JHK 2005

Geheimnisse in Auflösung: Mátyás Rákosi blickt zurück

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 288-296 | Aufbau Verlag

Autor/in: Endre Kiss

Der ungarische Kommunist Mátyás Rákosi (1892 bis 1971) hat einen außergewöhnlichen Lebensweg beschritten. Seine erst posthum, 1997 bzw. 2002 in Ungarn erschienen Erinnerungen (Visszaemlékezések)[1] stellen deshalb ein einmaliges autobiographisches Unternehmen dar. Der Parteiführer von 1940 bis 1956 reproduziert darin seinen Lebensweg mit einer außergewöhnlichen Offenheit und Länge auf mehr als 2 000 Seiten. In diesem Sinne ist das Werk selbst eine Singularität, denn abgesehen von der Möglichkeit, langfristige historische Prozesse in einem entsprechenden Umfang darstellen zu können, schaffen die Erinnerungen zugleich einen intellektuellen und seelischen Raum, in dem einer der führenden kommunistischen Politiker Europas sich gänzlich repräsentieren kann. Der Text spitzt die philosophischen Fragen im Zusammenhang mit der kommunistischen Machtergreifung zu und stellt eine außergewöhnliche historische Quelle dar. Es versteht sich, dass trotz der vielfältigen Qualitäten des Textes die blutigen politischen Taten Rákosis nicht zu rechtfertigen und historisch wie moralisch weiterhin zu verurteilen sind. 

Der Mensch und die Persönlichkeit Mátyás Rákosis sind freilich für die ungarische politische Öffentlichkeit ein viel näheres und unterschwellig immer noch vitales Thema als es der »Stalin Ungarns«[2] dies in Bezug auf die internationale politische Öffentlichkeit sein kann. Dennoch: eine so umfangreiche Selbstbiographie eröffnet einen kaum hoch genug zu bewertenden Einblick in das historische Wirken einer Person, die als Komintern-Sekretär (1921 bis 1925) und als Mitinitiator der Parteisäuberungen in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg weit über den nationalen Rahmen bedeutsam war. Zwei Dinge gilt es dabei im Auge zu behalten: Erstens bedienten sich kommunistische Diktaturen in der Stalin-Zeit des Führerkults nicht nur in vermittelten, sondern auch und vor allem durch die permanente Mobilisierung der ganzen Gesellschaft in sehr direkten psychologischen und soziologischen Formen, so dass die Führerpersönlichkeit (und das Erinnern an sie) stets einen sehr vielschichtigen und holistischen Komplex darstellte. Überliefert ist der Ausspruch Ernö Gerös: »Wenn wir Rákosi sagen, meinen wir das Volk.«[3] Gerö, in vielen Funktionen stets des zweite Mann in Partei und Staat, bezeichnete Rákosi zudem auch mehrfach als »natürlichen Führer«. Allerdings wehrt sich Rákosi in den Erinnerungen ausdrücklich dagegen, es habe um ihn einen Personenkult gegeben. Tatsächlich war Rákosi Gegenstand von Witzen und Karikaturen, und er war verhasst in der Bevölkerung; aber er war kein banaler Diktator. Große Teile der Bevölkerung brachten ihm Respekt entgegen und in der ersten Phase der Kádár-Ära (1956 bis 1961) erinnerte man sich seiner Zeit sogar mit einer gewissen Sympathie, da sich die Regierung unter seiner Führung um das Volk »gekümmert hätte«. Momente dieser Nostalgie sind sicherlich schon aufgrund der veränderten psychologischen Struktur der gesamten Kádár-Ära (1956 bis 1988) zu verstehen. Eine ausführliche und exakte Analyse dieser Phänomene steht allerdings bis heute aus. 

Zweitens beschäftigt Rákosis Psychologie als lokale Konkretisierung des Führerproblems im linken Totalitarismus die ungarische Gesellschaft bis heute in einem hohe Maße. Leider wird dieser Faktor in der heutigen Auseinandersetzung mit den linkstotalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts gänzlich vernachlässigt (in spektakulären Gegensatz zum Nationalsozialismus).

