigenen Entwicklung geleugnet. Gerade die Unterordnung des Geschichtsbildes unter die Erfordernisse aktueller Politik verhinderte, daß der \"Marxismus\" als eine Methode empirischer Forschung Anwendung fand. Für die Politik instrumentalisiert, war er eine Schablone, in die die tatsächlichen Ereignisse gepreßt wurden.11 Als Teil der Ideologie war die DDR-Geschichtsschreibung Legitimationswissenschaft. Da die SED ihre Politik als \"historische Notwendigkeit\" ausgab, mußte sich die Kernthese ihrer Ideologie, \"die Partei hat immer recht\", anhand der Geschichte \"beweisen\" lassen.Als Fazit ist Wolfgang Leonhard voll zuzustimmen: \"Für die SED-Führung [war] der Marxismus-Leninismus keine Gesellschaftstheorie zur Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung oder Errichtung der klassenlosen Gesellschaft, sondern [er] diente vor allem der Legitimierung des diktatorischen Regimes.\" 12Wenn diese lange Zeit fast unumstrittene Auffassung heute in Zweifel gezogen wird, geschieht dies auch aus politischen Gründen. Für weite Teile der Bevölkerung ist mit dem \"realen Sozialismus\" jede Form von Sozialismus diskreditiert. Bei der Aufarbeitung der DDR-Geschichte bemühen sich inzwischen ehemalige SED-Historiker darum, zu \"beweisen\", daß ein Charakteristikum der DDR der \"gescheiterte Versuch\" einer Verwirklichung der auch von Marx geprägten Theorien der deutschen Arbeiterbewegung gewesen sei.13 Interessanterweise korrespondieren solche Thesen mit konservativen Vorstellungen. Auch diese erklären, daß in der DDR der Versuch scheiterte, den Marxismus zu realisieren. Sie bewerten den Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen als Bankrott aller sozialistischen Ideen und das Ende des Strebens nach sozialer Gerechtigkeit. Es sind letztlich politisch geprägte Aussagen, wenn heute z.B. gesagt wird, \"daß es sich bei der SED-Diktatur um eine Form der Verwirklichung der marxistischleninistischen Theorie handele\"_ 14Die Kritik an solchen Auffassungen unterschätzt keineswegs die Bedeutung der Ideologie. Selbstverständlich kam dem Marxismus-Leninismus als einem wesentlichen Mittel der Machtausübung eine eminente Rolle zu. Schließlich festigte die SED ihre Herrschaft ebenfalls mit den drei Methoden, die von Stalin in der UdSSR entwickelt worden waren. Einmal die Neutralisierung, durch die breite Schichten \"passiv\" gehalten werden sollten. Zum anderen sollte vor allem Terror die Diktatur sichern. Die Verfolgungen richteten sich gegen diejenigen, die eine Änderung des Systems anstrebten, die11 Vgl. dazu Weber, Hermann: DDR 1945- 1990. München 1993. S. 125 ff. 12 Leonhard, Referat, a.a.O., S. 5. 13 Vgl. dazu Deutschland Archiv (im weiteren DA), 26. Jg. (1993), H. 2. S. 255 ff. 14 Pressedienst der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag vom 16.2.1993. H. Weher: Instrume11talisierung des Marxismus-LeninismusJHK 1993 165opponierten. Willkür und Bespitzelung führten zu Resignation und schufen eine Atmosphäre der Angst.Drittens aber kam der Ideologie eine Rolle als Herrschaftsinstrument zu. Der Marxismus-Leninismus war eben nicht nur Verschleierungs- und Rechtfertigungsinstrument, sondern auch Bindeglied der herrschenden Eliten, er sollte durch Erziehung und Bewußtseinsbildung, durch Indoktrination zugleich neue Anhänger, vor allem unter der Jugend, gewinnen und für das Regime mobilisieren. Die Schulung der Funktionäre zielte auf ideologisch-politische Konformität und