JHK 2007

Der Widerstand der Trotzkisten im Gulag 1936 bis 1938: Der Hungerstreik und das Massaker in Vorkuta

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 117-136 | Aufbau Verlag

Autor/in: Jean-Jacques Marie

Der folgende Aufsatz beschreibt den organisierten kollektiven Widerstand der Trotzkisten im Gulag und das folgende Massaker an ihnen. Mit ihrem Tod wurden mehrere Generationen linker Oppositioneller in der Sowjetunion ausgelöscht, die mehrere tausend Menschen umfassten. Über die Hungerstreiks 1936/37, die bedeutendsten Gulag-Aufstände vor 1945, ist in Deutschland wenig bekannt. Der Autor schildert hier erstmals zusammenhängend die Ereignisse im Lager Vorkuta. Der andere große Hungerstreik der Trotzkisten im Lager Magadan im Fernen Osten soll demnächst in einem weiteren Aufsatz dargestellt werden.

Sol’ženicyn notiert in Der Archipel Gulag: »Ich schreibe für das sprachlose Russland und will darum wenig über die Trotzkisten sagen: Sie waren allesamt schreibgewandt, und es werden jene, die zu überleben vermochten, gewiss schon ausführliche Memoiren vorbereitet haben, in denen sie ihre dramatische Epopöe vollständiger und genauer beschreiben, als ich es zustande brächte.«[1]

Hier tritt bei Sol’ženicyn stärker der politische Polemiker hervor, und nicht der Historiker, der er zu sein vorgibt. Er wusste sehr wohl, dass die Trotzkisten in den Jahren 1937/38 systematisch vernichtet wurden und nur eine Handvoll überlebte, zudem waren von diesen Überlebenden nur wenige in der Lage, Memoiren zu verfassen. Daher findet man unter den Hunderten von Erinnerungen über die Lager Stalins nur äußerst selten welche, die aus der Hand von Trotzkisten stammen. Sol’ženicyn wusste ebenfalls, dass die Lagerinsassen, deren Akte den Vermerk KRTD (konterrevolutionäre trotzkistische Aktivität) trug, in den meisten Fällen kaum Aussicht darauf hatten, das Lager lebend zu verlassen, ob sie nun Trotzkisten waren oder nicht. Davon zeugen die Erinnerungen vieler, die durch Stalinschen Lager gegangen sind. Jevgenija Ginzburg etwa nennt die wegen KRTD-Verurteilten die »Parias der Lager«.

Solženicyn, der vorgab, eine Enzyklopädie des stalinistischen Terrors schaffen zu wollen, hielt es dennoch für notwendig, »zur Abrundung des Bildes« einige Tatsachen über die Trotzkisten zu berichten. Doch nirgendwo sonst widersprach sich der Schriftsteller häufiger als auf den wenigen Seiten, die er ihnen widmete. Er merkte zwar an, dass sie »jedenfalls mutige Menschen« waren, um dieser indiskutablen Feststellung sogleich die traditionelle »Umkehrprognose« der Antikommunisten hinzuzufügen: »Ich fürchte allerdings, dass sie uns, mal an die Macht gelangt, einen nicht geringeren Wahnwitz beschert hätten als Stalin.«[2] Das ist eine vollkommen willkürliche politische Prognose, die er ohne nachvollziehbaren Zusammenhang mit der Beschreibung des Gulag trifft.

Sol’ženicyn glaubte jedoch, seinem kategorischen und vorschnellen Urteil sogar noch Spott hinzufügen zu müssen. Nachdem er beschrieben hatte, wie sich die Trotzkisten gegenseitig unterstützten und gegen die Wachleute organisierten, fuhr er fort: »Man gewinnt den Eindruck (doch ich bestehe nicht darauf), daß ihrem politischen ›Kampf‹ unter den Lagerbedingungen eine übermäßige Geschäftigkeit anhaftete, wodurch er einen Hauch von Tragikomik erhielt.« Vielleicht versuchte Sol’ženicyn die kollektive, von den Trotzkisten organisierte Protestbewegung lächerlich zu machen, weil er selbst im Gulag niemals an derartigen Aktionen beteiligt war. So lehnte es der Trotzkist Bajtalskij in Kolyma zwar ab, sich am Hungerstreik zu beteiligen, den seine Kameraden organisierten und gab ihnen im Kern zu verstehen, dass die Zeiten sich geändert hätten und sie massakriert werden würden. Es wäre ihm jedoch nicht eingefallen, sie lächerlich zu machen.

Der Schriftsteller Sol’ženicyn kommentierte später die Berichte auch spöttisch, die ihn über die Haltung der Trotzkisten in den Lagern erreichten. Mit den Trotzkisten selbst hatte Sol’ženicyn niemals Kontakt, denn Mitte der 40er Jahre waren bereits keine mehr übrig geblieben. Die große Mehrheit von ihnen wurde nach dem Ende des Hungerstreiks im eigens für sie bestimmten Spezialvollzug zu Tode gefoltert oder in den Lagern erschossen. Ohne also jemals persönlich an einer dieser Protestaktionen beteiligt gewesen zu sein – nach der Vernichtung der Trotzkisten fanden derartige kollektive Widerstandsaktionen erst wieder nach 1945 und besonders nach Stalins Tod statt – waren seine Berichte über den Widerstand der Trotzkisten mit bissigen Bemerkungen durchsetzt, wenn er die von ihnen angestimmten revolutionären Gesänge, die politischen, antistalinistischen Losungen, die sie riefen oder die Fahnen beschrieb, die sie als Zeichen der Trauer zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution über den Baracken auf Halbmast setzten. Sol’ženicyn empfand größere Sympathie für seinen Freund Dmitrij Panin, den Autor der Aufzeichnungen aus Sologdin[3], der lebhaft bedauerte, dass Hitler nicht den Krieg gewonnen und so die Völker der Sowjetunion »befreit« habe. Für Sol’ženicyn war die Treue der deportierten Trotzkisten zum Bolschewismus nur »komisch« und »subversiv«. Dennoch konnte er nicht umhin, seinem ironischen Bericht die Feststellung hinzuzufügen: »O doch, es hat echte Politische gegeben.«[4] Und in der Tat gab es viele. Und opferbereite.

Das glühende Eisen des Buchstaben »T« und die Quellen 

In Geschichten aus Kolyma ging Varlam Šalamov ausführlich auf das Schicksal der KRTD-Häftlinge ein, die »in allen Lagern von den Wächtern gejagt wurden: Nicht ein einziger Vorgesetzter hätte Anzeichen von Schwäche zeigen wollen, wenn es darum ging, diese ›Volksfeinde‹ zu vernichten«.[5] Ihm zufolge enthielten die Dossiers der KRTD-Gefangenen spezielle Anweisungen: »sie während der Inhaftierung telegraphischer und postalischer Verbindungen zu berauben, sie nur für körperlich schwere Tätigkeiten heranzuziehen, [über sie] einen Bericht pro Monat zu erstellen.« Diese speziellen Anweisungen, unterstrich Šalamov, »waren ein Tötungsbefehl, ein Befehl, sie nicht lebend herauskommen zu lassen. Alle ›Sonderhäftlinge‹ wussten, dass dieses dünne Stück Papier den zuständigen Stellen – von der Transportmannschaft bis zum Lagerdirektor – auferlegte, sie zu überwachen, zu denunzieren und Initiativen zu ergreifen, und dass jeder, auch der kleinste Untergebene, einen Beitrag zu ihrer Vernichtung leisten musste, um nicht selbst von den eigenen Genossen denunziert zu werden.«[6]

Einer der Protagonisten bei Šalamov, der Oppositionelle Krist, gibt eine Vorstellung von dem, was er als »die fatale Brandmarkung KRTD« bezeichnete: »Der Buchstabe ›T‹ war eine Markierung wie von glühendem Eisen, die Krist jahrelanger Verfolgung preisgab. […] Das Strafgesetzbuch enthielt keinen anderen Artikel, der für den Staat ein größere Gefährdung darstellte, als den unter dem Buchstaben ›T‹  zusammengefassten. Noch nicht einmal Landesverrat, Terrorismus und die ganze übrige Palette, die der Artikel 58 bereithielt. Krists aus vier Buchstaben bestehende Abkürzung war die Markierung für ein wildes Tier, das man zur Schlachtung befohlen hat.«[7] Krist hat betont, dass der Verurteilte, der wie durch ein Wunder bis zur Befreiung überlebt hat, die Brandmarkung des Buchstaben »T« in seiner Haftakte, auch in seinem Führungszeugnis behält und weiß, dass die vier Buchstaben KRTD ihm auch nach Verbüßung seiner Strafe alle Türen verschließen würden, was auch immer passiert, sein ganzes Leben lang, überall. Sie würden ihm nicht nur den Besitz eines Personalausweises verwehren, sondern auch, eine Arbeit zu finden.

