JHK 1993

Gedanken zu Lenin (über die Mittel-Zweck-Relation in der Politik)

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 145-159

Autor/in: Wolfgang Ruge (Potsdam)

1. Wladimir Uljanow ist fast 70 Jahre tot, doch das Thema \"Lenin\" hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil: Seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus, des­ sen Schicksal - das gilt auch für die DDR - sich in dem von Lenin begründeten Sowjet­ staat entschied, hat es noch an Bedeutung gewonnen. Zudem berührt es die Zukunft: Da das von Lenin gestartete Sozialismus-Experiment das bisher einzige in der Geschichte ist, wirft sein Scheitern generell die Frage nach der Realisierbarkeit der sozialistischen Idee auf.Von bleibender Aktualitat ist auch die über die Sozialismus-Problematik hinausrei­ chende und den Vergleich mit anderen politischen Praktiken aufdrängende Frage nach dem Verhältnis von Mittel und Zweck bei der Gesellschaftsgestaltung, nach der Verein­ barkeit von Weg und Ziel, nach ihrer wechselseitigen Beeinflussung.2. Geht man in der Auseinandersetzung über die berüchtigte Maxime vom Zweck, der die Mittel heilige, von humanistischen Prämissen aus, läßt sich die gezielte Massenver­ nichtung von Menschen (etwa die Tötung von acht Millionen \"Hexen\" und \"Hexenmei­ stern\" in vier mittelalterlichen Jahrhunderten) selbst dann mit keinerlei Zweck rechtfer­ tigen, wenn man einräumt, daß für den Schutz menschlichen Lebens unter Umständen auch Kampf und folglich Opfer in Kauf genommen werden müssen. Eine Rechtfertigung ist um so weniger angebracht, als sich der vorgegebene Zweck letztlich stets als frag­ würdig erwiesen hat. Das betrifft den allein selig machenden Glauben, den die Inquisi­ tion vorschützte, ebenso wie die millionenfach Kanonenfutter verschlingende \"Ehre des Vaterlandes\" oder den gerade auch seinen eigenen Anhängern gegenüber gefräßigen Sozialismus sowjetischen Typs.So wurden seit jeher namens geheiligter Mittel ungeheuere Opfer für Trugbilder er­ bracht.Möglich war dies offenbar, weil den in der Politik zur Anwendung gelangenden Mit­ teln die Tendenz innewohnt, sich zu verselbständigen, zum eigentlichen Inhalt und damit 146 JHK 1993Forumzum Zweck der Politik zu werden, das ursprünglich ins Auge gefaßte Ziel zu verändern, zu verdrängen, ja in sein Gegenteil zu verkehren.Diese Tendenz tritt offenbar dort am krassesten hervor, wo einerseits besonders ungünstige objektive Bedingungen für die Erreichung des Zieles gegeben, andererseits aber äußerst zielstrebige, sich auf die Mittel und Methoden konzentrierende subjektive Kräfte am Werke sind. Dies war zweifellos in Rußland nach 1917 der Fall. So kann man sich schwer der Schlußfolgerung erwehren, daß der eklatante Widerspruch zwischen Mitteln und Zweck eine der Ursachen für das Scheitern des gewaltigen Unterfangens ist, das seinerzeit von Lenin in Angriff genommen wurde.3. Zunächst zu Lenins Ziel: Es besteht kein begründeter Zweifel daran, daß er von der Notwendigkeit ausging, Ausbeutung, Unterdrückung und Entrechtung abzuschaffen, und überzeugt war, dies durch die Errichtung einer sozialistischen Ordnung erreichen zu können. Herkunft, Lebensumstände und frühe Erfahrungen prädestinierten ihn zur Orientierung an humanistischen Idealen. Niedere Motive sind bei ihm auszuschließen. Durch gesellschaftliches Engagement und wissenschaftliche Studien entwickelte er sich zum Anhänger und (wie er meinte) theoretisch schöpferischen Verfechter des Marxismus.4. Über Lücken und Brüche in Lenins theoretischem Werk ist viel geschrieben