war damit eine wesentliche Maßnahme, um die SED zu festigen und ihre Diktatur ausbauen zu können. Dazu mußte die Ideologie ein dogmatisch geschlossenes Weltbild verbreiten: Die utopischen Züge marxistisch-leninistischer Zukunftshoffnung wurden auf Gläubigkeit gegenüber der Parteiführung, die \"immer recht\" hatte, reduziert. Insofern diente die Ideologie der \"Oktroyierung von Denkschablonen und Denkkategorien - sowohl dessen, was man glauben sollte als auch was man abzulehnen hatte. Durch die vorgeschriebenen Abweichungen sollten Mitglieder und Funktionäre dazu erzogen werden, gleichsam automatisch alle Auffassungen abzulehnen, die nicht in die vorgefaßte Parteilinie paßten. Kritische Gedanken und Vorschläge konnten durch die Führung als \'Abweichung\' deklariert werden, um damit unliebsame oder gar kritische Diskussionen zu vermeiden\". 15Schließlich sollten durch die Ideologie Verhaltensnormen entwickelt, die Mobilisierung politischen und sozialen Handelns erreicht werden. Allerdings waren auch hierbei eher allgemeine Floskeln (etwa die \"10 Gebote der sozialistischen Moral\" Ulbrichts von 1958) als wirkliches \"marxistisches\" Wissen gefragt.Doch hatte der Marxismus-Leninismus als Weltanschauung der Führer und Funktionäre Bedeutung: Ihr Glaube war am Marxschen Menschenbild des 19. Jahrhunderts ebenso orientiert wie am Fortschrittsoptimismus, etwa an Engels\' These von der Naturnotwendigkeit des Untergangs der \"alten Gesellschaft\". Dogmatische Festlegungen auf Lenins Vorstellungen von der \"Rolle der Partei\" haben ihre Sicht der Politik ebenso geprägt wie der Atheismus oder die Marxsche Forderung nach Aufhebung des Privateigentums. Ausgewählte und verengte Inhalte der Theorie wirkten so auf die Politik zurück. Es war also keineswegs die \"falsche\" Anwendung einer \"guten\" Idee, die zum Desaster führte. Es geht hier eben nicht um die weiterhin diskussionswürdigen Probleme von Fehlern und Schwächen oder von methodischen Leistungen der Marxschen Theorie und ihres humanistischen Anliegens. Immerhin waren ja mit der ideologiekritischen Methode von Marx gerade die Gegensätze zwischen Anspruch und Wirklichkeit in den kommunistischen Staaten besonders deutlich zu enthüllen. Hier steht aber das komplexe Thema der Ideologisierung des Marxismus und der doktrinären Instrumentalisierung des Marxismus-Leninismus zur Diskussion.Selbst in der Außenpolitik ist ja die Rolle der Ideologie als Handlungsanleitung relativiertl6 und auch in der Kulturpolitik ist der Marxismus-Leninismus \"nur in einem sehr allgemeinen Sinne\" als \"ideologische Grundlage\" betrachtet worden.l7 Und für die Programmatik gilt die Aussage von Karl Wilhelm Fricke zum Programm und Statut von15 Leonhard, Referat, a.a.O., S. 6.16 Dasbach-Mallinckrodt, Anita: Wer macht die Außenpolitik der DDR? Apparat, Methoden, Ziele. Düs-seldorf 1972. S. 54 ff. Jahn, Egbert: Der Einfluß der Ideologie auf die sowjetische Außen- und Rü-stungspolitik (I-III), in: Osteuropa, 36. Jg. (1986). S. 356 ff., 447 ff., 509 ff.17 So Hans-Adolf Jacobsen, in: ders. u.a.: Drei Jahrzehnte Außenpolitik der DDR. München 1979. S. 236. 166 JHK 1993Forum1976: \"Die Funktion der Ideologie, die etablierte Macht in der DDR zu rechtfertigen sowie Herrschafts- und Gesellschaftsverhältnisse zu verschleiern, liegt hier bloß. Dabei unterstellt die SED in ihrem neuen Programm groteskerweise \'den\' Marxismus-Leninismus, der als unumstrittene Ideologie selbst für Kommunisten nicht mehr existiert, seitdem er in Moskau anders als in Peking oder in Belgrad, in Rom oder in Paris ausgelegt wird.