Ein halbes Dutzend Dokumente gibt wichtige Auskünfte über den Hungerstreik der Trotzkisten in Vorkuta, den Sol’ženicyn kurz und relativ ungenau in Der Archipel Gulag schildert[8]

Ein mit »M. B.« unterzeichneter Artikel eines Überlebenden aus Vorkuta, der im November 1961 in der von Boris Nikolaevskij geleiteten Monatszeitschrift der russischen Exilmenschewiken Socijalističeckij Vestnik erschien, der mehrfach in französischer Sprache veröffentlicht und von Pierre Broué in seinem letzten zu seinen Lebzeiten erschienenen Werk Communistes contre Staline  ausführlich zitiert und verwendet wird;[9]


- Die Erinnerungen der Witwe Adol’f Ioffes, Marija Ioffe, seinerzeit in Vorkuta inhaftiert, wo sie im medizinischen Dienst eingesetzt war[10];

- Eine Reihe von Augenzeugenberichten ehemaliger Vorkuta-Häftlinge, die im Nikolaevskij-Fonds im Archiv der Hoover-Institution (Ordner 233, 237, 628) liegen, darunter insbesondere die Erinnerungen von Balašov und Rachalov:

- Dokumente über das Lager von Vorkuta, die 1991 im Sammelband Syktyvkar erschienen;

- Ein Kapitel im Buch des Ukrainers Kostiuk Les Années maudites, das in der Zeitschrift Quatrième Internationale (April/ Mai/ Juni 1981) veröffentlicht und ausgiebig von Pierre Broué in seinem Communiste contre Staline zitiert und verwendet wird;

- Die beschuldigenden (und deshalb mit Vorsicht zu behandelnde) Aussagen von Rudolf Abiks, einem Trotzkisten. Abiks hatte entweder kapituliert oder war ein Agent Stalins, der sich in die trotzkistischen Kreise eingeschleust hatte bzw. er war ein ehemaliger Trotzkist, der, nachdem er widerrufen hatte, zum Polizeispitzel wurde (wie der vom Trotzkisten Bajtalskij erwähnte Knjažistkij in Kolyma). Abiks war 1936 zu fünf Jahren Lager verurteilt worden[11];

- Der Bericht Joseph Bergers, des ehemaligen Sekretärs der KP Palästinas, der in der UdSSR zwischen 1937 und 1956 zwischen Lager und Gefängnis hin- und hergeschickt wurde, der in seinen Erinnerungen Le naufrage d’une génération veröffentlicht wurde.[12] Joseph Berger war selbst nicht nach Vorkuta deportiert worden. Er hat Überlebende dieses Lagers getroffen, die nicht am Hungerstreik der Trotzkisten teilgenommen hatten, aber dennoch seinen Verlauf verfolgen konnten, und gibt ihre Berichte wieder. Zudem hat er selbst mit einem Teilnehmer des Hungerstreiks eine Nacht in der gleichen LubjankaZelle verbracht. Dieser wurde vom NKVD aus Vorkuta nach Moskau überführt, um dort zum Tode verurteilt und erschossen zu werden: Es handelte sich dabei um Sergej Sedov, den ältesten Sohn Lev Trockijs. 

Der Ausgangspunkt und die Verbringung nach Vorkuta

 

Nach dem Mord an Kirov am 1. Dezember 1934 entfesselte Stalin eine brutale und massive Repression gegen die ehemaligen und neuen Oppositionellen, die seit Anfang der 30er Jahre in Erscheinung getreten waren, besonders gegen die »Trotzkisten«. Eine Welle von Deportationen brachte Hunderte von Trotzkisten in die Lager, selbst diejenigen, die sich zuvor aus Verzweiflung Stalin angeschlossen hatten, wobei einige von ihnen diese Entscheidung ab 1935 wieder revidierten. Außerdem wurden viele Trotzkisten, deren Überzeugung nicht gebrochen worden war, 1936 aus den Gefängnissen und Verbannungsorten zwecks neuer Untersuchungen nach Moskau zurückverbracht. Sie waren einer grausamem Folter ausgesetzt, die Anatolij Rybakov im Roman Jahre des Terrors geschildert hat. Doch keiner von ihnen willigte in die Aussagen ein, die man von ihnen verlangte, und daraufhin wurden sie Schauprozessen unterzogen. 

Von der ersten Etappe der »Großen Säuberung« an zeichnete sich trotz der Verleumdungskampagnen und heftigen Repressalien ab, dass eine neue Generation junger Trotzkisten entstanden war, die während oder nach der Revolution geboren worden war. Diese neue Generation von Oppositionellen stellte sich Stalin und der Bürokratie entgegen, und zugleich schlossen sich zahlreiche derjenigen, die sich einstmals wieder eingefügt hatten, ihnen von neuem an. Im Laufe des Jahres 1936 wurden schließlich alle Trotzkisten aus den Gefängnissen oder der Verbannung in Konzentrationslager überführt. Die stalinistische Altbolschewikin Z. N. Nemcova erinnert sich, dass sie auf dem Schiff, das die Gefangenen nach Vorkuta brachte, auf eine große Gruppe von Trotzkisten traf. Zwischen den Trotzkisten und den Stalinisten, die ein und dasselbe Schicksal teilten, kam es zu einer Auseinandersetzung, in der »wir sie als Faschisten beschimpften und sie uns gleichermaßen«.[13] Nemcova schätzt sich im Übrigen glücklich darüber, 1936 in die Rubrik KRD (konterrevolutionäre Aktivität) und nicht als KRTD (konterrevolutionäre, trotzkistische Aktivität) eingestuft worden zu sein. 

Der von den Trotzkisten im Lager Vorkuta im russischen Norden begonnene Hungerstreik ist einer der Höhepunkte des trotzkistischen Widerstandskampfes in den Lagern. Er dauerte bis Ende 1937 und setzte 1938 in Magadan fort. Um ihren Kampf zu beenden, ließ Stalin sie alle umbringen.

Im Nikolaevskij-Fonds finden sich die Erinnerungen eines ehemaligen VorkutaHäftlings, es handelt sich um A. Rachalov. Von ihm stammen die Berichte darüber, wie alles begann. Vor 1936 befanden sich die Trotzkisten, die nicht kapituliert hatten, mehrheitlich in der Verbannung, wohin sie ihre Bibliotheken mitgenommen hatten. Ihre Kinder waren bei ihnen und gingen in die Schule, wo »es vorkam, dass sie ihre Lehrer vom Glück der sowjetischen Kinder unter der Sonne Stalins erzählen hörten und vom schwierigen, aber siegreichen Kampf des Führers gegen die Volksfeinde«, die ihre Eltern waren. Die als »aussätzig« gebrandmarkten Eltern hatten bald genug von diesem hochdosiert ausgeschütteten Gift und nahmen ihre Kinder aus der Schule, um sich selbst um sie zu kümmern.[14]

Anfang des Jahres 1936 wurden die deportierten Trotzkisten mit ihren Familien in Waggons verfrachtet und nach Archangel’sk verbracht, von dort nach Vorkuta, jenseits des Polarkreises. Hier erfuhren sie, dass bei ihrer Verurteilung das Wort »Verbannung« systematisch durch »Lager« ersetzt wurde und sie daher aus dem Status »administrativ Deportierter« in den von Gefangenen gebracht wurden. Außerdem wurde ihre Strafe ohne jede Erklärung um fünf Jahre verlängert.

Der Transport, in dem sich neben Sergej Sedov, der ehemalige Sekretär Trockijs, Poznanskij, sowie Vassilij Kosior, ein ehemaliger Direktor der ölverarbeitenden Industrie, befanden, kam nur langsam voran. Ihre Nahrungsvorräte waren bald erschöpft und die Rationen des Geleitzuges reichten nicht, um sie zu ernähren. Rachalov zufolge baten nicht einmal die Kinder um ein zusätzliches Stück Brot. Sie verstanden, dass ihr Schicksal vollständig mit dem ihrer Eltern verbunden war.