Die beiden Doppelbände der Erinnerungen wurden vom Napvilág-Verlag in Budapest herausgegeben, der eng mit dem Institut für Geschichte der Politik, dem Nachfolgeinstitut des einstigen Institutes für Parteigeschichte, verbunden ist. Der erste Doppelband von 1997 umfasste Rákosis späteren Lebensabschnitt von 1940 bis 1956, während der 2002 herausgegebenen Doppelband (1892 bis 1925) die Jugend und die erste große politische Periode bis zur Gefängniszeit enthalten. Darüber hinaus sind übrigens keine weiteren Erinnerungsaufzeichnungen entstanden. Rákosi hat die Erinnerungen nach seiner Flucht vor der der Ungarischen Revolution Ende Oktober 1956 in der sowjetischen Emigration (1956 bis 1971) niedergeschrieben, wo er größtenteils nur unter sehr schlechten Bedingungen arbeiten konnte. Die zumeist hohe Qualität des Textes ist unter solchem Aspekt zu herauszustreichen. Die Erinnerungen wurden von den Zeithistorikern István Feitl, Mária Lázár Gellériné und Levente Sipos herausgegeben, die im Umkreis des Instituts für Geschichte der Politik agieren. Sie haben für jeden der Doppelbände ein inhalts- und informationsreiches Vorwort geschrieben.

Rákosis Leben umfasst zahlreiche Perioden, deren Beschreibungen in den Erinnerungen – alle aus anderen Gründen – herausragende Texte der historischen Erinnerung sind. So erkennen wir die Kindheit eines der vielen Kinder eines ländlichen Weizenkaufmanns jüdischer Herkunft in der Blüte der – generell gesehen – erfolgreich verlaufenden jüdischen Emanzipation in Ungarn, seinen Gymnasialunterricht in der kulturell sehr wichtigen Stadt Szeged, seine Studien an der der so genannten Orientalischen Akademie in Budapest (1910 bis 1912), einer damals aufgebauten Hochschule für Handel und Kommunikation mit dem Orient. Daher sprach Rákosi sechs Sprachen, außer Ungarisch Türkisch, Deutsch, Englisch, Italienisch sowie später auch Russisch. Rákosi war als Student Mitglied des Galilei-Kreises, einer Gruppe junger radikaler Studenten, die 1918 zum Teil in der neu gegründeten kommunistischen Partei aufging.

Diese Jahre fielen, wie gesagt, zusammen mit einer glänzenden Blüteperiode der ungarischen kulturellen und politischen Modernisierung. Es war gerade Rákosis Generation, die die erste Massenbasis für zuvor vornehmlich von intellektuellen Protagonisten vorbereitete Modernisierungsprozesse lieferte. Der junge Rákosi kannte sich nicht nur in jeder Sektion dieser Modernisierungsvorgänge aus, seine Beschreibungen zu den einzelnen intellektuellen und politischen Richtungen dürfen zudem als historische »Quellen« und als professionelle historische Darstellungen gelesen und aufgefasst werden. Vollkommen überraschend ist, dass ein Historiker, insbesondere ein Ideenhistoriker, schnell zu dem Schluss kommt, dass man mit Rákosis Urteilen über die intellektuelle und politische Geschichte Ungarns vor dem Ersten Weltkrieg in großen Teilen nur einverstanden sein kann. Dies erklärt sich vor allem dadurch, dass er als Schüler, Student und Jungpolitiker mit einer erstaunlichen Anzahl der Protagonisten dieser politischen Kultur und dieser kulturell motivierten Politik in persönliche Berührung kam. 