\"18So wie der Marxismus-Leninismus Legitimationsinstrument war, so fanden die Inhalte dieser Ideologie Verwendung zur Disziplinierung der Kader. Die Überzeugung der Führung und der Kader, sie seien \"Marxisten-Leninisten\", war dabei kaum von Belang: \"Die Ideologie ist ein Prozeß, der zwar mit Bewußtsein vom sogenannten Denker vollzogen wird, aber mit einem falschen Bewußtsein. Die eigentlichen Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt; sonst wäre es eben kein ideologischer Prozeß.\" 19Das völlig ideologisierte Bewußtsein sollte bei Kommunisten vor allem ein \"richtiges\" Verhältnis zur Macht herstellen. Der kommunistische Anspruch, im Besitz absoluter Wahrheit zu sein, sorgte bei der \"Avantgarde\" für Arroganz und verursachte Realitätsverluste, führte zu Fanatismus und Sendungsbewußtsein. Da ihr Marxismus-Leninismus auf vereinfachten Thesen beruhte, führte z.B. Stalins primitiver, aber recht einprägsamer \"Katechismus\" über \"dialektischen und historischen Materialismus\" jahrzehntelang zu einer Art Pseudoreligion.Schließlich konnte die Partei ihre Mechanismen (Neutralisierung, Terror, Indoktrination) nur dann erfolgreich anwenden, wenn die eigene Organisation sich bedingungslos den Weisungen der Parteispitze unterwarf. \"Eiserne Disziplin\"20 und straffer hierarchischer Zentralismus blieben immer die bestimmenden Leitungsmethoden.Den Funktionären wurde suggeriert, sie gehörten zur \"Avantgarde\", seien \"Vorhut\" und \"Elite\". Ständige Schulungen, selektive Faktenvermittlung und parteiliche Klischees förderten elitäre Überheblichkeit. Permanente ideologische Beeinflussung sollten keinen Raum für Zweifel, Skrupel oder Skepsis lassen. Der Glaube an die Ideologie wurde Grundlage der Vergötterung der \"Partei\". Der Funktionär hatte sich \"der Partei\" völlig unterzuordnen, ja der Partei alles zu geben, sich bedingungslos für sie einzusetzen. Damit wurde die Partei fast zum \"Orden\", dessen Kader sich durch unglaubliche Einsatzbereitschaft und Opfermut auszeichneten, zugleich aber unter der Angst litten, wegen \"Abweichungen\" aus dem \"wissenden\" Kreis ausgeschlossen zu werden. Den historischen Kontext beschreibt Helmut Fleischer: \"Die DDR-Ideologie war wesentlich eine Filiale des Sowjetmarxismus. Aus ihrer Vorgeschichte in der alten KPD erbte sie ein niederkulturelles Niveau und den kreuzzüglerischen Eifer des Sich-Abgrenzens und des Bekämpfens von Gegnern wie Abweichlern.\"21Kann die Funktion des Marxismus-Leninismus hauptsächlich als Rechtfertigungsund Verschleierungsideologie gekennzeichnet werden, so waren auch die Inhalte nicht Grundlage von Einsichten. Die Erziehung zur \"sozialistischen Persönlichkeit\" war nicht18 Programm und Statut der SED vom 22. Mai 1976. Mit einem einleitenden Kommentar von Karl Wilhelm Fricke. 2., akt. Aufl., Köln 1982. S. 31.19 Engels an Mehring am 14. Juli 1893. Marx/Engels Werke. Band 39. Berlin (Ost) 1968. S. 97. 20 So ein SED-Terminus in: Politisches Grundwissen. Hrsg. Parteihochschule \"Karl Marx\" beim ZK derSED. Berlin (Ost) 1972. S. 540. Ursprünglich hatten die Kommunisten von fast \"militärischer\" Parteidisziplin gesprochen, was wohl der richtigere Ausdruck war. Vgl. Pjatnizki, 0.: Die 21 Aufnahmebedingungen der Kommunistischen Internationale. Moskau/Leningrad 1934. S. 27. 