JHK 1993

\"Den guten Namen wiederherstellen\". Über die Rehabilitierung von Stalin-Opfern in der Sowjetunion

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 118-125

Autor/in: Carola Tischler (Kassel)

In russischen Zeitschriften sind über den Vorgang der Rehabilitierung von Stalin-Opfern erst in der letzten Zeit einige Arbeiten erschienen. In der westlichen Historiographie wurde zwar die Thematik vor allem in Bezug auf die Rehabilitierungen unter Chruschtschow behandelt, doch nur vereinzelt näher auf den Begriff \"Rehabilitierung\" eingegangen. Generell scheint es einen stillen Konsens zu geben, was darunter zu verstehen ist. Auch in politischen und historischen Hand- und Wörterbüchern zur Sowjetunion oder zum Sozialismus fehlt vielfach ein eigener Lexikoneintrag. Dieser Mangel steht im Gegensatz zu dem Stellenwert, den Rehabilitierung im politischen System der Sowjetunion - und im Gefolge davon in allen Staaten des realen Sozialismus - eingenommen hat. Dies zu untersuchen, steht noch aus und kann auch in dem vorliegenden Beitrag nicht geleistet werden. Sinn der Miszelle ist es lediglich, einen kurzen Überblick über die verschiedenen Phasen der Rehabilitierung von Stalin-Opfern in der Sowjetunion seit den dreißiger Jahren bis zum Zerfall des Staates Ende 1991 zu geben. Ergänzend sollen zu Beginn einige Erläuterungen zu dem Begriff und am Schluß einige Überlegungen zu der Thematik stehen.Eine klar umrissene Beschränkung des Begriffs \"Rehabilitierung\" auf den juristischen Bereich - so wie es etwa im deutschen Sprachgebrauch üblich ist3 - läßt sich für die Sowjetunion nicht feststellen. Auch darin spiegelt sich deutlich die Vermischung von Politik und Justiz im sowjetischen Staatswesen wieder. Die letzte Auflage der Großen Sowjetenzyklopädie hellt den Sachverhalt nicht auf. Unter dem Stichwort kann man außer einer 27-zeiligen Beschreibung, was Rehabilitierung in der Medizin bedeutet - dieVgl. Beslepkin, B.T.: Reabilitazija neobosnowanno repressirowannych grazdan po delam proschlych !et, in: Sowetskoe gossudarstwo i prawo, 1990, Heft 3. S. 79-87. Katkow, N.F.: Wosstanowlenije istoritscheskoj prawdy i sprawedliwosti. Chronika reabilitazii schertw polititscheskich repressij 2050ch godow, in: Woprosy istorii KPSS, 1991, Heft 9. S. 83-92. Borissow, Ju.S./Golubew, A.W.: Polititscheskaja reabilitazija w SSSR (1950-1960-e gg.) w osweschtschenii zapadnoj istoriografii, in: Otetschestwennaja istorija, 1992, Heft 5. S. 205-209. Bojzowa, L.W./Bojzowa W.W.: Wosstanowlenije i ochrana praw schertw massowych repressij: Sostojanie i perspektiwy zakonodatel\'nogo regulirowanija, in: Gossudarstwo i prawo, 1992, Heft 6. S. 15-26. 2 Vgl. Hermann, W. [d.i. Weber, Hermann]: Die Rehabilitierungen und ihre Grenzen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu \"Das Parlament\", 5.12.1956. S. 761-780. Labedz, L.: Resurrection - and Perdition, in: Problems of Communism, Vol. XII, 1963, Heft 2. S. 48-59. Oppenheim, S.A.: Rehabilitation in the post-stalinist Soviet Union, in: The Western Political Quarterly, Vol. 20, 1967. S. 97-115. Shapiro, J.P.: Rehabilitation policy under the post-Khrushchev leadership, in: Soviet Studies, Vol. XX, 1969, Heft 4. S. 490-498. Dies.: Rehabilitation policy and political conflict in the Soviet Union, 19531964 (Diss. Columbia Univ. 1967). Ann Arbor 1977. Goudoever, A.P.van: The limits of destalinization in the Soviet Union. Political rehabilitations in the Soviet Union since Stalin. New York 1986. 