worden. Darauf kann hier im einzelnen nicht eingegangen werden. Angemerkt werden soll lediglich, daß der Kern der darin aufspürbaren Widersprüche (die sich bis zu Marx und Engels zurückverfolgen ließen) offenbar in der Unvereinbarkeit zweier seiner Grundüberzeugungen besteht, nämlich einerseits der Auffassung, daß die gesellschaftlichen Prozesse nach ökonomisch determinierten Gesetzen ablaufen, andererseits der vermeintlichen Gewißheit, daß diese Gesetze von den ihren Intentionen gemäß handelnden Menschen durchgesetzt werden. Bemerkenswert ist dabei, daß er - wie viele andere große Denker vor ihm - die Zeit, in die er hinein geboren wurde überbewertete, indem er sie als grundlegende Zäsur im menschlichen Handeln betrachtete: Vorher seien die Menschen unbewußt den Gesetzen gefolgt, nun aber hätten sie (und namentlich er selbst) dieselben zumindest ihrer Wesenheit nach erkannt und verhälfen ihnen bewußt zum Durchbruch.1905 schrieb Lenin, daß das Wirtschaftsleben in Rußland in allen seinen Grundzügen bürgerlich (kapitalistisch) geworden sei und deshalb ein bürgerlicher Überbau errichtet werden müsse. 1916 wiederholte er den bereits 1894 geäußerten Gedanken, daß die fortgeschrittene Vergesellschaftung der Produktion eine sozialistische Organisation der Gesellschaft erheische. Er trennte also die sich \"von selbst\" entwickelnde Ökonomie von der gewissermaßen als technisches Hilfsmittel zur Bewältigung der anstehenden Machtveränderungen einzusetzenden Politik.Dieses Herangehen schlug sich unter anderem in seiner Revolutionstheorie und in seiner Lehre von der Partei nieder: Er vertrat die Ansicht, daß die künftige herrschendeVgl. Lenin: Sozialistische Partei und parteiloser Revolutionismus, in: Lenin, W.I.: Werke. Berlin 1957 ff. (im folgenden: Werke). Bd. 10. S. 62. 2 Vgl. ders.: Was sind die \"Volksfreunde\" und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten? (Werke. Bd. 1. S. 170). 3 Vgl. ders.: Rohentwurf der Thesen für einen offenen Brief an die Internationale Sozialistische Kommission und an alle sozialistischen Parteien (Werke. Bd. 23. S. 215). W. Ruge: Gedanken zu LeninJHK 1993 147Klasse, das Proletariat, infolge der ökonomischen Entwicklung eo ipso wachse und erstarke, ihre Machterhebung aber nicht spontan, sondern dank des revolutionären Knowhow der Politikkundigen erfolge. Ähnlich auch seine Imperialismustheorie: Sie besagte, der (schon im ersten Weltkrieg!) in sein höchstes und letztes Stadium eingetretene Kapitalismus habe zur \"vollständige[n] materielle[n} Vorbereitung des Sozialismus\" geführt,4 sei aber, weil ökonomische Basis einerseits und Herrschafts- und Rechtssystem andererseits nicht mehr einander entsprächen, der Fäulnis anheimgefallen. Die dadurch entstandene Gesellschaftskrise könne nur durch die revolutionäre Tat der Systemgegner, also durch die Überwindung des Kapitalismus, gelöst werden.5. Nun steht Lenin als Gesellschaftstheoretiker neben vielen anderen. Einmalig und von weltgeschichtlicher Bedeutung ist hingegen seine Rolle als revolutionärer Praktiker,5 als Organisator der Oktoberrevolution und Begründer des Sowjetstaates. Hiervon sollte bei der Untersuchung des Phänomens Lenin ausgegangen werden.Daß Lenin vor allem als Pragmatiker gesehen werden muß, erhellt auch daraus, daß er immer bereit war, sich von theoretischen Erkenntnissen loszusagen, sobald die Praxis dies seines Erachtens erforderte. Als Beispiel seien nur seine der bislang auch von ihm vertretenen Theorie widersprechende These von der Möglichkeit des Sieges des Sozialimus in einem einzelnen (auch in einem ökonomisch rückständigen) Land und die in diesem Zusammenhang ausgesprochene Empfehlung des Exports der Revolution6 sowie die Aprilthesen genannt, die darauf orientierten, die sozialistische Revolution noch vor Vollendung der bürgerlich-demokratischen Umwälzung auch mit Hilfe einer vom politi-schen Rivalen entlehnten Losung (Forderung nach Grund und Boden für die Bauern)herbeizuführen. Am Ende seines Lebens bekannte er sich sogar zu dem pragmatischen Leitsatz, daß vor allem gehandelt werden müsse und sich \"das weitere [...] finden\" werde. \"Wir haben uns im Oktober 1917\", schrieb er, \"zuerst ins Gefecht gestürzt unddann solche Einzelheiten der Entwicklung [...l zu sehen bekommen wie den BresterFrieden oder die NÖP usw.\"7 Wenn er dazu bagatellisierend erläuterte, Brest und die Neue Ökonomische Politik seien \"vom Standpunkt der Weltgeschichte aus\" Einzelheiten, so ist dem entgegenzuhalten, daß es sich bei der Koexistenz mit dem Kapitalismus, um die es in Brest ging, und bei der Preisgabe der ursprünglichen Wirtschaftskonzeption des Sowjetstaates durch die NÖP in Wirklichkeit um der theoretischen Durchdringung bedürftige Kardinalfragen der Behauptung der sozialistischen Revolution inmitten einer kapitalistischen Umwelt handelte.4 Ders.: Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll (Werke. Bd. 25. S. 370). \"Es gibt\", führt Lenin weiter aus, \"zwischen dieser Stufe und derjenigen, die Sozialismus heißt, keinerlei Zwischenstufen mehr\" (ebenda).5 Bemerkenswert ist, daß auch Lenins \"rein theoretische\" Arbeiten weniger den Bereich der Theorie als die unmittelbare Praxis beeinflußten. So hat sein \"Materialismus und Empiriokritizismus\" keine neuen theoretischen Impulse ausgelöst, aber entscheidend zur jahrzehntelangen Ächtung bahnbrechender naturwissenschaftlicher Erkenntnisse (Relativitätstheorie, Quantenmechanik, später auch Kybernetik) und damit zur nachhaltigen Behinderung des technischen Fortschritts in der Sowjetunion beigetragen.6 \"... notfalls sogar mit Waffengewalt gegen die Ausbeuterklassen und ihre Staaten vorgehen\" (Lenin:Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa, in: Werke. Bd. 21. S. 346).7 Ders.: Über unsere Revolution (Werke. Bd. 33. S. 466). 148 JHK 1993Forum6. Lenin, der persönlich bescheiden war, jeden Personenkult und Privilegien für sich und seine Mitstreiter ablehnte, duldete, wenn es um politische Fragen ging, keine abweichenden Meinungen oder Widerspruch. Offenbar zutreffend hat Grigorij Sinowjew, der Lenin seit 1902 kannte, in seinen Notizen für eine Lenin-Biographie angemerkt, daß es bei dem bewunderten Parteiführer weder \"Egozentrismus\" noch etwas \"Diktatorisches\" gegeben habe, wohl aber die Erkenntnis (Empfindung) des Auserwähltseins. \"Ja\", schrieb er, \"das gab es. Sonst wäre er nicht Lenin geworden.\"8 Von daher ist auch begreiflich, daß Lenin, selbst außerordentlich flexibel und häufig abrupt seinen Standpunkt wechselnd, durchaus selbstherrlich von der Unfehlbarkeit seiner jeweiligen Position ausging und sich, wie zum Beispiel seine erpresserische Rücktrittsdrohung bei den Auseinandersetzungen um den Brester Frieden beweist, über die (damit grundsätzlich angetasteten) Regeln der kollektiven Führung hinwegsetzte, sobald sich die Mehrheit seiner Genossen nicht mit ihm einverstanden erklärte.Immer mit Blick auf die politische Praxis bestimmte Lenin auch, welche theoretischen Erkenntnisse gültig oder ungültig, welche wichtig oder unwichtig seien. Obwohl Marx in seinem ganzen Leben kaum ein Dutzend mal von der