Bei Rachalov heißt es schließlich, dass »die Stimmung der Ankömmlinge bei weitem nicht depressiv, sondern eher gefestigt, energisch und […]voller Hass war«. Zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in Vorkuta wurde gerade die Debatte um den Entwurf der »Stalinschen Verfassung« geführt. Die Trotzkisten unterzogen ihn einer vernichtenden Kritik. Einer von ihnen hatte es nach einer Radiosendung »seelenruhig folgendermaßen zusammengefasst: ›Es ist alles klar, Genossen, das ist keine Konstitution, sondern Prostitution.‹« Rachalov fügt hinzu: »Die Trotzkisten verfügten zweifellos über eine große Erfahrung des revolutionären Kampfes, dank derer sie Zusammenhalt, Freundschaft und Mut bewiesen und bei der Arbeit und im Kampf bestimmte Sicherheitsmaßnahmen befolgen konnten.«[15]

In seiner Aussage vom 12. September 1937 unterstrich Rudolf Abiks, der bei jeder Erwähnung des Wortes »trotzkistisch« die Bezeichnung »konterrevolutionär« hinzufügte: »Bis zur Ankunft der Transporte des Jahres 1936, die in der überwältigenden Mehrheit aus Gefangenen bestanden, die wegen trotzkistischer konterrevolutionärer Aktivitäten verurteilt waren, fanden Hungerstreiks nur in sehr seltenen Fällen statt.« Die massenhafte Deportierung von Trotzkisten ändert also die Lage in den Lagern, in die sie geschickt wurden, wobei Abiks sogleich erklärt, warum: »Nach Ankunft des Transports vom 9. August lassen sich plötzlich Anzeichen für die Vorbereitung eines kollektiven Hungerstreiks an allen Punkten und in allen Bereichen des Lagers von Vorkuta erkennen.« Die mit dem Konvoi Angekommenen stellten eine Reihe von Forderungen auf, »die Probleme der Unterkunft, der Arbeit und der Versorgung betreffen […]. Die Seki [Eigenbezeichnung der Häftlinge] des Transports verlangten eine Beschäftigung, die ihrer Qualifikation angemessen war, forderten die Zuteilung einer ›Politration‹ [Ration für die Politischen Gefangenen] sowie die Unterbringung in Baracken, die von den Baracken der aufgrund anderer Artikel des Strafgesetzbuches Verurteilten abgetrennt waren.«[16]

Abiks zählte dann die Liste der mit diesem Transport angekommenen Trotzkisten auf, die die Protestbewegung anführten: Donadze, Kraskin, Bergman, Gujrovskaja, Epštejn, Slitinskij, Zaslavskij, Echdziak, Sadjaja, Vulfovič, Štern, Kunina, Rutuzer und Cemach.

In den nachfolgenden Wochen trafen zwei weitere Transporte in Vorkuta ein. Sie bestärkten die Entschlossenheit ihrer bereits dort anwesenden Kameraden und stellten eine neue Welle von Führungskräften für den sich in Vorbereitung befindlichen Hungerstreik. Unter ihnen waren Aronov, Grunman, Bourlii, Dvinskij, Pliso, Topčaik, Popandopolo, Sandler, Polevoj, Polevjai, Genkina, Lobkovskij, Sutina, Sulko und Elisiev.

Vor ihrer Ankunft in Vorkuta hatte bereits eine Gruppe von Trotzkisten, die aus Archangel’sk gekommen war, einen Hungerstreik organisiert. Mitte und Ende der 30er Jahre bildeten die Trotzkisten in Vorkuta eine sehr zahlreiche und relativ vielschichtige Gruppe. Ein Teil von ihnen hatte die alte Bezeichnung »Bolschewiki/Leninisten« behalten. Ihre Anzahl im Bergwerk betrug ungefähr 500, im Lager Uchta-Pečora etwa 1 000 und im gesamten Pečora-Bezirk mehrere Tausend Personen. Unter dem Etikett »Trotzkisten« fasste das NKVD jedoch auch die Demokraten-Zentralisten (Dezisten), also die ehemaligen »Rechten« unter Führung von Aleksej Rykov und Nikolaj Bucharin sowie ehemalige Anhänger der Arbeiteropposition von Aleksandr Šljapnikov zusammen. M. B. zufolge »stellten die authentischen Trotzkisten den Löwenanteil der Gruppe […].« Es handelte sich um die Anhänger Lev Trockijs, die auch orthodoxe Trotzkisten genannt werden. Sie blieben ihrer Sache und ihren Anführern bis zum Ende treu. Bereits 1927, nach dem XV. Parteitag, waren sie aus der KP ausgeschlossen und verhaftet worden. Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft und politischen Anschauungen bildeten sie gegenüber dem NKVD und der Lagerverwaltung eine geschlossene, kohärente Gruppe. So hält M. B. fest: »Trotz der Divergenzen lebten alle diese Gruppen im Bergwerk recht freundschaftlich unter einem einzigen gemeinsamen Nenner zusammen: nämlich als »Trotzkisten«. Und er fügte hinzu: »Außer diesen authentischen Trotzkisten befanden sich in den Lagern von Vorkuta und anderswo mehr als 100 000 Internierte, die sich als Mitglieder der Partei oder des Jugendverbandes der trotzkistischen Opposition angeschlossen hatten und in unterschiedlichen Zeiträumen und aus verschiedenen Gründen – vor allem natürlich aufgrund von Repression, Arbeitslosigkeit, Verfolgung, dem Ausschluss aus Schulen und Fakultäten, usw. – gezwungen wurden, ›ihre Fehler zu bereuen‹ und sich von der Opposition loszusagen.«[17] Kurzum, diese linken Oppositionellen stellten als Gruppe für das Stalinsche Herrschaftssystem ein ernstzunehmendes Bedrohungspotential dar. 

Die orthodoxen Trotzkisten kamen während des Sommers 1936 im Bergwerk an. Sie richteten sich alle in zwei großen Baracken ein. Kategorisch verweigerten sie, in den Schächten zu arbeiten. Aus eigener Entscheidung und in organisierter Form führten sie nur Arbeiten über Tage aus, und das nur acht Stunden am Tag, und nicht zehn oder zwölf Stunden, wie es die Vorschriften forderten und die anderen Häftlinge ableisteten. Nach ihrer Ankunft im Lager begründeten sie als »oral journal« die mündliche Zeitschrift Die Pravda hinter Gittern sowie das unregelmäßig erscheinende satirische Blatt Weniger als ein Hund, die beide von Marija Ioffe erwähnt wurden.

Die politischen Leiter des Widerstands

Die meisten Oppositionellen waren bereits seit etwa zehn Jahren deportiert. Zu Beginn, Ende der 20er Jahre, wurden sie in so genannte »Polit-Isolatoren« (Bezeichnung für die vorläufigen Aufenthaltsorte) verbracht, dann wurden sie u. a. auf Solovkij-Insel im Weißen Meer verbannt, schließlich kamen sie nach Vorkuta am Polarkreis. Sie bildeten damals die einzige Gruppe Politischer Häftlinge, die offen die stalinistische »Generallinie« kritisierten und dem Wachpersonal organisierten Widerstand entgegenstellten. Ihre Anführer waren Sokrat Gevorkjan, Vladimir Ivanov, Melnais, Benjamin, Kosior und der ehemalige Sekretär Trockijs, Poznanskij. 

M. B. beschrieb sie wie folgt: »Gevorkjan war ein ruhiger, sehr ausgeglichener, vernünftiger und äußerst gutmütiger Mann. Er redete ohne Hast, wägte seine Worte ab und mied dabei jede Affektiertheit und jedes theatralische Pathos. Bis zu seiner Verhaftung arbeitete er als Wissenschaftler in der Russischen Vereinigung wissenschaftlicher Forschungszentren des geisteswissenschaftlichen Instituts. Er war Armenier und zu dieser Zeit etwa 40 Jahre alt. Sein jüngerer Bruder war mit ihm zusammen interniert. Melnais, ein Lette, war etwas jünger als Gevorkjan. Nach seiner Zeit als Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Jugend hatte er an der Fakultät für Physik und Mathematik der Moskauer Universität studiert, wo er von 1925 bis 1927 an der Spitze einer sehr einflussreichen Gruppe, die einige Hundert oppositionelle Studenten umfasste, stand. Ende 1927 wurde Melnais als einer der ersten Oppositionellen aus der Universität verhaftet. Seine Verhaftung löste eine Welle explosiver Empörung unter den Studenten aus […].