3 Natürlich wird Rehabilitierung auch im umgangssprachlichen Sinne benutzt. Dennoch gibt es einen klar definierten Tatbestand \"Rehabilitierung\" im Rechtswesen, während der Ausdruck \"Rehabilitation\" meist im medizinischen Bereich angewendet wird. Vgl. auch Lehmann, H.-D.: Rehabilitierung - Beginn einer Aufarbeitung 40jähriger DDR-Justiz, in: Kritische Justiz, 23, 1990. S. 185-192. C. Tischler: Rehabilitierung von Stalin-OpfernJHKJ993 119lapidare Definition \"Wiederherstellung der Rechte\" lesen.4 Ausführlicher behandelte die erste Auflage den Eintrag und wies damit auch darauf hin, daß der Vorgang der Rehabilitierung älter ist als der der Entstalinisierung. Der Band erschien im Jahre 1941. Rehabilitierung, so heißt es dort, sei die Wiederherstellung der Rechte eines Bürgers oder die Wiederherstellung seiner Ehre, seiner persönlichen Würde und seines Rufes im Falle der Haltlosigkeit von Gründen oder Umständen, die den Verlust oder die Beschränkung der Rechte hervorgerufen bzw. der Ehre, der persönlichen Würde oder dem Ruf Schaden zugefügt haben. Ferner wird darauf hingewiesen, wer zur Rehabilitierung ermächtigt sei, nämlich Organe der Staatsmacht, das Gericht, die Staatsanwaltschaft und Organe der staatlichen Verwaltung. Ebenso seien - soweit Mitglieder dieser Organisationen betroffen sind - gesellschaftliche Organisationen wie die Partei, der Komsomol, die Gewerkschaft und andere Organisationen zur Rehabilitierung befugt.5 Ziel der Rehabilitierung, so ist es in einem juristischen Wörterbuch von 1956 formuliert, sei die Wiederherstellung des guten Namens des zu Unrecht Beschuldigten in der Öffentlichkeit sowie die Anullierung der Folgen dieser Beschuldigung, soweit dies möglich ist.6Die Formulierung \"den guten Namen wiederherstellen\", mit der Rehabilitierung im russischen Sprachgebrauch häufig umschrieben wird, findet in westlichen Forschungen ihre Entsprechungen. So heißt es über die Zeit nach dem XX. Parteitag, daß man begann, \"die Namen der von Stalin Verfemten reinzuwaschen\", und über die in diesem Zusammenhang rehabilitierten Mitglieder des Zentralkomitees, \"(that) their names had been restored with praise to Soviet historiography\"8. Diese Umschreibungen allein genügen aber nicht, den Gegenstand adäquat zu erfassen. Das Vorhandensein unterschiedlicher Aspekte, die der Vorgang der Rehabilitierung beinhaltet, hat in der Forschung dazu geführt, mehrere Kategorien von Rehabilitierung aufzustellen. Dies reicht von einer Zweiteilung9 (rechtliche und politische Rehabilitierung) über eine DreiteilunglO (formale, öffentliche und posthume Rehabilitierung) bis zu der Aufstellung von fünf verschiedenen Arten der Rehabilitierungl 1 Uuristische, physische, öffentliche, vollständige und historische Rehabilitierung). Das Manko solcher Klassifikationen besteht in der Tatsache, daß sie aufgrund der teilweisen typologischen Überschneidungen und der unpräzisen sowjetischen Angaben über Rehabilitierungen in den Untersuchungen kaum benutzt werden konnten. Es ist dennoch wichtig, sich der Vielgestaltigkeit von Rehabilitierung bewußt zu sein. Aus diesem Grunde werden folgende Erläuterungen vorangestellt.- Der Prozeß der Rehabilitierung beginnt mit einer rechtlichen Rehabilitierung. Manchmal endet er auch damit.