Diktatur des Proletariats gesprochen hatte, legte Lenin, die konkreten Aufgaben der nächsten Kampfetappe vor Augen, wenige Wochen vor dem Oktobersturm in \"Staat und Revolution\" apodiktisch fest, Marxist sei nur, wer diese Diktatur anerkenne.9Mit einer solchen Reglementierung der Theorie, für die sich zahlreiche weitere Beispiele anführen ließen, leitete Lenin eine Entwicklung ein, bei der nicht mehr die Probleme und die darüber gewonnenen Erkenntnisse in den Mittelpunkt des Meinungsstreits rückten, sondern die Frage nach der rechtmäßigen Interpretation der Lehre. Dies führte schließlich unter seinem Nachfolger Stalin, der sich nicht nur als genialer, sondern auch als einzig befugter Interpret des Altmeisters ausgab, dazu, daß die Theorie zum Tummelfeld der Servilität entartete, auf dem durch Zustimmung zur Interpretation der Interpretation Ergebenheit bekundet wurde.7. Die in der Theorie zu beobachtende Einengung des Blickfeldes fand naturgemäß ihr Gegenstück in der Praxis. Lenin, dessen hervorstechendste Eigenschaften wahrscheinlich Willenskraft und Zielstrebigkeit waren, konzentrierte sich bei der Führung von Kämpfen auf den als \"schwächstes Kettenglied\" in der gegnerischen Phalanx bezeichneten Punkt, der danach bestimmt wurde, wo die durch die straffe und zentrale Leitung der Revolutionären Partei gegebene Überlegenheit gegenüber einem zerrissenen oder in seinem Handlungsspielraum eingeengten Gegner optimal zur Geltung gebracht werden konnte. Auf den Sturz des relativ schwachen Zarismus ausgerichtet, kreiste Lenins gesamtes strategisches Denken um die Schaffung und dann um die Behauptung einer neuartigen omnipotenten Staatsmacht. Die Macht, die ursprünglich als Instrument zur Absicherung sozialistischer Umgestaltungen gesehen worden war, aber nach ihrer Eroberung unter den Bedingungen des inneren Widerstandes, der bewaffneten Konterrevolution und der ausländischen Intervention selbständige Bedeutung erlangte, wurde zum eigentlichen Ziel Leninscher Politik. Da er um der Macht willen bereit war, dem Volk die8 Sinowjew, G.J.: Vospominanija, in: Izwestija ZK KPSS (im folgenden: KPSS), 7/89. S. 171. 9 Vgl. Werke. Bd. 25. S. 424. Auf dieses, also sein eigenes Diktum gestützt, erklärte Lenin ein Jahr spä-ter, es sei \"allgemein bekannt\", daß \"das Wesen der Marxschen Lehre\" in der Diktatur des Proletariats bestehe (Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, Werke. Bd. 28. S. 231). W. Ruge: Gedanken zu LeninJHK 1993 149schwersten Opfer aufzuerlegen, versuchte er erst, die Massen über die Höhe des zu entrichtenden Blutzolls zu täuschen, und stellte diesen später, als diesbezügliche Illusionen durch die rauhe Wirklichkeit zerschlagen waren, als schicksalhafte Gegebenheit hin. Vor der Revolution beteuerte er, die Unterdrückung der Ausbeuter durch die Sowjetmacht sei \"eine so verhältnismäßig leichte, einfache und natürliche Sache, daß sie viel weniger Blut kosten wird als die Unterdrückung von Aufständen der Sklaven, Leibeigenen undLohnarbeiter, daß sie der Menschheit weit billiger zu stehen kommen wird\" .1 O Nach derRevolution, als jedermann um die Schrecken des Weltkrieges wußte, erklärte er hingegen: \"Jede große Revolution, und ganz besonders eine sozialistische, [ist] undenkbar ohne einen Krieg im Innern, d.h. einen Bürgerkrieg, der eine noch größere Zerrüttung als ein äußerer Krieg bedeutet.