21 Fleischer, Helmut: Anmerkungen zum Marxismus in der DDR. Ms. O.O.u.J. S. 6. H. Weber: Instrumentalisierung des Marxismus-Leninismus _ _ _ _ _ _ _ _ _ _JHK 1993 167an den Werten der linken Bewegung, der Emanzipation, orientiert, sondern an der Nützlichkeit für die Diktatur. Auch hier hat die westliche Forschung längst festgehalten, daß die \"Zwänge der Herrschaft\" entscheidend waren: \"Die Utopie des Marxismus wird auf die bestehende Realität verkürzt, die Erfüllung der Produktionsaufgaben für den sozialistischen Staat gleichgesetzt mit der produktiven Aneignung der Welt in der Arbeit.\" Auch beim Menschenbild waren es \"die Funktion der Ideologie und ihr Charakter als Herrschaftsinstrument, die analysiert werden müssen\" .22 Dies gilt auch für die Indoktrination der Funktionäre.Am Beispiel der Kaderschulung der SED nach 1945 ist nachzuweisen, daß Glaubensindoktrinierung zur Disziplinierung betrieben wurde. \"Vor allem nach der Niederlage der SED bei den Wahlen in Berlin vorn 20. Oktober 1946 wurde die Schulungsarbeit bedeutend verstärkt.\"23 Schon 1947 existierten über 100 SED-Kreisparteischulen und sechs Landesparteischulen (mit Drei-Monats-Lehrgängen). Es gelang in kurzer Zeit fast 180.000 Funktionäre auf Parteikurs zu bringen.Als höchste Institution des Schulungssystems wurde bereits 1946 die Parteihochschule \"Karl Marx\" geschaffen. Laut Beschluß des Parteivorstandes der SED vom 14. Mai 1946 oblag ihr die Aufgabe der \"Heranbildung qualifizierter Kader in Verbindung mit theoretischen Forschungsarbeiten und Herstellung von Schulungs- und anderen Materialien\". 24 Von 1946 bis 1989 hatten insgesamt 15.000 Funktionäre die Parteihochschule absolviert.25An dieser obersten \"Kaderschmiede\" der SED sollten Funktionäre \"wissenschaftlich\" ausgebildet und damit ein ideologisch \"gefestigtes\" Führungskorps rekrutiert werden. Bereits in der Übergangsphase der SED zur \"Partei neuen Typus\" 1947 bis 1949 wurde indes die schrittweise stalinistische Indoktrinierung dominierend.Als der Dozent Wolfgang Leonhard im März 1949 nach Jugoslawien flüchten mußte, war das ein dramatischer Einschnitt an der Parteihochschule. Kritik und Selbstkritik wurden gewissermaßen \"Hauptfach\", die Suche nach \"Agenten\" zur Manie.Unter welchen Zuständen die Disziplinierung stattfand, dokumentiert ein Bericht des damaligen Parteisekretärs der Parteihochschule, Mickinn, an den Parteivorsitzenden Wilhelm Pieck. Am 21. April 1949 schrieb er unter anderem: \"Am 30.3.49 wurde diese allgemeine Parteiversammlung früh 8.00 Uhr beginnend fortgesetzt. Gen. Rudolf Lindau [Direktor der Hochschule] hielt einleitend ein Referat, das sich eingehend mit den Ursachen des Falles Leonhard !Hervorhebung im Original] und der dabei zu Tage getretenen allgemeinen Unterschätzung des Trotzkismus an der Hochschule befaßte. In der anschließenden, bis 15.00 Uhr dauernden Diskussion sprachen eine Anzahl parteierfahrene Schüler und Lehrer über ihre Erfahrungen aus dem Kampf gegen den Trotzkismus, insbesondere in der Zeit der Emigration und des illegalen Kampfes. Der Gen. Kurt Hager hielt das Schlußwort.22 Hanke, Irma: Das Menschenbild der SED, in: DA, 9. Jg., H. 5, Mai l976.S.515. 23 Leonhard, Wolfgang: Die Parteischulung der SED (l 1945-1956 in: Aus Politik und Zeitgeschichte.Beilage \"Das Parlament\", B. XXXXIV/56vom31.10.1956. S. 692. Zur Schulung und zur Kaderpolitik allgemein hat bereits l956 Joachim Schultz die wesentlichen Aussagen gemacht: Der Funktionär in der Einheitspartei. Kaderpolitik und Bürokratisierung in der SED. Stuttgart und Düsseldorf 1956. Insbes. S 78 ff. 24 Dokumente der SED. Bd. I. Berlin (Ost) 1952. S 43. 