- Handelte es sich um ein Mitglied der Partei, so ist mit der rechtlichen Rehabilitierung nicht automatisch die Wiederaufnahme in die Partei verbunden. Diese wird durch ein gesondertes Verfahren erreicht werden. Seit 1956 wird bei einer positiven rechtlichen Entscheidung auch die Parteimitgliedschaft als ununterbrochen anerkannt.4 Vgl. Bolschaja sowetskaja encziklopedija. Bd. 21. Moskwa 1975. Sp. 1536. 5 Vgl. Bolschaja sowetskaja encziklopedija. Bd.48. Moskwa 1941. Sp. 333/334. 6 Vgl. Juridischeskij slowar\'. Bd. 2. Moskwa 1956. S. 318. 7 Hermann, a.a.O., S. 761. 8 Shapiro, Rehabilitation policy under the post-Khrushcher leadership, a.a.O., S. 490. 9 Vgl. Labedz, a.a.O., S. 52 und Oppenheim, a.a.O., S.111. 10 Vgl. van Goudoever, a.a.O., S. 7-9. 11 Vgl. Shapiro, Rehabilitation policy and political conflict, a.a.O., S. 310. 120 JHK 1993Aufsätze und Miszellen- Ein Teil der Rehabilitierungen wurde nicht öffentlich vollzogen und ihr Wert ist deshalb umstritten. Dennoch sind die nocht öffentlichen Rehabilitierungen als solche aufzufassen.- Verfügungen über Rehabilitierungen regeln nicht die Frage von Entschädigungen. Hierfür sind eigene Gesetze zuständig.Die drei Phasen der Rehabilitierung von Stalin-OpfernRehabilitierung von Stalin-Opfern hat es durchgängig gegeben. Dennoch sind drei Phasen auszumachen, in denen Rehabilitierungen auffällig gehäuft auftraten.Die erste Phase: 1939 bis 1941Im Dezember 1938 wurde der Kommissar für Inneres Jeschow durch Berija abgelöst, und sowohl im damaligen Bewußtsein als auch in der späteren Historiographie wurde das als ein Zeichen der Wende gewertet. Dies ist auch an der Bezeichnung \"Jeschowschtschina\" für die Jahre des großen Terrors 1936/38 abzulesen. Die Verhaftungen hörten unter Berija nicht schlagartig auf, aber sie wurden zunächst spürbar weniger.Schon Mitte 1938 erschienen in Zeitungen Sammelinserate, in denen Stellen im Hochschulbereich ausgeschrieben wurden. Alle Institutionen waren durch die Massenverhaftungen in ihrem Weiterbestand gefährdet. Dies galt auch für die Rote Armee. Möglicherweise war der Druck aus dieser Richtung mitentscheidend, den Prozeß der Verhaftungen, der eine Eigendynamik bekommen hatte, zu unterbrechen. Chruschtschow behauptete, daß auf Plenarsitzungen des Zentralkomitees Ende der dreißiger Jahre die Überspitzung der Verhatlungswellen diskutiert wurde und Stalin \"in der Rolle des wackeren Streiters gegen diese Ausschreitungen aufgetreten\" sei.12 Berija soll eine Rehabilitierungskommission eingesetzt haben, aufgrund deren Arbeit etwa 3.000 höhere Offiziere überprüft und in die Armee wiederaufgenommen worden seien.13Über die Zahl der zu diesem Zeitpunkt aus den Gefängnissen und Lagern Entlassenen gibt es keine genauen Angaben. Schätzungen gehen von über 100.000 Freigelassenen aus.14 Zumindest diejenigen, die wieder Funktionen übernahmen - sei es in der Armee oder in der Partei -, dürften schon zu diesem Zeitpunkt rehabilitiert worden sein.Es mag ungewöhnlich sein, die erste Rehabilitierungswelle von Stalin-Opfern zu Lebzeiten Stalins anzusetzen. In der Tat gibt es zu dieser Phase nur geringe Hinweise, und auch in der neuesten Forschungsliteratur wird der Beginn der Rehabilitierungen erst mit Stalins Tod angesetzt. Die einzige Ausnahme macht Labedz: \"But these rehabilita-12 Chruschtschow erinnert sich. Die authentischen Memoiren. Hrsg. von Strobe Talbott. Reinbek 1992 (Erstausg.: Boston 1970). S. 217. In der Zeitung \"Moskowskije nowosti\", Nr. 25/21.6.1992, S. 18f. erschien neben anderen Dokumenten eine von Molotov und Stalin unterzeichnete Verordnung, die den Organen des NKWD und der Staatsanwaltschaft die Durchführung von Massenverhaftungen oder aussiedlungen verbietet. Sie trägt das Datum vom 17. November 1938.13 Vgl. Rauch, Georg von: Geschichte der Sowjetunion. Stuttgart 1990 (Erstausg. 