Vladimir Ivanov war ein stämmiger Mann mit einem rundem und vollen Gesicht eines Großhändlers, mit einem kräftigen Schnauzbart und intelligenten grauen Augen. Trotz seiner 50 Jahre spürte man in ihm einen starken Willen und die Kraft eines Bären. Als Altboschewik und Mitglied des Zentralkomitees leitete Ivanov bis zu seiner Verhaftung die Ostchinesische Eisenbahngesellschaft. Er war, wie seine Frau, der Gruppe der ›Demokratischen Zentralisten‹ (Dezisten) beigetreten.« (Für die Dezisten war die bürgerliche Degenerierung der stalinistischen Diktatur bereits am Ende der 1920er Jahre vollendet. Dennoch sprachen sie sich im Kriegsfall für die Verteidigung der UdSSR aus.)

Als der XV. Parteitag die Unvereinbarkeit der Zugehörigkeit zur Opposition mit der Kommunistischen Partei beschloss, verließ Ivanov die Opposition. Nach der Ermordung Kirovs 1934 wurde er verhaftet. Im Lager war er für die 60 Kilometer lange Schmalspureisenbahn verantwortlich, die das Bergwerk von Vorkuta mit dem Fluss Usa verband. Anfang des Jahres 1936 beschuldigte ihn das NKVD, diese kleine Bahnlinie zu sabotieren. Ein spezielles Richterkollegium des Obersten Gerichts der Republik Komi begab sich in das Lager. Nach einer nicht öffentlichen Verhandlung, bei der Ivanov die Aussage verweigerte, wurde er zum Tode verurteilt. Als präparierte Zeugen traten drei Ganoven auf. Allerdings wurde Ivanovs Strafe in zehn Jahre Lagerhaft umgewandelt.

»Vasilij Kosior war ein Mann mittleren Alters, von sehr kleinem Wuchs – fast ein Zwerg – mit einem großen Kopf […]. Sein Bruder Stanislav saß im Politbüro und war gleichzeitig Sekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine. Im Lager arbeitete Kosior im Heizwerk. In einer Schubkarre schaffte er die Kohle heran, die man für den Heizkessel brauchte. Seine erste Frau, eine Ukrainerin, von der er geschieden war, und seine zweite Frau, eine Russin, die er während der Deportierung geheiratet hatte, befanden sich ebenfalls im Lager […].

Poznanskij, ein schöner, gut gebauter Mann im Alter von 35 bis 38 Jahren mit dunkler Hautfarbe, war ein musikbegeisterter und passionierter Schachspieler.«[18]

August 1936: Der erste Moskauer Schauprozess als auslösendes Element.

Der erste Moskauer Schauprozess, der so genannte »Prozess der 16«, der am 19. August eröffnet und am 24. August mit dem Todesurteil gegen alle Angeklagten, darunter die alten bolschewistischen Führer Zinov’ev und Kamenev abgeschlossen wurde, verfestigte den Willen zum Streik. Die gesamte Gruppe der so genannten »orthodoxen« Trotzkisten, die sich im Bergwerk befanden, kam zu einer Versammlung zusammen. M. B. zufolge richtete sich Gevorkjan, der die Versammlung eröffnete, an die Anwesenden: »›Genossen! Vor Beginn unserer Versammlung bitte ich euch darum, im Gedenken unsere Genossen zu ehren, die als unsere Führer und Leiter als Märtyrer von Hand der stalinistischen Verräter der Revolution gestorben sind.‹

Darauf erhob sich die gesamte Versammlung. Dann stellt Gevorkjan die Schlüsselfrage zur Diskussion: Was tun? ›Es ist nun offensichtlich geworden, dass die Gruppe der stalinistischen Abenteurer in unserem Land ihren konterrevolutionären Staatsstreich vollendet. Alle fortschrittlichen Errungenschaften unserer Revolution sind tödlicher Gefahr ausgeliefert. Nicht nur die Dunkelheit der Abenddämmerung, sondern die schwarze und tiefe Nacht umhüllt unser Land. Kein Cavaignac hat so viel Blut der arbeitenden Klassen vergossen wie Stalin. Durch die physische Vernichtung aller oppositionellen Gruppen der Partei erstrebt er eine personelle, ungeteilte Diktatur. Die Partei und das gesamte Volk werden einer willkürlichen Überprüfung und der Justiz seitens des Polizeiapparates ausgesetzt. Die Vorhersagen und düstersten Einschätzungen unserer Opposition haben sich vollständig bewahrheitet. Die Nation rutscht unweigerlich in den Sumpf des Thermidors ab. So triumphieren die zentristischen, kleinbürgerlichen Kräfte, als deren Interpret, Wortführer und Apostel sich Stalin erweist. Mit den stalinistischen Verrätern und Henkern der Revolution ist kein Kompromiss möglich. Wir bleiben bis zuletzt proletarische Revolutionäre, wir dürfen uns keiner Illusion darüber hingeben, welches Schicksal uns erwartet. Doch bevor er uns vernichtet, wird Stalin versuchen, uns so tief wie er es auch vermag, zu erniedrigen. Indem er die Politischen Häftlinge genau so behandelt wie die Allgemeinen Strafgefangenen (die »Kriminellen«), will er uns unter den Kriminellen versprengen und diese gegen uns aufbringen. Es bleibt uns nur ein einziges Mittel des Kampfes: der Hungerstreik. Mit einer Gruppe von Genossen haben wir bereits eine Liste unserer Forderungen entworfen, die viele von euch bereits kennen. Ich schlage euch deshalb vor, jetzt darüber gemeinsam zu diskutieren und eine Entscheidung zu treffen‹.«[19]

Die Versammlung dauerte nicht lange, da die Frage des Hungerstreiks und der konkreten Forderungen schon seit einigen Monaten von den Trotzkisten diskutiert wurde. Trotzkistische Gruppen aus anderen Lagern (Station Usa, Cibju, Kocmes u.a.) hatten ebenfalls darüber diskutiert und ihr Einverständnis mit den Forderungen sowie der Beteiligung am Hungerstreik übermittelt und Unterstützung zugesichert. Diese Forderungen wurden einstimmig von den Anwesenden angenommen. Sie beinhalteten M. B. zufolge: 

»1. Die Aufhebung der illegalen Entscheidung des NKVD, die den Transfer aller Trotzkisten aus den Verwaltungslagern in Konzentrationslager betrifft. Angelegenheiten, die die politische Opposition gegen das Regime betreffen, dürfen nicht von den Spezialgerichten des NKVD gerichtet werden, sondern durch öffentliche Gerichtsversammlungen.

2. Der Arbeitstag im Lager darf nicht mehr als 8 Stunden betragen.

3. Die Ernährung der Gefangenen darf nicht von der Norm ihrer Arbeitsleistung abhängig gemacht werden. Die Arbeitsleistung darf nicht durch Lebensmittel stimuliert werden, sondern durch eine Geld-Prämie.

4. Trennung der Politischen Gefangenen von den Allgemeinen Verurteilten sowohl bei der Arbeit als auch in den Baracken.

5. Die aus politischen Gründen inhaftierten Invaliden, Alte und Frauen müssen aus dem Lager am Polarkreis in Lager gebracht werden, wo die klimatischen Bedingungen günstiger sind.«[20]

Kostiuk gab eine andere Liste wieder, die länger ist und sich von der oben zitierten deutlich unterscheidet. Nur die Punkte 3 und 4 der beiden Listen sind identisch.

»1. Die Trennung der Politischen Häftlinge von den Allgemeinen Verurteilten.

2. Die Abschaffung der noch bestehenden Privilegien, die es Verrätern erlauben, höhere Positionen zu bekleiden (Brigadeleiter, Arbeitsinspektoren, Erzieher usw.) als die Politischen Häftlinge.

3. Die Zuteilung zu einer Arbeit, die dem Beruf jedes Gefangenen entspricht. Falls sich das als unmöglich erweist, müssen bei der Zuweisung die körperlichen Fähigkeiten und der Gesundheitszustand eines jeden Gefangenen berücksichtigt werden.

4. Die Angleichung der Lebensmittelrationierung ohne Rücksicht auf die erreichten Normen.

5. Die vollständige Anwendung der Arbeitsgesetzgebung (8-Stunden-Tag, Zahlung eines Lohns für jede verrichtete Arbeit, Feiertage).

6. Das Recht für die Gefangenen, mit ihrem Gehalt Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs im Laden des Lagers zu kaufen.