25 40 Jahre Parteihochschule \"Karl Marx\" beim ZK der SED. Festschrift. Berlin (Ost) o. J. ( 1986). S. 6. 26 Vgl. zu den Einzelheiten: Geschichte. Erziehung, Politik. (1993), Nr. 5. S. 295 ff. 168 JHK 1993ForumVom 2.4. bis 7.4. wurde in den Parteigruppen aller Lehrgänge die Diskussion fortgeführt. Das Lehrerkollektiv befaßte sich bisher in 3 Versammlungen, deren letzte am 6.4.49 stattfand und ca. 7 Stunden dauerte, kritisch und selbstkritisch mit dem Fall Leonhard und den Lehren, die daraus für das Gesamtkollektiv und die einzelnen Fakultäten zu ziehen sind [...].Besonders unter den jüngeren Genossinnen und Genossen aller Lehrgänge muß noch eine systematische Schulungs- und Erziehungsarbeit geleistet werden, um alle Unklarheiten über den verbrecherischen Charakter des Trotzkismus restlos zu beseitigen. Diese Unklarheiten kommen im Verlangen \'nach objektivem Studium aller trotzkistischen Argumente\' und in der Verkennung des parteilichen Charakters unserer Wissenschaft zum Ausdruck. Fernerhin bestehen noch Unklarheiten in der Einschätzung des Sozialdemokratismus, ob Sozialdemokratismus und Trotzkismus gleichzusetzen sind. \"27Einengung der Schulung der Kader auf dogmatische Indoktrination war nun üblich, Wissensvermittlung selbst an der Spitzen-Ausbildungsstätte zweitrangig. Das \"Meisterwerk\" stalinistischer Fälschung, die \"Geschichte der KPdSU (B) - Kurzer Lehrgang\" rückte in den Vordergrund des Unterrichts, \"Kritik und Selbstkritik\" standen nunmehr offiziell auf dem Stundenplan.28Dem eigenen Kadernachwuchs wurde mißtraut, das Lesen gegnerischer Argumente als gefährlicher \"Objektivismus\" verwehrt. Durch Lehrthemen wie: Die SPD-Führung als \"imperialistische Agentur\" oder \"Stalin als Freund und Helfer des deutschen Volkes kes\"29 war an der höchsten Bildungsinstitution der Partei die Indoktrination auf das Niveau billiger Agitation abgesunken.Mit der Einführung eines \"Parteilehrjahres\" war 1950 die völlige Angleichung des SED-Schulungssystems an das der KPdSU vollzogen. Die Internatsschulung hatte mit verschiedenen Bildungsstätten (Betriebs-, Kreis-, Landesparteischulen) das ganze Land wie ein Netz überzogen. Bis 1954 hatten insgesamt 600.000 (meist junge) Menscheneinen mehr oder weniger langen Schulungskurs absolviert.Diese gezielte Indoktrination zeigte Wirkung, ihr Resultat war ein geradezu militaristisches System von Über- und Unterordnung, Befehl und Gehorsam. Statt Kritikfähigkeit und Konfliktbewältigung zu erlernen, sorgte die SED-Führung dafür, auch in der eigenen Partei den angepaßten, folgsamen, doktrinär-elitären und intoleranten Funktionär zu erziehen, der sich jederzeit die Vorstellungen der übergeordneten Instanzen zu eigen machte.Inhalt der Schulungen waren bis zuletzt nicht etwa grundlegende theoretische Aussagen von Marx, Engels oder Lenin (lange Zeit waren die Schriften des jungen Marx ohnehin verpönt), sondern neben einseitiger Zitatenauswahl vor allem die \"ParteibeschlüsParteibeZsucmhlüs\"sPea\"r.t3e0ilehrjahr\" gehörte z.B. 1988/89 für das \"2. Studienjahr\" ein Seminar zur \"Leninschen Theorie über den Imperialismus\". Aber in den Studienhinweisen für27 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv der SED (ZPA SED), NL 36/674.28 Z.B. am 16. und 18. Juni 1949. ZPA SED, IV 2/9.09/77. 