Das nächste Kapitel der Autobiographie widmet sich der Beschreibung der ersten Auslandsreisen Rákosis, die er als direkte Fortsetzung der Studien an der Orientalischen Akademie in den Jahren 1913/14 absolvierte. Die Akademie gewährte diese Möglichkeiten, verbunden mit der Pflicht, Praktikantentätigkeit in den besuchten Ländern auszuüben. So verbrachte Rákosi längere Zeit in Hamburg und London und kam dort erstmals in Verbindung mit verschiedenen Organisationen einheimischer wie ausländischer Arbeiter. Für Rákosi ermöglichte diese Zeit einen Einblick in die soziale und politische Realität, die er auf einem Niveau beschreibt, das sich erneut an der Grenze zwischen exzellenter historischen Quelle und authentischer Analyse bewegt. Als schockierend (und seinen späteren Entwicklungsgang bestimmend) erweist sich das Erlebnis eines Straßenkampfes, bei dem englische Polizisten einen Protest von Frauenrechtlerinnen mit einer Brutalität niederwarfen, die Rákosi noch am Ende seiner politischen Laufbahn mit Schrecken erfüllt. Immerhin hatte Rákosi während seiner 15-jährigen Haft physische Gewalt erlitten und als Autor des Drehbuchs für den Schauprozess gegen Lászlo Rajk 1949 sowie weiterer stalinistischer Prozesse auch selber ausgeübt. Er nennt hier zahlreiche konkrete »ganz schreckliche Fälle« der Behandlung der Suffragetten durch die Polizei, die er – wie im Falle von Zwangsernährung der Hungerstreikenden – als »sadistisch« bezeichnet (Bd. I/1, S. 171–173). Es ist jedenfalls ungewöhnlich, dass ein späterer Generalssekretär (1945 bis 1956) einer regierenden stalinistischen Partei so viele primäre, persönliche Erfahrungen im Westen vor dem Ersten Weltkrieg gemacht hat. RákosisSelbstsicherheit bei der Beurteilung der internationalen Politik gründet sich auf diese Erfahrungen

Nach dem Sarajevo-Attentat vom 28. Juni 1914 kehrte Rákosi aus England nach Ungarn zurück, um im Fall des von ihm erwarteten Krieges zuhause zu sein und für die Einberufung zur Verfügung zu stehen. Auch in der Armee sammelte er eine erstaunliche Menge militärischer Fachkenntnisse. Hervorzuheben ist auch, dass er allein wegen seines geringen Gewichts das Recht gehabt hätte, sich vom Frontdienst befreien zu lassen. Die Autobiographie beschreibt spannungsreich das erste Kriegsjahr sowie die Jahre der russischen Kriegsgefangenschaft ab Ende 1914. Noch wichtiger ist aber die souveräne Darstellung der Prozesse in den Kriegsgefangenenlagern sowie der persönlichen Schicksale, mithin des langen Überganges vom Krieg in die Revolution 1918/19 in Ungarn. Diese Entwicklung katapultierte Rákosi unter die führenden Politiker der Partei der Kommunisten Ungarns (Magyarországi Kommunisták Pártja, MKP).[4] In der Ungarischen Räterepublik von Béla Kun hatte er das Amt des Volkskommissars für Handel inne.

Rákosi beschreibt Moskau und Budapest in den Jahren 1918/19 und gibt eine sehr interessante, und keineswegs konventionelle Darstellung der 133 Tage der ungarischen Kommune vom 21. März bis zum 1. August 1919. Hierbei kommen die wichtigsten Eigenschaften der ersten Periode seiner politischen Weltanschauung und Persönlichkeit klar zur Geltung. 

Der junge Rákosi war einerseits Produkt eines rapid modernisierenden, intellektuell offenen und kreativen Landes, andererseits aber auch das der eigenen Gestaltung seiner Persönlichkeit. Seine geistige Aufnahmefähigkeit war außerordentlich. Er konnte seine Erfahrungen und Wissen nicht nur gut strukturieren, sondern stets praktisch sehen und umsetzen. Es scheint ein Zufall zu sein, dass er anstatt an der Universität Chemie zu studieren am Ende die Orientalische Akademie wählte. (Die in den Erinnerungen angeführten Gründe sind fast ausschließlich rein praktischer Natur). Diese Entscheidung war aber im Sinne der Natur seiner intellektuellen Fähigkeiten durchaus adäquat. Er vermochte großes Wissen zu organisieren und anzuwenden, die Beschaffenheit von all dem lag aber nicht auf dem Feld des intellektuellen Wissens, sondern in einer merkwürdigen Integrationsfähigkeit von Intellektualität und praktischem, gesundem Menschenverstand. Diese Fähigkeit war ihm Glück und Verhängnis zugleich. Glück – aufgrund der Zeugnisse der Erinnerungen – vor allem deshalb, weil er nicht rein durch seine Intellektualität, sondern auch durch sein praktisches Können für seine Umgebung unersetzlich wurde. Man kann dieses Wissen als revolutionäre Allwissenheit beschreiben, etwa wie man eine Armee kommandiert oder eine Fabrik aufbaut. Diese Eigenschaft rettete er ihn höchstwahrscheinlich vor der Notwendigkeit, seinen kleinen Wuchs und seine nicht glückliche äußere Erscheinung durch die Kompensationsleistung einer gekränkten Seele auszugleichen.