7. Das Recht für die Gefangenen, eine regelmäßige Korrespondenz mit ihrer Familie zu unterhalten.

8. Das Recht für Ehepaare, im Lager zusammen zu leben.

9. Das Recht, Zeitungen und Zeitschriften, die in der Sowjetunion erscheinen, zu abonnieren.«[21]

Rachalov vermittelt noch eine weitere, leicht abweichende Version ihrer Plattform. Ihm zufolge verlangten die Streikenden, vor ein öffentliches Gericht zu treten (denn die Mehrheit unter ihnen war in Ermangelung eines Gerichtsbeschlusses qua Dekret einer Spezialkommission verurteilt worden), die Freilassung ihrer Frauen und ihrer Kinder verbunden mit dem Recht, ihren Wohnort frei zu wählen, den Transfer der Alten und Kranken in klimatisch mildere Regionen, die Trennung von Politischen und Allgemeinen Verurteilten, gleiche Ernährung für alle Gefangenen, unabhängig von ihren Arbeitsleistungen.

Der Unterschied zwischen diesen Texten ist ohne Zweifel mittels einer Information von Abiks zu erklären. Ihm zufolge »wurde ein Grundlagen-Text von einer zentralen Gruppe, die im Bergwerk arbeitete, ausgearbeitet. Doch von Ort zu Ort änderten die Streikenden, die dazu gestoßen waren, den einen oder anderen Passus aus taktischen Gründen.«[22] Abiks zufolge kam es zu Divergenzen zwischen Befürwortern und Gegnern darüber, ob eine politische Analyse der Sowjetunion und der politischen Forderungen vorgenommen werden sollte. Der Dezist Slitinskij befürwortete dies entschieden, während die Trotzkisten, die Abiks als orthodox bezeichnet, es für notwendig erachteten, ausschließlich Forderungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen und den Lebensbedingungen aufzustellen, da ein kollektiver Hungerstreik in sich eine politische Äußerung sei und die Aufnahme politischer Forderungen die Rekrutierung eines breiteren Kreises von Gefangenen während des Streiks bremsen könne. Ihre Ansicht setzte sich schließlich durch. Anlässlich der Versammlung wurde auch empfohlen, dass sich die Kranken, Invaliden und Alten nicht am Hungerstreik beteiligen sollten. Nichtsdestoweniger wiesen alle davon Betroffenen diese Empfehlung energisch zurück.

Ein aus fünf Mitgliedern bestehendes Komitee, mit Gevorkjan an der Spitze, wurde eingesetzt, um das Datum für den Beginn des Hungerstreiks festzulegen, nachdem die anderen, über das äußerst weitläufige Territorium der Lager UchtaPečora verstreuten trotzkistischen Gruppen darüber informiert wurden.

Der Hungerstreik, sein Verlauf und sein Erfolg

Am 18. Oktober 1936 begann nach Abiks (nach M. B. am 27. Oktober) der Hungerstreik der Politischen Häftlinge. M. B. charakterisiert ihn als »ohne Vorbild dastehenden und exemplarischen Streik unter den Bedingungen der sowjetischen Lager«. Morgens beim Wecksignal erklärten sich fast in jeder Baracke Häftlinge zu Streikenden. Die zwei Baracken, in denen Trotzkisten untergebracht waren, traten vollständig in den Streik. Selbst Wachposten streikten. In den vier Monaten, die der Streik anhalten sollte, beteiligten sich über 1000 Häftlinge, von denen die Hälfte im Bergwerk tätig war. Einige von ihnen starben während des Streiks an Erschöpfung.

An den beiden ersten Tagen blieben die Streikenden an ihren gewohnten Örtlichkeiten. Dann beschloss die Lagerverwaltung, sie von den übrigen Häftlingen zu isolieren. Sie befürchte, dass die Streikbewegung auf die anderen Häftlinge übergreifen könnte. In der Tundra, 40 Kilometer vom Bergwerk entfernt, standen am Ufer des Syr-Jaga noch primitive, halb zerstörte Baracken, die zuvor bei der Suche nach geeigneten Bergwerkstandorten benutzt worden waren. Das NKVD ließ sie in aller Eile notdürftig wieder herrichten und zog die Bewohner der Region dazu heran, die etwa 600 Hungerstreikenden mit ihren Rentieren und Schlitten dorthin zu transportieren. M. B. liefert eine detaillierte Beschreibung ihrer dortigen Ansiedlung. »In den Zelten und in den Lehm- und Strohhütten herrschte eine furchtbare Kälte. Die kleinen Öfen aus sehr einfachem Guss gaben nur schlecht Wärme ab. […] Es scheint, dass die Streikenden mehr unter der Kälte und der Härte der Betten als unter dem Hunger litten. […] So mancher Genosse konnte diese Qualen nicht ertragen. […] Die Streikführer kündigten an, dass jeder, der merkte, dass seine Kräfte ihn verließen, das moralische Recht habe, aufzuhören. Zahlreiche Streikende folgten diesem Rat, andere wiederum setzten den Streik fort, und von ihnen starben mehrere.«[23]

Weitere Streikende wurden in die Nähe von Cibju, andere nach Usa verbracht. Die Streikenden unter Leitung eines fünfköpfigen Komitees trafen mehrere organisatorische Maßnahmen: Sie bestimmten pro Hausgemeinschaft einen Starosten [Ältesten], der beauftragt war, Informationen zu empfangen und weiterzugeben, die ihnen von Verbindungspersonen übermittelt wurden. Das NKVD brauchte lange, um die Identität dieser Starosten aufzudecken, von denen einer erst an dem Tag entdeckt wurde, an dem der Streik beendet wurde! Selbst als die Streikenden nach Syr-Jaga verbracht wurden, erfuhren die anderen Gefangenen, dass der Streik fortgesetzt wurde und die Trotzkisten nicht die Absicht hatten, sich zu ergeben. Sogar die freien Angestellten zeigten trotz der Aufforderungen durch das NKVD keinerlei Anzeichen von Hass gegen die vorgeblichen »Umtriebe der Konterrevolutionäre«.

Joseph Berger hat während seiner Odyssee durch die sowjetischen Gefängnisse und Lager Häftlinge getroffen, die diesem Bericht einige Details hinzufügten, die er in Le naufrage d’une génération wiedergibt. Er weist dabei besonders auf folgendes hin: »Selbst die Kinder hielten durch, obwohl die Anführer der Bewegung die Mütter inständig baten, ihnen dieses unerträgliche Spektakel zu ersparen.«[24]

Nachdem sie die Streikenden isoliert hatten, ergriff der NKVD Maßnahmen, um zu verhindern, dass sich die Bewegung im Land ausbreitete oder im Ausland bekannt würde. Die Häftlinge hatten nicht mehr das Recht, mit ihren Familien zu korrespondieren. Den Lager-Angestellten war untersagt, in den Urlaub zu fahren  und ihren Aufenthaltsort zu verlassen. Das NKVD versuchte, die übrigen Häftlinge gegen die Streikenden aufzubringen. Im Bergwerk waren die Lebensmittelvorräte erschöpft, es gab nichts mehr, um die in den Schächten Arbeitenden zu ernähren. Die Lagerverwaltung gab vor, große Mengen der Fett- und Zuckerreserven, die für die Arbeiter unter Tage gelagert worden seien, hätten für die künstliche Ernährung der Trotzkisten aufgewendet werden müssen.

Am Ende des ersten Streikmonats starb einer der Teilnehmer an Erschöpfung. Zwei weitere starben während des dritten Monats. Dem Zuträger des NKVD Abiks zufolge wurden diese menschlichen Dramen von den Streikführern instrumentalisiert, um den sich abschwächenden Streik wieder anzukurbeln. Abiks schreibt im Sinne seiner kruden Logik: »Da die Hoffnungen auf ein schnelles Ende des Hungerstreiks, die von der Führung der Bewegung genährt wurden, sich nicht bestätigten, begann der Kampfgeist der Streikenden zu sinken, was für die Anführer sehr unerwünscht war. Sie mussten drastische Mittel einsetzen, um den Kampfgeist wieder zu beleben: Der Arzt Charčenko bezeugt, dass sie den Tod des greisen Cemach und des Tuberkulosekranken Vorob’ev in diesem Sinne ausnutzten. Sie bemühten sich mit allen Mitteln, ihnen Pflege zuteil werden zu lassen und sie künstlich zu ernähren [um die anderen Streikenden zu motivieren, Anm. der Übersetzer]. Da diese Provokation scheiterte, wählten sie den Dezisten Slitinskij als nächstes Opfer aus. Daraufhin führte dieser einen Selbstmordversuch durch, indem er sich draußen vor dem Saal die Venen aufschlitzte, und sein Blut in den Schnee lief (allerdings hatte diese Aktion keine negative Auswirkung auf die Gesundheit des Demonstranten). Slitinskij verfaßte nun eine lange Erklärung, die an das ›Weltproletariat‹ gerichtet war, er forderte es auf, das ›Grauen‹ von Vorkuta zur Kenntnis zu nehmen und stellte mit den leidenschaftlichsten Worten die Plattform der Streikenden dar.«[25] Noch im selben Monat gaben zwei Streikende aus den Reihen der nichtorthodoxen Trotzkisten freiwillig den Streik auf. Schließlich starb wenige Tage vor Ende des Streiks einer der Teilnehmer.