\" 118. Lenin war sich durchaus der Tatsache bewußt, daß die von den Bolschewiki angewandten Methoden in krassestem Widerspruch zu ihren sozialistischen Zielen standen. Maxim Gorki berichtet, daß Lenin einmal, nachdem er sich begeistert über eine Beethoven-Sonate und über den Schöpfer dieses \"Wunders\" geäußert hatte, \"nicht besonders fröhlich\" bemerkte: \"Doch kann ich die Musik nicht oft hören, sie greift die Nerven an, man mochte liebevolle Dummheiten sagen und den Menschen die Köpfe streicheln, die in einer widerwärtigen Rolle leben und so etwas Schönes schaffen können. Aber heutzutage darf man niemandem den Kopf streicheln - die Hand wird einem abgebissen, man muß auf die Köpfe einschlagen, mitleidslos einschlagen, obwohl wir unserem Ideal nach gegen jede Gewaltanwendung gegenüber den Menschen sind.\" Grundsätzlich widersprach er Gorki, wenn dieser die Grausamkeiten des revolutionären Alltags beklagte. \"Was wollen Sie denn?\", fragte er (\"erstaunt und zornig\"): \"Ist etwa Menschlichkeit möglich in solch einer Schlägerei von nie dagewesener Grausamkeit? Wo ist hier Platz für Weichherzigkeit und Großmut?\" 12Was Lenin aber offenbar nicht erkannte, war die zersetzende Kraft der Grausamkeit, die Rückwirkung der Mittel und Methoden auf das Ziel, das nicht nur seines Glanzes beraubt, sondern ausgehöhlt und verdrängt wurde, so daß der Kampf schließlich nicht mehr mit dem Ideal vor Augen, sondern nur noch für die Vernichtung des Gegners, für die Ausweitung der eigenen Macht geführt wurde.Genau darauf zielte aber Lenins immer und immer wieder geäußertes Drängen auf rigorosesten Einsatz der Gewalt. Während des Bürgerkrieges, in dem bekanntlich beide Seiten äußerste Brutalität an den Tag legten, beklagte er, die Sowjetmacht ähnele \"mehr einem Brei als Eisen\",13 und bestand auf Maßnahmen, die keineswegs geeignet waren, die Menschen zur Akzeptanz der neuen Ordnung und der von ihr verkündeten Ideale zu bewegen, sondern nur Angst und Abscheu vor ihr auslösen konnten. So ordnete er im August 1918 an, \"Verdächtige [also nicht etwa schuldig befundene - W.R.] Personen in Konzentrationslager [...] ein[zu]sperren\" 14 und nicht nur Verschwörer, sondern auch10 Lenin, Staat und Revolution (Werke. Bd. 25. S. 477). 11 Ders.: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht (Werke. Bd. 27. S. 255). 12 Zit. nach: Wladimir Iljitsch Lenin - Dokumente seines Lebens l 870-1924. Ausgewählt und erläutertvon Arnold Reisberg. Bd. 2. Leipzig 1977. S. 127 f. I3 Lenin: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht (Werke. Bd. 27. S. 256). 14 Ders.: Telegramm an J.B. Bosch (Werke. Bd. 36. S. 479). 150 JHK 1993ForumSchwankende zu erschießen, \"ohne irgend jemanden zu fragen oder idiotisches Herumgezerre zuzulassen\" _15Unter den Bedingungen des durch Bürgerkrieg, Hunger und Bauernaufstände erzwungenen permanenten Ausnahmezustandes schreckte Lenin nicht vor einer Neuinterpretation der Diktatur des Proletariats als elitär gelenkter Machtmaschine zurück. Hatte er noch kurz vor der Oktoberrevolution erklärt, die proletarische Diktatur sei eine \"sich unmittelbar auf die Gewalt der Massen stützende Macht\", 16 so entschied er sich nach der Revolution, als sich große Teile der Bevölkerung weder das letzte Getreide fort nehmen lassen wollten noch bereit waren, den Einberufungsbefehlen der Roten Armee zu folgen, für die Macht und gegen die Massen. Am 26. Mai 1919 telegrafierte er an den Ukrainischen Rat der Volkskommissare: \"Führen Sie die vollständige Entwaffnung der Bevölkerung durch, erschießen Sie an Ort und Stelle erbarmungslos für jedes versteckte Gewehr\"_ 17 Man könnte vermuten, daß er damit den nichtproletarischen Elementen die Waffen entwinden wollte, doch dem war nicht so: Zwei Monate später bestand er ausdrücklich auch auf der Entwaffnung der Arbeiter, \"damit sich dort [im Uralgebiet W.R.] nicht eine verhängnisvolle Partisanenbewegung entwickele\".18 Vom bewaffneten Volk war nun nicht mehr die Rede. Jetzt hieß es: \"Wichtig für uns ist, daß die Tscheka unmittelbar die Diktatur des Proletariats verwirklicht, und in dieser Hinsicht kann ihre Rolle nicht hoch genug eingeschätzt werden.