29 Themen vom 15.10. und 1.11.1949. Ebenda. 30 Dies war immer das Prinzip der \"Parteilehrjahre\", vgl. z.B. Oldenburg, Fred: Das neue Parteilehrjahrder SED. DA, 6. Jg. (1973), H. 4. S. 352 ff. H. Weber: Instrumentalisierung des Marxismus-Leninismus _ _ _ _ _ __./HK J1993 169Teilnehmer und Propagandisten3 l sind mehr Zitate und Hinweise von Honecker, von SED-Parteitagen oder Parteibeschlüsse als originäre Lenin-Ausführungen zu finden.Die \"Klassiker\" wurden zwar dogmatisch abgehandelt, aber Zitate entsprechend ausgewählt, um die Kader strikt auf die gerade gültige politische Linie der Parteiführung einzuschwören. Diese Art Schulung war für die SED eine Notwendigkeit. Auch hierzu wurde bereits 1964 festgehalten: \"Selbst wenn sie sich von vorwiegend machtpolitischen Zielen leiten läßt und ihre Ideologie als Verbrämung und Rechtfertigung der Machtpolitik gebraucht, kann sie nicht darauf verzichten, ein Erhebliches an Zeit, Geld, Energie und Arbeitsaufwand zu investieren.\"32Das Ergebnis doktrinärer Schulung der Kader war indes verheerend. \"Fügsamkeit nach oben, disziplinarische Durchschlagkraft nach unten und erst an dritter Stelle Kompetenz\" führte zu \"Mittelmäßigkeit\", ja \"Unehrlichkeit und Unsicherheit\", wie Rudolf Bahro 1977 konstatierte.33Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Politik wie Umgestaltung der DDR waren nach dem sowjetischen Modell ausgerichtet. Von Marx\' programmatischen Ideen hatte die SED lediglich jene Forderungen übernommen und dogmatisiert, die diesem Ziel dienten. Der Aufbau der neuen Gesellschaft wurde eben stets unter dem Gesichtspunkt der Machterhaltung und -erweiterung vorangetrieben. Die Ideologie sollte die SED befähigen, politisch verbindliche Verhaltensnormen zu setzen, die Integration und Geschlossenheit der Führungsschicht zu erreichen sowie das soziale und politische Handeln mobilisierend anzuleiten, gerade auch durch \"handlungsbestimmende Grundüberzeugungen\" .34 Vor allem aber hatte die Ideologie die bestehenden Machtverhältnisse zu rechtfertigen und gleichzeitig zu verschleiern. Der Marxismus-Leninismus war das Instrument, mit dem die Führung ihre Allmacht zu legitimieren beabsichtigte.Neben der Repression benötigte die SED die Ideologie, um daraus \"Legitimation\" für die Sicherung ihrer Herrschaft abzuleiten. \"Nicht eine \'Lehre von Marx\' und nicht eine \'Idee des Sozialismus/Kommunismus\' bilden zusammen die Achse. um die sich die Geschichte gedreht hätte, die sich an jene Namen und Titel geheftet und sich als die \'Verwirklichung\' ihrer Botschaften ausgegeben hat. Wer in der Doktrin des Marxismus die Motive der kommunistischen Umwälzungen unseres Jahrhunderts sucht, verstellt sich den Blick auf die lebendigen Motivationen ihrer Akteure und sitzt deren eigenen Ideologisierungen auf. \"35Zur Rolle der Ideologie im System der kommunistischen Parteidiktatur lassen sich daher folgende Überlegungen treffen:361. Es handelte sich um eine Verschleierungsideologie. Eine \"marxistische\" Terminologie und die sogenannte \"Theorie des Marxismus-Leninismus\" sollten die wirklichen31 Parteileh1jahr der SED, Studien- und Seminarhinweise für Teilnehmer und Propagandisten der Scmi narc zur Lcninschen Theorie über den Imperialismus. 2. Studienjahr. Berlin (Ost) 1988.32 Förtsch. Eckbart: Parteischulung als System der Kadcrbildung in der SBZ (1946 - 1963). Phil.