Eines Tages erschien der Chef der politischen Sektion des Lagers Užov und verhöhnte die Streikenden: »Ihr denkt Euch wohl, Europa wird von eurem Hungerstreik zu hören bekommen und euch unter seinen Schutz stellen? Dummköpfe! Rechnet nur nicht damit! Europa ist uns scheißegal.«[26] Diese Auslassung machte sicherlich von sich reden, da auch Sol’ženicyn sie in etwas anderer Form zitiert: »Ihr denkt Euch, daß Europa von eurem Hungerstreik erfährt? Wir pfeifen drauf, auf Europa!«[27]

Einem der Streikenden war es tatsächlich durch Vermittlung eines Einwohners aus der Region gelungen, seine Frau über den Streik zu informieren, eine geborene Engländerin, die die UdSSR verlassen und die Öffentlichkeit über den Hungerstreik der Trotzkisten von Vorkuta informieren konnte.

Sol’ženicyn selbst stellt dabei eine Behauptung auf, die kein einziger Zeuge bestätigt: »Angenehm überrascht waren die Hungernden, peinlich berührt die Natschalniks, als sich dem Streik auch noch 20 Urkas [Eigenbezeichnung der kriminellen Häftlinge] unter der Führung ihres Baldowers [Anfüherer einer kriminellen Gruppe] anschlossen. […] Lediglich diese 20 bereiteten der Obrigkeit einigen Kummer.« Solzenicyn zitiert daraufhin die Äußerung von Užov und kommen-

tiert: »Und [er] hatte Recht. Was aber die sozial-nahen Banditen betrifft, die durften weder verprügelt noch dem Hungertod überlassen werden. Im übrigen ward nach der ersten Halbzeit ein Schlüssel zu ihrem lumpenproletarischen Bewußtsein gefunden, die Urkas sagten den Streikenden Adieu, und ›Moskwa‹, der Baldower, erklärte per Lagerfunk, daß ihn die Trotzkisten verführt hätten. Danach war den Übriggebliebenen – die Erschießung beschieden. Mit ihrem Hungerstreik hatten sie von sich aus den Antrag gestellt und die Listen geliefert.«[28]

Eines Abends im Februar traf ein Kommando des NKVD aus Moskau ein, nahm die Zelte der Streikenden Vassilij Kosior, Vladimir Ivanov und Sergej Sedov (Trockijs Sohn), in Beschlag und verbrachte die drei Männer nach Moskau, wo der zu der Zeit ebenfalls in Moskau Joseph Berger dann auf Sedov, traf. Dieser hatte sich 1929 geweigert, seinen Eltern ins Exil zu folgen und war jeglicher politischer Aktivität abhold.

Nach langen Verhandlungen, über die Abiks berichtet, wurde der Streik am 8. Februar 1937 beendet. Alle Erinnerungen geben die gleiche, beispiellose Dauer des Hungerstreiks an: 132 Tage.

M. B. zufolge traf im Lager ein Telegramm aus Moskau ein: »Lassen Sie die Hungerstreikenden in den Bergwerken von Vorkuta wissen, dass ihre Forderungen erfüllt werden.«[29] Sicherlich hat Moskau tatsächlich ein derartiges Telegramm geschickt, vermutlich als Reaktion auf die Informationen über den Streik, die im Westen veröffentlicht wurden. Das Telegramm war allerdings eine infame Desinformation. Die Lagerverwaltung konnte es nicht auf sich nehmen, auch nur kurzzeitig den Forderungen der Streikenden nachzugeben, der Text des Telegramms erscheint insofern als äußerst unwahrscheinlich. Dass NKVD-Chef Nikolaj Ežov oder einer seiner Stellvertreter die Begriffe »Hungerstreik« oder »Forderungen« benutzt hätten, hätte den strikten Gewohnheiten der Sprachregelungen des stalinistischen Apparats, handelte es sich doch bei »Streik« und »Forderungen« um verbotene Wörter. Wenn sie in sozialen Kontexten auftraten, wurden sie vielmehr als Akte des »Hooliganismus« deklariert. Jeder Streik wurde als volynka (Arbeitsverweigerung) eingestuft, erst recht in einem Gulag-Lager.

Nach 132 Tagen Hungerstreik und mit dem Gefühl, einen Sieg errungen zu haben, wurden die Trotzkisten ins Bergwerk zurückgebracht, wo sie die Kranken vorbehaltene Ernährung erhielten und nach einiger Zeit die Arbeit wieder aufnahmen – allerdings nur über Tage. Einige von ihnen arbeiteten sogar in den Büros der Bergwerksleitung als Angestellte, Buchhalter, Ökonomen etc. Ihr Arbeitstag ging nicht über acht Stunden hinaus, und ihre Lebensmittelration wurde unabhängig von der erreichten Norm bemessen. Abiks kommentierte dieses Ergebnis mit seltsamer Ironie. Eine Umfrage unter 72 Streikenden habe, wie er schreibt, ergeben, dass »63 Prozent von ihnen Journalisten, Juristen, Pädagogen und Wissenschaftler waren […]«[30] Umso schwerer ist es zu verstehen, wenn Sol’ženicyn mit seiner gewohnten Ironie kommentiert: »Der Hungerstreik ging zu Ende. Hilflose Lagersträflinge, wie hätten sie die Erfüllung durchsetzen können? Ein Betrug war es indes, keine einzige Forderung wurde erfüllt.« Dies ist jedoch eine unzutreffende Darstellung. Tatsächlich wurden die Zusagen von der Lagerverwaltung erst später zurückgenommen. Sol’ženicyn schreibt weiter: »Ein westlicher Mensch kann weder glauben noch verstehen, wie so etwas überhaupt möglich ist.«[31] Der unzutreffenden Schilderung lässt Sol’ženicyn als auch noch eine falsche Bewertung folgen: Denn auch er wusste, dass in mehr als einem Fall im Westen Streiks mit einem Kompromiss enden, den der Arbeitgeber zu durchbrechen versucht, sobald die Arbeit wieder aufgenommen wurde.

Das Ende: Das Massaker an den Trotzkisten

Die Aufmerksamkeit aller Politischen Häftlinge war nun auf die neuen Moskauer Schauprozesse gerichtet, von denen im Radio ausführlich berichtet wurde. Ende Juni 1937 trafen neue Gefangene ein. Ihre Erzählungen, so M. B., »machten auf die Massenverhaftungen, Willkürakte, Erschießungen ohne Prozess hinter den Mauern des NKVD aufmerksam, und dies im ganzen Land.« Zu Beginn wollte niemand so recht daran glauben, um so mehr als die Neuankömmlinge nicht gern, sondern eher hinter vorgehaltener Hand und in Form von Anspielungen davon sprachen. Doch nach und nach wurden die Verbindungen enger und die Gespräche offener. Ununterbrochen kamen neue Häftlinge aus Russland; alte Freunde und Bekannte trafen sich wieder. Es wurde unmöglich, ihnen weiter nicht zu glauben.

»Trotz dieser offensichtlichen Tatsachen – schreibt M. B. – erwarteten manche Gefangene ungeduldig den Herbst 1937 und den 20. Jahrestag der Oktoberrevolution; sie hofften, bei dieser Gelegenheit, auf eine breit angelegte Amnestie der Regierung nach dem Beispiel von 1927, um so mehr, als kurz zuvor die sehr viel versprechende ›Stalinsche Verfassung‹ angenommen worden war.«[32]

Abiks bestätigt dies: »Sie rechneten damit, dass sich die staatliche Verwaltung im Vorfeld der Jahrestages der Oktoberrevolution versöhnlich zeigen würde.«[33] Ihre Erwartung wurde auf blutige Weise enttäuscht. Tatsächlich hatte Stalin 1937 die Liquidierung der alten Kommunistischen Partei vollendet, um auf ihren Ruinen die neue Partei der Nomenklatura zu errichten: In der Logik dieser Umwälzung sollte der Jahrestag der Oktoberrevolution mit der Auslöschung der Trotzkisten und darüber hinaus tausender ehemaliger Oppositioneller und selbst von Stalin-Anhängern enden. 