\"19Wohin diese Hochschätzung der jeder Kontrolle entzogenen und schließlich nur noch einem Diktator unterstellten Geheimpolizei in den späten zwanziger und namentlich in den dreißiger und vierziger Jahren führte, ist bekannt: Lenins Mitstreiter und Hunderttausende der fähigsten Funktionäre wurden ermordet, Millionen Parteimitglieder wanderten in die Straflager, die von Lenin als Avantgarde des Volkes konzipierte Partei verwandelte sich in das Anhängsel eines staatsterroristischen Regimes.9. Lenin, der oftmals das programmatische Versprechen abgegeben hatte, die \"allgemeine Beteiligung der gesamten Masse der Bevölkerung an allen Staatsangelegenheiten\" zu sichern,20 also ein völlig neues Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten herzustellen, kam nicht umhin, sich der eingefahrenen Staats\"kunst\" früherer Herrscher zu bedienen und Mittel anzuwenden, die in krassem Gegensatz zu dem von ihm verkündeten Ziel standen. Das Auseinanderklaffen von Worten und Taten resultierte jedoch nur zu einem geringen Teil daraus, daß er durch veränderte Umstände zu einem Sinneswandel gezwungen wurde. Vielmehr entsprach diese Zweigleisigkeit in den meisten Fällen und insofern wurde eben kein grundsätzlich neuer politischer Stil kreiert - Lenins vorsätzlicher Taktik, Kritik an unpopulären Maßnahmen durch wohlklingende Schlagworte abzufangen. So versprach er die Abschaffung der Geheimdiplomatie, obwohl er wußte, daß auch die Sowjetmacht (die übrigens später wahrhaft pathologische Geheimhaltungspraktiken entwickelte) entscheidende Bereiche ihrer außenpolitischen Aktivitäten vor15 Ders.: Telegramma A.K. Pajesku, in: Lenin, W.I.: Polnoe sobranie socinenij. Moskau 1967 ff (im folgenden: PSS). Bd. 50. S. 165.16 Ders.: Staat und Revolution (Werke. Bd. 25. S. 416). 17 Ders.: Telegramma Ch.G. Rakovskomu i V.I. Mezlauku (PSS. Bd. 50. S. 324). 18 Ders.: Telegramma M.M. Lasevicu i K.K. Jurenevu (PSS. Bd. 51. S. 15). 19 Ders.: Rede auf einer Veranstaltung der Mitarbeiter der Gesamtrussischen Außerordentlichen Kom-mission (Tscheka), 7. November 1918 (Werke. Bd. 28. S. 165). 20 Ders.: Antwort an P. Kijewski (J. Pjatakow) (Werke. Bd. 23. S. 15). W. Ruge: Gedanken zu LeninJHK 1993 151der Öffentlichkeit verbergen würde. Symptomatisch ist, daß er auf dem 2. Sowjetkongreß feierlich versicherte, die Räteregierung werde über die Frage des Friedens (\"die aktuellste, die alle bewegende Frage der Gegenwart\") \"alle Verhandlungen völlig offen vor dem ganzen Volk führen\",21 aber nur ein paar Monate später eine geheime Resolution des Zentralkomitees durchsetzte, der zufolge nicht die (von Lenin geführte!) Regierung, sondern das Spitzengremium der Partei in streng vertraulichen Beratungen sowohl über die Annahme oder Ablehnung der Friedensbedingungen als auch über gegebenenfalls künftig zu führende Kriege zu entscheiden habe.22Da er in der Folgezeit immer häufiger richtungweisende Dokumente mit dem Vermerk \"geheim\" versah, also dem Volke wichtige Informationen vorenthielt, grenzt es schon an Zynismus, wenn er gleichzeitig immer wieder beteuerte, es sei notwendig, alles zu tun, \"damit die Massen und die