- Diss. Erlangen-Nürnberg l964. S. 181.33 Bahro, Rudolf: Die Alternative. Köln 1977. S. 251. 34 So Haniscb, Edda: Ideologische Grundlagen, in: Fischer. Alexander (Hrsg.): Ploetz. Die Deutsche De-mokratische Republik. Freiburg 1988. S. 67. 35 Fleischer, Anmerkungen a.a.0 .. S. 2. 36 Diese Zusammenfassungist nicht neu, sie wurde im Kern bereits 1957 erstellt und 1969 wieder veröf-fentlicht. Vgl. Weber, Hermann: Demokratischer Kommunismus? Hannover 1969 (2. Aufl. l 979). S. 75. 170 JHK 1993ForumVerhältnisse verdecken (Definition der Parteiherrschaft als Sozialismus, der Partei als \"Arbeiterpartei\" usw.).2. Die Bestandteile und Inhalte der Ideologie, d.h. was und wie der \"Marxismus-Leninismus\" doktrinär gelehrt und verändert wurde, entschied allein die oberste Parteispitze (zu seinen Lebzeiten Stalin). Kriterium war, daß sie der gerade praktizierten Politik der Führung entsprach, sie rechtfertigte. Die jeweilige politische Linie war an den Vorgaben der Führung orientiert, ihre Augenblicksinteressen bestimmten also das Wesen der Ideologie.3. Nach außen hatte die Ideologie die Politik zu \"begründen\". Dabei sollte der Anschein erweckt werden, als lasse sich die stalinistische Politik von einer \"wissenschaftlichen\" Theorie leiten. Hier liegen die Wurzeln für den weit verbreiteten Trugschluß, die Kommunisten hätten sich nur nach der Theorie gerichtet. Die Scholastik, der Begriffsdogmatismus, der Zitatenstreit verstärkten diesen Eindruck ebenso wie die Tatsache, daß die Ideologie, einmal vorhanden, ihrerseits die Beschlüsse der kommunistischen Politiker mitbestimmte: Die Wirklichkeit wurde durch ein ideologisches schwarz-weiß-Klischee verzerrt.4. Die Vorspiegelung, die stalinistische Partei handele stets nach der Ideologie des Marxismus-Leninismus, nach der, wie sie immer wieder betonte, einzig richtigen Theorie, schuf bei den Anhängern die Fiktion, daß die Führung nicht irren konnte, immer recht hatte. Da sie die \"wissenschaftliche\" Theorie anwandte, praktizierte sie auch die \"richtige\" Politik.5. Die dem Marxismus innewohnende Fortschritts- und Zukunftsidee wurde besonders herausgestrichen, ja überbetont. Damit behauptete die Partei, nur wer sie unterstütze, verschließe sich nicht der \"historischen Notwendigkeit\", die sich mit \"gesetzrnässiger\" Gewißheit durchsetze. Zugleich wurde ein ständiger Aufstieg, eine bessere Zukunft \"wissenschaftlich\" prognostiziert, wobei angeblich allein die nach der \"richtigen Theorie\" handelnde Partei die Gesellschaft zu diesem Ziel führen konnte.6. Die Geschlossenheit des ideologischen Systems, Unkenntnis (weil Verbot) jeder anderen außer der herrschenden Ideologie sowie die Überzeugungskraft der in der Ideologie formal enthaltenen marxistischen Thesen, machten die Ideologie zu einer Stütze des Regimes. Durch Indoktrination gelang es der Führung zeitweise, breitere Teile für das stalinistische System zu gewinnen. Somit hatte die Ideologie nicht nur den Widerspruch zwischen Praxis und scheinbar verbindlicher marxistischer Theorie zu verhüllen, sondern war auch Herrschaftsmechanismus der Diktatur. Doch zunehmend verlor der Marxismus-Leninismus als Ideologie seine Bedeutung, blieb oft nur noch Ritual, die Indoktrination zeigte kaum noch Wirkung.

Inhalt – JHK 1993

Copyright:

Eventuell enthaltenes Bildmaterial kann aus urheberrechtlichen Gründen in der Online-Ausgabe des JHK nicht angezeigt werden. Ob dieser Beitrag Bilder enthält, entnehmen Sie bitte dem PDF-Dokument.