Das Lagersystem verschlimmerte sich weiter auf brutale Weise. Die Brigadiere und Ordnungskräfte – Allgemeine Häftlinge – hatten neue Anweisungen von der Lagerleitung erhalten und wurden mit Knüppeln ausgestattet, mit denen sie von nun an systematisch die Gefangenen misshandelten. Sie machten sich beispielsweise einen Spaß daraus, den ehemaligen am Streik Beteiligten zu befehlen, sich nackt in den Schnee zu legen und stundenlang dort auszuharren.

Die Verwaltung beschloss daraufhin, die Teilnehmer des Streiks vom Winter 1936/37 zu isolieren und verbrachte sie außerhalb des Lagers, etwa 20 Kilometer entfernt, in eine alte Ziegelei, von der noch vier halb zerfallene Gebäude ohne Heizmöglichkeiten erhalten waren. Das berichtet Marija Ioffe. Insgesamt wurden 1 200 Häftlinge dort zusammengepfercht, darunter gut die Hälfte Trotzkisten. Die Anzahl der Wärter war mit 1 200 – eine außergewöhnliche Tatsache – genauso hoch, so dass auf einen Gefangenen ein Wärter kam! Ihre Lebensmittelration betrug 400 Gramm Brot täglich. Die Ankunft der ehemaligen Streikteilnehmer, Marija Ioffe nach zu urteilen, gab dem politischen Leben in der Ziegelei neuen Auftrieb. Sie schrieb in einem etwas hochtrabenden Stil: »Die Ziegelei hatte unter ihrem zerfallenen Dach die Besten der schöpferischen Elite der Lager vereinigt, das Volk der Tapferen und Mutigen. Mit ihren Argumenten und ihrer Erfahrung, ihrer Fähigkeit, schlüssige, manchmal prophetische Antworten zu geben, hatten sie eine Dynamik des Lebens in die unerträglich statische Existenz in diese unglaubliche zugefrorene und mit Kranken vollgestopfte Kiste gebracht.«[34]

Am 25. Dezember 1937 verurteilte eine Trojka des NKVD die Führer der Streikbewegung zum Tode: Sokrat Gevorkjan, Michail Šapiro, Vasilij Donadze, Iosif Kraskin, Nikolaj Grolov, Grigorij Jakovin, Georgij Chotinskij, Grigorij Vul’fovič und Dimitrij Kurinevskij. Aus noch nicht durchschaubaren Gründen wurde jedoch das Urteil nicht unmittelbar vollstreckt. »Den ganzen Winter 1937/38 hindurch«, notiert M. B., »warteten die ausgehungerten Häftlinge, die bei der Ziegelei in Baracken hausten, auf eine Entscheidung über ihr Schicksal.«[35]

Schließlich trafen Ende Februar (und nicht Ende März, wie M. B. behauptet, der sich, was die folgenden Ereignisse angeht, um einen Monat verschätzt) mit dem Flugzeug aus Moskau drei Offiziere des NKVD mit Leutnant Kašketin an der Spitze ein. Kašketin war mit einem NKVD-Befehl ausgestattet, der die Nr. 00409 trug. Nach Vadim Rogovin zeigen die beiden Nullen am Anfang dieses Befehls, dass er von Stalin persönlich abgezeichnet wurde. Dass die Wahl auf Kašketin fiel, ist aufschlussreich: Im September 1936 hatte die medizinische Kommission des NKVD bei ihm eine Neurose mit psychotischen Tendenzen diagnostiziert. Er wurde aus dem NKVD entlassen und im Apparat des Moskauer Komitees der Kommunistischen Partei beschäftigt. Im Januar 1938 wurde er wieder vom NKVD übernommen, offensichtlich eigens für den Auftrag, den er in Vorkuta ausführen sollte. Die drei Männer blieben in der Ziegelei und veranstalteten ein systematisches Verhör der Gefangenen. 30 bis 40 Gefangene wurden jeden Tag einbestellt, jeder wurde fünf bis zehn Minuten lang oberflächlich verhört, beschimpft und manchmal mit der Faust ins Gesicht geschlagen. M. B. zufolge schlug Kašketin selbst mehrmals den alten Bolschewiken Virab Virabov, ehemaliges Mitglied des ZK der Kommunistischen Partei Armeniens, der einem Zeugen zufolge beim Hinausgehen nach dem Verhör aufschrie: »Ich werde dir zeigen, was es heißt, zu schlagen … Mich ins Gesicht zu schlagen, mich, einen alten Revolutionär … stalinistisches Dreckstück, faschistischer Henker!«[36] Ganz besonders schossen sie sich auf Poznanskij ein, den sie auf abscheuliche Weise folterten, um von ihm Aussagen zu erlangen, die Trockij kompromittieren könnten – ohne Erfolg. 

M. B. schreibt dazu: »Ende März wurde eine Liste mit 25 Personen weitergeleitet, unter denen Gevorkjan, Virabov, Slavin u.a. waren.« Das NKVD inszenierte nun eine kleine Komödie, um die Opfer zu täuschen: Jeder bekam ein Kilo Brot zugeteilt und erhielt den Befehl, sich bereit zu halten für einen weiteren Transfer an einen unbestimmten Ort. M. B. erzählt: »Nach herzlichen Szenen des Abschieds von ihren Freunden verließen die Aufgerufenen die Baracken, und nach dem Appell verließ der Konvoi das Gelände. Nach 15 bis 20 Minuten, nicht weit davon, etwa einen halben Kilometer entfernt, am steilen Ufer des Flüsschens Verchnjaja Vorkuta, ertönte plötzlich eine Gewehrsalve, der vereinzelte unzusammenhängende Schüsse nachfolgten. Dann wurde es erneut still. Bald darauf kam die Eskorte des Konvoi wieder an den Baracken vorbei. Und allen war klar, auf welche Art von Konvoi die Gefangenen geschickt wurden.«[37]

M. B. hat sich dabei in der Datierung geirrt. Gevorkjan und seine Genossen wurden am 25. Dezember 1937 zum Tode verurteilt und am 1. März (nicht am Ende des Monats) exekutiert. Die Troika hatte ohne jeden Zweifel auf höhere Weisung hin den Angeklagten ihr Todesurteil nicht bekannt gegeben. Die Todesurteile für Politische Häftlinge wurden im Allgemeinen wenige Stunden nach ihrer Verkündung vollstreckt. Das NKVD spielte demnach Katz und Maus mit den Verurteilten. Aus welchen Gründen sie das taten, ist uns nicht bekannt.

Nach dem Bericht Kašketins, auf den Vadim Rogovin hinweist, wurden 173 (und nicht 25) Gefangene erschossen, und die Operation dauerte, einschließlich des Transfers, 10 Stunden. Selbst wenn einiges auf bürokratische Übertreibung zurückgeht, bedeutet dies, dass die Gefangenen einzeln erschossen und nicht durch Maschinengewehrfeuer niedergemäht wurden und es bedeutet auch, dass vermutlich einige sogar versuchten, Widerstand zu leisten und zu fliehen.

»Am übernächsten Tag«, fährt M. B. fort, »neuer Appell, diesmal für 40 Personen. Wieder gibt es eine Brotration. Einige von ihnen konnten sich vor Erschöpfung schon nicht mehr bewegen. Ihnen wurde versprochen, sie auf einen Karren zu legen. Die in der Baracke verbliebenen Häftlinge hielten den Atem an, als sie das Knirschen des Schnees unter den Schritten des Konvois hörten, der sich entfernte. Schon lange waren alle Geräusche verstummt; doch alle spitzten noch immer die Ohren. So verging ungefähr eine Stunde. Doch von neuem ertönte der Widerhall von Schüssen in der Tundra. Diesmal kamen sie von viel weiter her, aus Richtung der Trasse der Schmalspurbahn, die drei Kilometer von der Ziegelei entfernt verlief.«[38] Dieser zweite »Konvoi« überzeugte die Überlebenden endgültig, dass ihr Ende unwiderrufbar war.