1955). S. 287. 14 Weißberg-Cybulski, Alexander: Hexensabbat. Frankfurt/M. 1951. S. 470. Solche Zahlenangaben sindnatürlich - wie alle Zahlenangaben in diesem Überblick - als Richtwerte und nicht als feststehende Tatsachen anzusehen. Dies gilt um so mehr für die Berechnungen Weißbergs, der sie als Häftling nur aufgrund seiner Beobachtungen machen konnte. C. Tischler: Rehabilitierung von Stalin-OpfernJHK 1993 121tions\", so schränkt er ein, \"concerned professionals and were result of the tyrant\'s grace and favor, granted only when the need for the ex-victims\' services was realized. Unlike the post-Stalinist rehabilitations, they had no immediate political significance.\" 15Die zweite Phase: 1953 bis 1964Galt die erste Rehabilitierungsphase den Spezialisten, so die zweite den Kommunisten. Bezeichnenderweise beziehen sich die Veröffentlichungen über diese Phase und die Zahlen, die in der letzten Zeit in der Sowjetunion dazu publiziert wurden, in den meisten Fällen auf die Rehabilitierung im Parteisinne. Es ist anzunehmen, daß dies das lange vorherrschende Bild mitprägte, jenes nämlich, daß die Verfolgungen im wesentlichen eine parteiinterne Angelegenheit waren. Auch der von Chruschtschow auf dem XXII. Parteitag 1961 unterbreitete Vorschlag über die Errichtung eines Denkmals in Moskau weist in diese Richtung. Es sollte dem Andenken der großen Partei- und Staatsmänner dienen, die Opfer Stalins geworden waren.Der Zeitraum zwischen Stalins Tod im März 1953 und der Rede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag 1956 wurde als \"stille Entstalinisierung\" bezeichnet.16 Analog dazu könnte man von \"stiller Rehabilitierung\" sprechen. Sie betraf zuerst die Opfer der Nachkriegsverfolgungen. Das Komitee für Parteikontrolle prüfte in dieser Zeit die Anträge von 1.844 Personen, die aus der Partei ausgeschlossen worden waren, weil sie sich während des Krieges auf okkupiertem Gebiet befanden oder in Kriegsgefangenschaft geraten waren. 342 von ihnen wurden in die Partei wiederaufgenomen.17 Am 8. September 1955 trat eine bis in die letzte Zeit gültige Verfügung des Ministerrats in Kraft, nach der Rehabilitierten Lagerhaftzeit bei der Berechnung von Pensionen berücksichtigt wird. Ausserdem hat ein Rehabilitierter seither Anspruch auf zwei seinem letzten Verdienst vor der Verhaftung entsprechende Monatsgehälter. Auch soll er bei der Zuteilung von Wohnraum vorrangig berücksichtigt werden.Eine am 31. Dezember 1955 gegründete Kommission untersuchte speziell die Repressionen gegenüber Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees der Partei, die auf dem XVII. Parteitag 1934 gewählt worden waren.18 Sie hat die Vorarbeit für Chruschtschows bekannte Rede geleistet. In dieser Rede nannte der Generalsekretär die Zahl von 7 .679 Rehabilitierten seit 1953.Die dem XX. Parteitag folgende offene Entstalinisierung brachte vielen die Rehabilitierung, die früher Leitungsfunktionen in Partei, Armee, Staat und Wirtschaft eingenommen hatten. Es waren aber nur solche, die die Politik Stalins unterstützt hatten. Die Anhänger oppositioneller Strömungen der zwanziger Jahre befanden sich nicht darun-15 Labedz, a.a.O., S. 48. 