Dies ist übrigens eine bis jetzt vertretene Ansicht in Ungarn: Man nimmt in Ungarn ohne größeres Bedenken an, dass seine diktatorischen Züge, vor allem der ganz ausnehmend blutige Charakter der ungarischen Schauprozesse die Folge einer seelischen Kompensationsleistung war. Nach der Lektüre der Erinnerungen entsteht nun das Bild, dass die sichtbaren Spuren dieses angenommenen Kompensationsmechanismus so gut wie kaum aufzufinden sind; es erscheint ein Rákosi mit gesunder Seele, die man also nur der langjährigen und ständigen Anerkennung seitens seiner Umgebung zuschreiben kann. Zum Verhängnis wurde ihm seine intellektuelle und praktischen Fähigkeiten dadurch, dass er sich schon aus diesem Grunde oft für allwissend hielt; wissenssoziologisch könnte man sagen, die sich vielfach bewährenden empirischen Zusammenhänge verfestigten sich in ihm und führten zu einer Verblendung allwissender Art. Gerade dieser Komplex hinderte ihn aber auch daran, die wachsende Bedeutung des politisch nicht zu qualifizierenden intellektuellen und akademischen Wissens zu erkennen. 

Kaum weniger aufschlussreich erscheint in den Erinnerungen das tatsächliche politische Weltbild des jungen Rákosi, eine Vision über das Politische und das Welthistorische, die bis 1925 (d. h. zum Zeitpunkt seiner Gefangenschaft in Ungarn) im Wesentlichen unverändert geblieben sein dürfte. Sein Kommunismus gründete vor allem auf einem luziden Lenin-Bild. Tief im Strome des Übergangsprozesses stehend, erschien Rákosi die Machtergreifung des Jahres 1917 kein Problem; die Beschaffenheit der neuen Ordnung versinnbildlichte sich in der Gestalt Lenins, die den historischen Prozess mit einer Allwissenheit regulierte und seine Positionen mit einer geduldigen Art der direkten Meinungsbildung und der unmittelbaren Demokratie durchsetzte. Kein Zweifel, dieser Lenin war das unmittelbare Vorbild Rákosis, dessen Politik für ihn – laut den Erinnerungen – ein ganzheitliches ganzes politisches Modell für eine politisch-philosophisch nur sehr schwer zu definierende Situation abgab. Angesichts seiner politischen Laufbahn ist diese Einsicht nicht ohne philosophisch-moralische Konsequenzen. Rákosi hat nämlich nicht nur erkannt und beschrieben wie Lenin funktionierte, er besaß durchaus auch das Potential, eine Leninsche Politik zu gestalten. Im Spiegel dieser Tatsache ist sein klassischer Stalinismus nach 1945 mehr als nur eine alte, wohl bekannte Tatsache, sondern auch Quelle möglicher Fragestellungen für die Zukunft.

In den ebenfalls historisch sehr wertvollen Beschreibungen seiner Tätigkeit nach der Niederlage der ungarischen Kommune bei der Komintern (vom Herbst 1920 bis 1925) versucht er, diesem Lenin-Modell zu folgen. Er arbeitet unter dem Komintern-Vorsitzenden Grigorij Zinov’jev als Sekretär der Komintern u. a. mit der Verantwortung für die südwesteuropäischen linken Bewegungen, insbesondere Italien (teilweise auch Deutschland), drängt aber zugleich darauf, illegal nach Ungarn zurückkehren zu können, um dort die politische Organisationsarbeit aufzunehmen. Neben der Geschichte der Emigration, scheint sich hier die Frage zu stellen, ob Rákosis, in den Erinnerungen getroffenen Einschätzungen zum nachrevolutionären Ungarn richtig waren, was auch hieße, das unser heutiges Bild über die Konsolidierung des Horthy-Regimes in Ungarn (1920 bis 1944) einer Überprüfung bedürfte. Während Rákosi allgemein gegen Attitüden des linken Sektierertums in Europa zu Felde zieht, beurteilt er die ungarische Situation im Anfang der 20er Jahre als eine, in der eine ernsthafte politische Organisationsarbeit möglich wäre. Eine dieser Heimreisen führte dazu, dass Rákosi 1925 verhaftet wurde. Damit nahm die 15-jährige Gefangenschaft ihren Anfang, die Rákosi für lange Jahre aus dem politischen Leben ausschloss, ihn aber 1940 als Kommunist von Weltruf in die Sowjetunion entließ. Zahlreiche kommunistische Kampagnen hatten Rákosi zu einer Propagandafigur werden lassen. So trug z. B. das ungarische Freiwilligenbataillon im Spanischen Bürgerkrieg seinen Namen.