Die Exekutionen in der Tundra dauerten bis Mitte Mai 1938. Meist wurden jeden zweiten oder dritten Tag 30 bis 40 Gefangene aufgerufen. Jedes Mal wurden auch einige Allgemeine Häftlinge, Rückfällige, exekutiert. Um die Gefangenen zu terrorisieren gaben die NKVD-Leute von Zeit zu Zeit die Liste der Erschossenen über den lokalen Radiosender öffentlich bekannt. Gewöhnlich begannen die Übertragungen wie folgt: »Wegen konterrevolutionärer Agitation, Sabotage, Banditentum in den Lagern, Arbeitsverweigerung und Ausbruchsversuchen wurden erschossen … .«

Es folgte eine Liste von Namen, in der die Politischen Gefangenen mit den Allgemeinen vermischt worden waren. Marija Ioffe zufolge, die dies bestätigt, »hatten sich – bei der Verlesung einer dieser Listen – alle erhoben und wie gelähmt den Atem angehalten. ›Die Folgenden wurden erschossen.‹ Der erste Name war der von Grigori Jakovin«, ihres Lebensgefährten im Lager. Weiter schreibt

sie: »Die ersten Zeilen enthielten alle, die den Hungerstreik angeführt hatten. Danach folgten Namen, Namen und wieder Namen«, wobei immer die von Allgemeinen Kriminellen mit denen von Revolutionären vermischt wurden.[39]

 »Einmal wurde«, wie M. B. beschreibt, »eine Gruppe von fast Hundert Häftlingen, hauptsächlich bestehend aus Trotzkisten, abgeholt. Beim Weggehen sangen die Verurteilten die Internationale und wurden dabei von Hunderten von Stimmen aus dem Lager unterstützt.«[40] 

Joseph Berger berichtet, dass sich einige während der Exekutionen »bis zuletzt wehrten und Slogans riefen. Wie gewöhnlich, waren die Wärter halb betrunken. Als alles vorbei war, begossen die Wärter die Leichen und Lumpenfetzen mit Petroleum und zündeten sie an. Für lange Zeit leuchteten die tiefen Wälder vom hellen Lichtschein.«[41]

Anfang Mai erschoss das NKVD eine Gruppe von Frauen, darunter die ukrainische Kommunistin Sumskaja, Smirnova, (die Frau Ivan Smirnovs, des ehemaligen bolschewistischen Führers, der im ersten Moskauer Schauprozess zum Tode verurteilt wurde. Dessen Tochter Olga, ein junges apolitisches, musikbegeistertes Mädchen war ein Jahr zuvor in Moskau erschossen worden), die Frauen von Kosior, Melnais und einige andere. Eine dieser Frauen ging auf Krücken. Wurde ein Oppositioneller exekutiert, musste dessen internierte Frau automatisch mit der Todesstrafe rechnen; und wenn es sich um einen besonders prominenten Oppositionellen handelte, waren auch seine über 12 Jahre alten Kinder von der Exekution bedroht.

Im Mai 1938, als die Erschießungen aufhörten, blieben kaum mehr als 100 Gefangene übrig. Insgesamt führte Kašketin die Exekution von 2 901 als Trotzkisten bezeichnete Häftlingen durch.[42] In ihrer Mehrheit waren sie dies auch tatsächlich, neben einer Vielzahl von Oppositionellen.

Die eindrucksvolle Liste der in Vorkuta ermordeten Trotzkisten enthält eine Vielzahl von Führungskadern der Linken Opposition der KPdSU (b): Grigorij Jakovin, Sokrat Gevorkjan, Virab Virabov, Faina Jablonskaja, Bella Epštejn, Fedor Dingelštedt, die ehemaligen Sekretäre Trockijs Sermuks und Poznanskij. Broué führt zusätzlich Lado Enukidze an, der jedoch zweifellos in Magadan erschossen wurde. Dort sollte das Massaker an den Trotzkisten, das in Vorkuta begonnen wurde, vollendet werden.

Übersetzung aus dem Französischen von Jan Bonin, Ewa Hakanen, Julia Zogel und Bernhard H. Bayerlein.


[1]  Solschenizyn, Alexander: Der Archipel Gulag, Folgeband, Bern 1974, S. 306. Siehe auch die russische Ausgabe Paris 1974, hier S. 311.

[2]  Ebenda.

[3]  Panin, Dmitrij: Zapiski Sologdina [Aufzeichnungen aus Sologdin], Frankfurt a. M. 1973.  

[4] Solschenizyn: Der Archipel Gulag (Anm. 1), S. 309.

[5]  Šalamov, Varlam: Récits de Kolyma, Paris 1969, S. 226. Siehe auch die deutsche Ausgabe Šalamov, Varlam: Geschichten aus Kolyma, Frankfurt a. M. 1983.

[6]  Ebenda.

[7]  Ebenda.

[8]  Solschenizyn: Der Archipel Gulag (Anm. 1), S. 306–309.

[9]  Dieser Bericht (M.B.: Les trotzkystes à Vorkouta) ist in der Zeitschrift Quatrième Internationale vom Dezember 1962, in Les Cahiers Leon Trotsky, April 1994, H. 53 und zuletzt in La Vérité, Mai 2006, H. 49/50, veröffentlicht worden.

[10]  Joffe, Maria: One Long Night. A Tale of Truth, New Park/London 1978. 

[11]  Es handelt sich um den Bericht eines Belastungszeugen, veröffentlicht in Les Cahiers du mouvement ouvrier, Juni 1998, H. 2, S. 57–63.

[12]  Berger, Joseph: Le naufrage d’une génération, Paris 1974.

[13]  Ogonëk, 1988, H. 27.

[14]  Rogovin, Vadim: 1937, Moskau 1996, S. 356. Das 44. Kapitel des Buches von Rogovin wurde auch auf Französisch publiziert. Siehe Les Cahiers du mouvement ouvrier August/September 2005, H. 27, S. 97–109. Siehe Broué, Pierre: Communistes contre Staline. Massacre d’une génération, Paris 2003, S. 301.

[15]  Rogovin: 1937 (Anm. 14), S. 357.

[16]  Les Cahiers du mouvement ouvrier, Juni 1998, H. 2, S. 57.

[17]  Les Cahiers Leon Trotsky, April 1994, H. 53, S. 23.

[18]  Ebenda., S. 23–25.

[19]  Ebenda., S. 25 f.

[20]  Rogovin, Vadim: Partija Rastreljanich [Die Partei der Erschossenen], Moskau 1997, S. 301.

[21]  Quatrième Internationale, April/Mai/Juni 1981, S. 111; Broué: Communistes contre Staline (Anm. 14), S. 310.

[22]  Les Cahiers du mouvement ouvrier, Juni 1998, H. 2, S. 59.

[23]  Ebenda., S. 325.

[24]  Berger: Le naufrage (Anm. 12), S. 104.

[25]  Les Cahiers du mouvement ouvrier, Juni 1998, H. 2, S. 63.

[26]  Quatrième Internationale, April/Mai/Juni 1981, S. 113; Broué: Communistes contre Staline (Anm. 14), S. 325.

[27]  Solschenizyn: Der Archipel Gulag (Anm. 1), S. 309.

[28]  Ebenda.

[29]  Les Cahiers Leon Trotsky, April 1994, H. 53, S. 28; Rogovin: Partia Rastrelianych (Anm. 20 ), S. 302.

[30]  Les Cahiers du mouvement ouvrier, Juni 1998, H. 2, S. 62.

[31] Solschenizyn: Der Archipel Gulag (Anm. 1).

[32]  Les Cahiers Leon Trotsky, April 1994, H. 53, S. 28.

[33]  Les Cahiers du mouvement ouvrier, Juni 1998, H. 2, S. 62.

[34] Joffe: One Long Night (Anm. 10), S. 42 f.

[35]  Les Cahiers Leon Trotsky , April 1994, H. 53, S. 29.

[36] Rogovin: Partia Rastrelianych (Anm. 20 ), S. 303.

[37]  Les Cahiers Leon Trotsky, April 1994, H. 53, S. 30.

[38] Ebenda.

[39]  Joffe: One Long Night (Anm. 10), S. 35.

[40]  Les Cahiers Leon Trotsky , April 1994, H. 53, S. 31.

[41]  Berger: Le naufrage (Anm. 12), S. 105.

[42]  Zapoljar’e vom 18. September 1991; Rogovin: Partia Rastrelianych (Anm. 20 ), S. 304. 

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