16 Vgl. Goudoever, a.a.O., S. 11. 17 Reabilitazija. Politischeskie prozessy 30-50ch godow. Moskwa 1991. S.74. 18 Katkow, a.a.O., S. 84. Bereits 1954 waren eine zentrale und mehrere örtliche Kommissionen gebildetworden, die die Akten der zwischen 1934 und 1953 politischer Verbrechen Beschuldigten durchsehen sollten (ebenda, S. 83). Auch Chruschtschow erwähnt einen Untersuchungsausschuß (Chruschtschow erinnert sich, a.a.O., S. 322 ff.). Es ist weiterhin nicht klar, wieviel Kommissionen mit welcher Kompetenzverteilung bestanden haben. 122 JHK 1993Aufsätze und Miszellenter.19 Die Zahl der Rehabilitierungen erhöhte sich bis zum XXII. Parteitag 1961 auf 737.182 Personen.20Die Motive, die hinter den Rehabilitierungen der Chruschtschow-Zeit standen, mögen vielfältig gewesen sein: Ausschaltung der an den Säuberungen beteiligten Chruschtschow-Gegner Malenkow, Molotow und Kaganowitsch, Abschwächung des Machteinflusses der Sicherheitsorgane, aber auch der Druck derjenigen, die nach Stalins Tod nach und nach aus den Lagern und Verbannungsorten zurückkehrten. Nach dem Sturz Chruschtschows im Jahre 1964 verloren diese Motive ihre Grundlage, und Rehabilitierungen fanden nur noch vereinzelt statt.21Die dritte Phase: 1985 bis 19911985 wurde Gorbatschow neuer Generalsekretär der KPdSU. Mit seiner Amtsperiode ist die größte Rehabilitierungswelle verbunden. Sie begann zunächst verhalten, bis schließlich der Verlauf der Rehabilitierung - wie andere Vorgänge auch - von den Ereignissen überrollt wurde. Um den Rehabilitierungsvorgang zu steuern, wurde wiederum eine Kommission eingesetzt, die die Verfahren vorbereiten sollte. Ungefähr 400 Personen wurden seit 1985 vom Obersten Gericht der UdSSR rehabilitiert,22 als sich die Kommission 1987 konstituierte. Sie trug den Namen \"Kommission beim Politbüro des ZK der KPdSU zum ergänzenden Studium des Materials, das im Zusammenhang mit den Repressionen der dreißiger, vierziger und zum Beginn der fünfziger Jahre steht\". Ihr stand nicht nur das Material der Vorgängerkommission von 1955 zur Verfügung, sondern ergänzend wurden vier Institutionen - das Komitee für Parteikontrolle beim ZK der KPdSU, das Institut für Marxismus-Leninismus, die Staatsanwaltschaft und das Komitee für Staatssicherheit - verpflichtet, der Kommission die für ihre Arbeit erforderlichen Unterlagen zur Verfügung zu stellen. M.S. Solomenzew, der seit der Gründung am 28. September 1987 ihr Vorsitzender war, wurde in dieser Funktion ein Jahr später von A.N. Jakowlew abgelöst. Auf den elf Sitzungen, die zwischen 1988 und 1990 abgehalten wurden, befaßte sich die Kommission hauptsächlich mit den verschiedenen \"Zentren\", \"Blöcken\", \"Oppositionen\", \"Gruppen\" und \"Organisationen\", denen die Verhafteten zugeordnet waren. Neben denjenigen, die für die drei Schauprozesse konstruiert worden waren (\"antisowjetisches vereinigtes trotzkistisch-sinowjewistisches Zentrum\", \"paralleles antisowjetisches trotzkistisches Zentrum\" und \"antisowjetischer rechtstrotzkisti-19 Vgl. Hermann, a.a.O., S. 780. Oppenheim, a.a.O., S. 102. Shapiro,Rehabilitation policy and political conflict, a.a.O., S. 2. Die Begründung Chruschtschows, warum nur ein Teil der Parteiführer in seiner Rede als rehabilitiert angesprochen wurde, verdient an dieser Stelle, zitiert zu werden: \"Der Grund für