Nicht so sehr, wie viele glaubten, die psychologischen Konsequenzen dieser Gefangenschaft erwiesen sich nach den Erinnerungen als schicksalhaft für den späteren Diktator. Dass es solche psychologischen Konsequenzen gab, darf ohne weiteres angenommen werden, die Texte in den Erinnerungenergeben jedoch wenig fassbare Ergebnisse. Die tatsächliche, nachhaltige politische Wirkung dieser Gefangenschaft ist Rákosis tiefe Überzeugung, dass die politische Polizei aus jedem Geständnisse herauspressen kann und niemand der physischen und psychischen Brutalität tatsächlich Widerstand entgegenzusetzen vermag. Diese Wirkung äußert sich vor allem logistisch. Nicht nur jener Rákosi, der die politischen Drehbücher der Schauprozesse schrieb, sondern auch jener, der in der sowjetischen Emigration (ab 1956) an den Erinnerungen arbeitet, kann nicht glauben, dass jemand, der – und sei es nur für kurze Zeit – von der politischen Polizei gefangen genommen war, kein Spitzel wurde. Das Bild der Erinnerungensuggeriert uns diese Konsequenz am folgenreichsten. Die Grenze zwischen erdachter und wirklicher Schuld (und Sühne) wurde bei der Berührung mit der politischen Polizei zunichte. Der spezifisch stalinistische Charakter der Schauprozesse nahm sich in Rákosis Gefangenenpsychologie vorweg. Durch diese 15jährige Gefangenschaft gewann die bis dahin mehrfach exzeptionelle politische Laufbahn noch zusätzliche Ausnahmeeigenschaften. Er war im Gefängnis, als sich der Übergang in die reife Form des Stalinismus vollzog. Dass er anfangs, nach 1940, selber Orientierungsschwierigkeiten hatte, beweist sein Einsatz für von Stalin verfolgte ungarische Kommunisten, die zu Drohungen gegen seine Person führten, was ihn schockierte.

Der Prozess der Transformation des spezifisch personengebundenen Leninismus Rákosis in seinen Stalinismus sollte für ihn nicht aufgehen (und das wird es auch in Zukunft für die Forschung nicht). Die gewaltige kognitive Differenz im Umfeld des Zweiten Weltkriegs und der auf der Tagesordnung stehenden Einrichtung einer zumindest hegemonialen kommunistischen Macht in Ungarn dürfte aufgrund der Erinnerungen nicht ganz verbalisiert und auf dieser Weise korrekt rekonstruiert werden können. Das heißt aber nicht, dass die weitere Forschung darüber nicht noch intensiv interdisziplinär nachzudenken hätte. Die Erinnerungen ermöglichen kaum einen nennenswerten Einblick in diesen Transformationsprozess, umso weniger, als der spätere Autor in der Sowjetunion an den Ereignissen aus der Hochzeit der Diktatur nichts auszusetzen hat. An dieser Stelle wird der Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Doppelband der Erinnerungen sehr sichtbar. Die Periode nach 1945 sah Rákosi vor allem aus apologetischem Blickwinkel. (Er kehrt am 30. Dezember 1944 nach Ungarn zurück und übernahm Anfang 1945 nach der faktischen Neugründung der MKP in Ungarn das Amt des Generalsekretärs.) Einerseits signalisiert er, dass er seine historische Mission zu dieser Zeit adäquat wahrgenommen hat (was für eine später zu ergänzende Interpretation so viel bedeuten würde, dass er eine Kontinuität zwischen seinem frühen Leninismus und dem hohen Stalinismus feststellen konnte). Sein Beharren auf einer positiven Interpretation seiner Laufbahn ist auch deshalb zu betonen, weil er in seiner Emigration in der schon post-stalinistischen Sowjetunion gewiss die Möglichkeit gehabt hätte, die Verantwortung für die extremsten Schauprozesse[5] auf diese oder jene Weise Stalin selbst zuzuschieben. In diesem Zuge geht er sogar so weit, selbst die aggressive Verfolgung und Kriminalisierung der Kirche schon in der so genannten Koalitionszeit (also vor der eigentlichen Machtübernahme der Kommunistischen Partei 1949) eingehend darzustellen. Ferner gruppiert er die Ereignisse nach 1945 nach einer Logik der Selbstverteidigung. Er zitiert oft aus eigenen Reden, in denen er nachweist, dass er all das, was später als Fehler seiner Regierungszeit angelastet wurde, bereits gesehen und gerügt hatte. Dabei verwehrt er sich erneut gegen die Anklage des so genannten »Personenkultes«, der zum Charakteristikum jener Periode in Ungarn geworden ist. Welche Rolle hier seine politische Wahrnehmung und welche seine Selbstverteidigungsabsicht gespielt haben mochte, lässt sich gegenwärtig nur schwer entscheiden.