unsere Entscheidung war, daß Vertreter kommunistischer Bruderparteien zugegen gewesen waren, als Rykow, Bucharin und andere Führer des Volkes vor Gericht standen und verurteilt wurden. Diese Vertreter waren dann zurückgefahren und hatten in ihren Ländern die Gerechtigkeit der Urteile bezeugt. Wir wollten die Vertreter der Bruderparteien, die den öffentlichen Prozessen beigewohnt hatten, nicht in Mißkredit bringen und verschoben deshalb die Rehabilitierung von Bucharin, Sinowjew, Rykow und den übrigen auf unbestimmte Zeit.\" in: Chruschtschow erinnert sich, a.a.O., S. 331.20 Katkow, a.a.O., S. 85. Bojzowa/Bojzowa, a.a.O., S. 16, geben für den Zeitraum von 1953 bis zur ersten Hälfte der sechziger Jahre die Zahl der Rehabilitierten mit mehr als eineinhalb Millionen an.21 Zu den Motiven vgl. Shapiro, Rehabilitation policy under the post-Khrushcher leadership, a.a.O., S. 491 ff. Sie behandelt in diesem Aufsatz auch die Rehabilitierungen zumindest der frühen BreschnewZeit.22 Recht in Ost und West, Jg. 33, 1989. S. 32. C. Tischler: Rehabilitierung von Stalin-OpfernJHK 1993 123scher Block\"), hatte man eine ganze Reihe solcher fiktiver Gruppen gebildet wie \"Vereinigung der Marxisten-Leninisten\", \"Moskauer Zentrum\", \"Gruppe Arbeiteropposition\", \"Leningrader Angelegenheit\" und \"Jüdisches Antifaschistische Komitee\", um nur einige zu nennen.23Diese Arbeit der Kommission hatte Ähnlichkeit mit derjenigen unter Chruschtschow. Sie bezog sich aber nicht nur auf Stalinanhänger. Insofern schloß die Kommission die seit Chruschtschow verbliebenen Lücken. Dennoch blieb ihre Tätigkeit selektiv. Von der Partei initiiert und kontrolliert, blieb die Arbeit der Kommission im wesentlichen auf bekanntere und weniger bekannte Parteimitglieder beschränkt. Parallel zu dieser Rehabilitierung von oben setzte ein gesellschaftlicher Druck ein, allen Opfern des Stalinismus Rechtfertigung widerfahren zu lassen. Artikuliert wurde dieser Druck von Bürgerbewegungen wie der 1988 gegründeten Gesellschaft \"Memorial\". Das Bemühen, die Stalinsehen Verfolgungen insgesamt in die Rehabilitierungen einzubeziehen, fand schließlich seinen Ausdruck in drei Verfügungen.Die erste Verfügung wurde vom Politbüro des ZK am 11. Juli 1988 erlassen. Sie lautete: \"Über zusätzliche Maßnahmen bezüglich der Vollendung der Arbeit, die im Zusammenhang mit der Rehabilitierung von Personen steht, die in den dreißiger, vierziger und zu Beginn der fünfziger Jahre unbegründeten Repressionen ausgesetzt waren.\"24 Während zur Breschnew-Zeit eine Durchsicht der Akten immer nur auf persönlichen Antrag hin erfolgt war, wurden die der Staatsanwaltschaft und dem Komitee für Staatssicherheit unterstehenden örtlichen Organe nun angewiesen, von sich aus die Verfahren von Beschuldigten zu überprüfen. Innerhalb von bestimmten Fristen sollten die Zentralorgane über die Durchführung dieser Arbeit durch die örtlichen Behörden der Kommission Bericht erstatten. Den Zentralkomitees der Partei auf Republiksebene und den Gebiets-Parteistellen wurde nahegelegt, parallel zur juristischen Rehabilitierung Verfahren zur Wiederherstellung der Parteimitgliedschaft durchzuführen.Die zweite Verfügung des Politbüros, die am 5. Januar 1989 unter dem Titel \"Über zusätzliche Maßnahmen bezüglich der Wiederherstellung der Gerechtigkeit für Repressionsopfer der dreißiger, vierziger und zu Beginn der fünfziger Jahre\" erlassen wurde, enthielt erste konkrete Durchführungsbestimmungen.25 Alle Staatsbürger, die durch die sogenannten nichtgerichtlichen Organe - Trojka und Sonderräte - abgeurteilt worden waren, sollten als rehabilitiert angesehen werden. Ausgenommen von dieser Regelung wurden Vaterlandsverräter, Angehörige von Strafkommandos des Zweiten Weltkriegs, Naziverbrecher, Teilnehmer und Mithelfer nationalistischer Banden, Personen, die vorsätzlich Mord oder andere Verbrechen .verübt hatten, sowie solche, die an den Repressionen unmittelbar aktiv beteiligt waren. Zur Kontrolle der Ausführung wurde nicht mehr die Rehabilitierungskommission verpflichtet, sondern die beiden Abteilungen für Staat und Recht bzw. für Ideologie beim ZK der KPdSU.Die Einschränkungen lassen erkennen, daß mit dieser Verfügung keine pauschale Rehabilitierung gemeint sein konnte. Eine Durchsicht der Dokumente mußte nach wie vor vorgenommen werden. Mehr als die Hälfte der Stalin-Opfer soll durch die in diesem23 Ausführlich dokumentiert wurden die Hintergründe dieser Fälle in der 1989 bis 1991 wieder erschienenen Zeitschrift Izvestija ZK KPSS. Ein Teil dieses Materials, zusammen mit einigen anderen Dokumenten, ist in dem Band Reabilitazija (vgl. Anm. l7) zusammengestellt.24 Unter anderem abgedruckt in: Reabilitazija, a.a.O., S. l 6. 25 Ebenda, S. 17 f. 124 JHK 1993Aufsätze und MiszellenErlaß erwähnten außergerichtlichen Organe verurteilt worden sein.26 Aufgrund der Verfügung wurden im Laufe des Jahres 1989 807.288 Personen juristisch rehabilitiert. 21.333 Personen stufte man nach Prüfung ihrer Akten unter die Ausnahmen ein. Daneben wurden aber auch die Urteile von 31.342 Personen, deren Verfahren von Gerichten geführt worden waren, aufgehoben. Neunzig Prozent der Rehabilitierungen erfolgten posthum.27Der dritte Erlaß \"Über die Herstellung der Rechte aller Opfer politischer Repressionen der zwanziger bis fünfziger Jahre\" vom 13. August 1990 verurteilte auch diejenigen Verbrechen, die im Zusammenhang mit der \"Entkulakisierung\" den Bauern gegenüber verübt worden waren. Unter das gleiche Verdikt fiel die Verschickung von Familien in entfernte Regionen und die Verfolgung von Gläubigen.Nach Verabschiedung dieses Ukas gab es keine weiteren Bekundungen dieser Art, weil die Ausgestaltung der Gesetze den politischen Manifestationen nicht mehr nachkam. Ein Unionsgesetz über das Verfahren der Rehabilitierung wurde zwar vom Obersten Sowjet in erster Lesung am 8. Juli 1991 gebilligt. In Kraft trat es jedoch vor dem Auseinanderfallen der Sowjetunion nicht mehr.28Einige Forscher behaupten, die Rehabilitierung der Opfer Stalins sei nun vollendet.29 Dies gilt vielleicht auf der Ebene der Verlautbarungen. Was ihre Durchführung betrifft, so sind die Verfahren noch lange nicht abgeschlossen. Gesetze, die die Ausführung der Rehabilitierung in Rußland regeln, sind noch nicht fertiggestellt. In der angegebenen Literatur trifft man nur auf wenige Hinweise, wie bisher verfahren wurde. Bei der Staatsanwaltschaft und beim KGB wurden Arbeitsgruppen gebildet, die die Akten der bisher nicht Rehabilitierten sichten. Bei weniger schwerwiegenden Urteilen (antisowjetische Agitation) kann die Bescheinigung über die Rehabilitierung direkt von der Staatsanwaltschaft ausgestellt werden. Im Falle einer Ablehnung durch die Staatsanwaltschaft entscheidet in letzter Instanz ein Gericht. War die Beschuldigung konterrevolutionärer Verbrechen Grund