Dadurch entsteht allerdings keine Notwendigkeit, die so genannte Rákosi-Ära in Ungarn (1945/49 bis 1956) nach der Lektüre der Erinnerungenanders zu bewerten als man es bislang tat. Rákosi selbst betrachtet diese Periode als eine Zeit als alle Worte und Begriffe semantisch ganz genau das ausdrückten, was sie bedeuteten. Dadurch kommt er in Gegensatz zu der Orwellschen Beschreibung der stalinistischen Semantik (»der Freund ist der Feind«); seine affirmative Begrifflichkeit schafft weitere Forschungsräume für die Zukunft.

Die insgesamt vier Bände der Erinnerungen ergeben Informationen, Spuren, Hinweise auf zahlreiche Fragen, die diesen Lebenslauf und damit das 20. Jahrhundert auszeichnen. Die Darstellung jeder Periode (auch jener, auf die wir in diesem Beitrag nicht eingehen konnten) steht an der Grenze der besonders wertvollen Quelle und der eigenen wertvollen Interpretation. Das Material führt auch näher an viele Geheimnisse heran, die mit RákosisPerson  und der ungarischen Volksdemokratie verbunden sind. 

Ein Geheimnis scheinen die Erinnerungen also zu lüften: Rákosi war kein psychotischer Fall, seine Psychologie (wie alle Psychologie im Stalinismus) ging restlos auf im von der Partei verkörperten richtigen Bewusstsein, in der Selbstidentifizierung mit dem von der Politik der Partei repräsentierten welthistorischen Optimum auf. Damit hängt zusammen, dass auch die von vielen vertretene Vermutung, Rákosi hätte das System der Schauprozesse in Ungarn deshalb so exzessiv eingerichtet, weil er persönlich vor Stalin eine übermäßige Angst gehabt hatte, um einiges relativiert werden kann.

Das zweite Geheimnis bleibt noch ungelüftet. Rákosi identifizierte sich auch mit dem Stalinismus und war einer der komplexesten Protagonisten stalinistischer Herrschaft überhaupt. Diese Identifizierung ging aber nur so vor sich, dass er den Stalinismus durch das Bewusstsein bzw. die Vorstellung seines Lenin-Bildes verwirklichte: Er wurde der allwissende Führer und er kommunizierte mit dem enthusiasmierten Volk. Diese Vorstellung war aber nur auf Kosten eines extrem vereinfachten und zur Lüge gewordenen Geschichts- und Gesellschaftsbildes möglich. Wie Rákosis tatsächliche, nichtsdestoweniger nicht intellektuell ausgerichtete Allwissenheit mit diesen Schematismen fertig wurde, ist trotz der Erinnerungenweiterhin unklar.

Rákosi wurde 1962 aus der MSZMP ausgeschlossen und starb 1971 in Gor’kij (heute wieder Nižnij Novgorod). Sein Leichnam wurde noch im selben Jahr nach Ungarn überführt.



[1] Rákosi, Mátyás: Visszaemlékezések 1940–1956 [Erinnerungen 1940–1956]. Hrsg. von István

Feitl, Mária Lázár Gellériné u. Levente Sipos. 2 Bde., Budapest 1997; Ders.: Visszaemlékezések 1892–1925 [Erinnerungen 1892–1925]. Hrsg. von István Feitl, Mária LázárGellériné u. Levente Sipos. 2 Bde., Budapest 2002.

 

[2]  Hodos, Georg Hermann: Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948–54, Berlin 1990, S. 70.

[3]  Gerö, Ernö: Harcban a szocialista népgazdaságért [Im Kampf für die sozialistische Volkswirtschaft], Budapest 1950, S. 82 hier zitiert nach Kernig, C. D.: Die kommunistischen Parteien der Welt (= Sonderband von Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft), Freiburg/Basel/Wien 1969, S. 519.

[4]  Die eigentliche Gründung fand unter Béla Kun am 4. November 1918 in Moskau statt. Der Gründungsparteitag in Ungarn wurde vom 20. bis 24. November 1918 abgehalten. Die Partei wurde im Laufe der Jahre mehrfach umbenannt. Nach der Machtübernahme in Budapest am 21. März 1919 und dem Zusammenschluss mit der Sozialdemokratischen Partei Ungarns nannte sie sich Sozialistisch-Kommunistische Arbeiterpartei Ungarns. Nach dem Ende der Kommune und der Wiedergründung der Sozialdemokratie gründete die MKP 1925 als legale Frontorganisation die Sozialistische Arbeiterpartei Ungarns (MSZMP), die wegen Misserfolgs 1928 aufgelöst wurde. Die MKP verfügte nach 1919 nur über wenige Hundert Mitglieder. 1936 suspendierte die Komintern die MKP-Führung und setzte ein neues ZK ein, dem Béla Kun nicht mehr angehörte. Wahrscheinlich 1938 oder 1939 wurde der MKP-Gründer auf Befehl Stalins ermordet.

Nach seinem Freikauf aus der Gefangenschaft durch die Sowjetunion 1940 übernahm Rákosi von Moskau aus die Führung der Partei. Nach der Zwangsvereinigung von MKP und Sozialdemokratie am 13./14. Juni 1948 erhielt die Partei den Namen Vereinigte Ungarische Arbeiter Partei (Magyar Dolgozók Pártja, MDP). Rákosi blieb auch in der neuen Partei Generalsekretär. Auf dem Gipfel seiner Macht übernahm er 1952 auch das Amt des Ministerpräsidenten, das er jedoch nach Stalins Tod im Juni 1953 aufgrund eines ZK-Beschlusses an Imre Nagy abtreten musste. 1955/56 erneut Ministerpräsident wurde Rákosi am 18. Juli 1956 aufgrund der Intervention des KPdSU-Politbüromitglieds Anastas Mikojan in Budapest seiner Ämter als Ministerpräsident und MDP-Generalsekretär enthoben. János Kádár nahm am 1. November 1956 unter expliziter Absage an die Politik Rákosis die Neugründung der Kommunisten als Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (Magyar Szocialista Munkáspárt, MSZMP) vor. Diesen Namen trug die Partei bis 1989.

[5]  Schauprozess gegen Kardinal Jószef Mindszenty 1949, Prozess gegen László Rajk wegen »Titoismus«, der 1949 mit dem Tod durch den Strang endete, Schauprozess gegen Erzbischof Jószef Grösz 1951, Prozess gegen die MKP-Spitzenfunktionäre János Kádár und Gyula Kállai 1951 (Gefängnisstrafen) und viele weitere mehr. Es ist jedoch die Ironie, dass der lange und intensiv vorbereitete Schauprozess gegen die Partei der Kleinen Landwirte (die große politische Konkurrenzpartei der Kommunisten) sich letztlich nicht verwirklichen ließ, nicht zuletzt aus dem Grunde, weil sich der Generalsekretär der Partei Ferenc Nagy als amtierender Ministerpräsident (1946/47) ins Ausland absetzte.

Inhalt – JHK 2005

Copyright:

Eventuell enthaltenes Bildmaterial kann aus urheberrechtlichen Gründen in der Online-Ausgabe des JHK nicht angezeigt werden. Ob dieser Beitrag Bilder enthält, entnehmen Sie bitte dem PDF-Dokument.