für die Verurteilung, muß die Rehabilitierung von einem Gericht nach Sanktionierung durch die Staatsanwaltschaft vorgenommen werden. Entscheidungen über die Rehabilitierung von Personen, die verbannt oder ausgesiedelt wurden, kann das Innenministerium treffen.30Vieles blieb in dem vorliegenden Überblick unberücksichtigt. Die biographische Dimension der Rehabilitierung und damit gleichzeitig der Verfolgung unter Stalin wurde gänzlich ausgespart. Über sie gibt inzwischen die Literatur ausführlich Auskunft. Nur flüchtig angesprochen wurden die Intentionen, die die Rehabilitierungen begleiteten. Die Erklärungsansätze, die bisher für die Chruschtschow-Zeit unternommen wurden, konn-26 Vgl. Katkow, a.a.O., S. 87. 27 Vgl. \"O chode wypolnenija postanowlenij ZK KPSS ot 11 ijulja 1988 goda i 5 janwarja 1989 goda powoprossam reabilitazii liz, neobosnowanno repressirowannych w 30-40ch i natschale 50ch godow\"; In: Iswestija ZK KPSS, 1990, Heft 8. S. 62. 28 Vgl. Bojzowa/ Bojzowa, a.a.O., S. 17. Unter den angegebenen Werken behandeln diese Autorinnen die Ausgestaltung der Rehabilitierung in den einzelnen Republiken bzw. nun souveränen Staaten am ausführlichsten. 29 Vgl. Borissow/ Golubew, a.a.O., S. 209: \"Nun ist die Rehabilitierung derjenigen, die unter dem Terror der 30-50er Jahre gelitten haben, praktisch abgeschlossen, und es findet ein Prozeß der Rehabilitierung derjenigen statt, die seit 1917 litten, inklusive der tatsächlich aktiven Gegner der Bolschewiken.\" 30 Vgl. Bojzowa/ Bojzowa, a.a.O., S. 16, Anm. 8 und S. 21. C. Tischler: Rehabilitierung von Stalin-OpfernJHK 1993 125ten aufgrund der Quellenlage bisher keine internen Vorgänge einbeziehen. Dies gilt im gleichen Maße für die letzten Jahre. Unerforscht ist auch die Phase der Rehabilitierung unter Stalin. Ob tatsächlich im wesentlichen Spezialisten, d.h. für bestimmte Aufgaben benötigte Personen, von ihr erfaßt wurden, kann an dieser Stelle nur als Frage gestellt werden.Eine lohnende Aufgabe wären sozialpsychologische Untersuchungen über die Einstellung der Bevölkerung zu Rehabilitierungen. Für einen außerhalb der sowjetischen Gesellschaft Stehenden ist es zuweilen erstaunlich, mit welcher Akzeptanz sie die Rehabilitierungen, die von den gleichen Organen und in ähnlichen institutionellen Abläufen wie die Repression vorgenommen werden, aufnimmt. Damit verbunden sind Fragen nach der Stellung des Rehabilitierten in der Gesellschaft. Die Behandlung durch Behörden und soziales Umfeld wird zeitlich und regional sehr unterschiedlich gewesen sein, so daß erst Einzelstudien hierüber Auskunft geben können.Rehabilitierungen bewirkten, daß man Personen Interesse entgegenbrachte, die vorher verfemt waren. Verbunden damit war aber auch häufig der umgekehrte Fall. Andere wurden zu Unpersonen erklärt. Symptomatisch ist dafür eine von Labedz wiedergegebener Hinweis, wonach die Bezieher der zweiten Auflage der Sowjetenzyklopädie nach Berijas Verhaftung und Erschießung einen Ersatzartikel über die Beringstraße zugeschickt bekamen mit der Anleitung, wie er mit Schere oder Rasierklinge einzufügen sei.31 Ob erfunden oder wahr - die Anekdote spiegelt das Verhältnis zur eigenen Geschichte wider. So positiv die Rehabilitierung der Opfer des Stalinismus zu werten ist, so gefährlich wäre eine Verdrängung der vergangenen fünfundsiebzig Jahre.31 Vgl. Labedz, a.a.O., S. 59.

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