ganze Bevölkerung unseren Weg überprüfen und sagen: \'Ja, das ist besser als das alte System\' \"_2310. Als die Bolschewiki, gestützt auf den aktivsten Teil der Petrograder Arbeiter, auf die Mehrheit der hauptstädtschen Garnison und die Matrosen der Baltischen Flotte, am 7. November 1917 die Macht übernahmen und die Revolution sich über das Riesenland auszubreiten begann, ging Lenins Vision in Erfüllung. Er befand sich auf dem Höhepunkt seiner historischen Laufbahn, aber auch am Anfang seines unaufhaltsamen Abstiegs. Zwar gelang es ihm noch, den schwächeren Bündnispartner, die linken Sozialrevolutionäre, auszubooten und die Alleinherrschaft seiner Partei zu etablieren, doch wurden alle seine sonstigen Erwartungen enttäuscht: Die sozialistische Revolution in Deutschland blieb aus, von der Weltrevolution, auf die er seine Anhänger noch zwei Jahre lang unbeirrt vertröstete, ganz zu schweigen; der Hunger, der das durch den Krieg und bald auch durch den Bürgerkrieg ruinierte Land erfaßte, schmälerte die Massenbasis der Bolschewiki,24 die zur Bekämpfung des Hungers ergriffenen Maßnahmen trieben Mittel- und Großbauern, also die Ernährer der Bevölkerung, in die Reihen der Gegenrevolution, die Strukturen des neuen Staates funktionierten nicht, die zentrale Wirtschaftsplanung versagte, die Vorstellung, daß sich binnen kurzer Zeit ein sozialistischer Menschentyp herausbilden und eine den Kapitalismus überflügelnde Arbeitsproduktivität erreicht werde, erwies sich als Illusion.Lenin war außerstande, diese und andere gravierende Tatsachen theoretisch zu verarbeiten. Er versuchte nicht einmal, eine umfassende Konzeption der sozialistischen Umgestaltung Rußlands zu entwickeln.25 Statt dessen wandte er sich in seiner letzten größeren Arbeit, dem \"Linken Radikalismus\", der internationalen kommunistischen Bewe-2 l Ders.: Rede über den Frieden, 26.Oktober (8. November) <l 917> (Werke. Bd. 26. S. 239, 241). 22 Vgl. ders.: Ergänzungsantrag zur Resolution über Krieg und Frieden (Werke. Bd. 27. S. 110). 23 Ders.: Rede in der Plenarsitzung des Moskauer Sowjets, 20. November 1922 (Werke. Bd. 33. S. 428). 24 Im Referat auf dem IV. Kongreß der Kommunistischen Internationale ( l 3. November l922) gab Leninrückblickend zu, daß 192 l \"nicht nur ein sehr großer Teil der Bauern unzufrieden war, sondern auch ein großer Teil der Arbeiter\". Er unterstrich, \"daß wir die großen Massen der Bauern gegen uns hatten\" (ebenda, S. 407). 25 Die außerordentliche Zentralisierung der Macht führte dazu, daß an oberster Stelle, d.h. im Rat der Volkskommissare, auch über dritt- und viertrangige Fragen entschieden wurde. Zahlreiche Briefe, Telegramme, Notizen usw. in den Bänden 50 bis 54 von Lenins Sämtlichen Werken (PSS) weisen aus, daß er sich als Vorsitzender dieses Gremiums vor allem mit Fragen beschäftigte, die normalerweise in die Kompetenz untergeordneter Behörden fielen. 152 JHK 1993Forumgung zu, so daß die Vermutung nicht von der Hand zu weisen ist, er sei sich weitgehend der Unlösbarkeit der russischen Probleme bewußt gewesen und habe den einzigen Ausweg aus der entstandenen Situation im Anschub der nächsten, den bolschewistischen Vorstoß absichernden Welle der Weltrevolution gesehen. Im \"Linken Radikalismus\", einem rein taktischen Kompendium, an dessen Empfehlungen sich die kommunistischen Parteien fast zwei Jahrzehnte lang hielten, beschwor Lenin seine ausländischen Genossen, \"selbst den kleinsten \'Riß\' zwischen den Feinden\" geschickt auszunutzen und Bündnisse auch mit den unsichersten und unzuverlässigsten Partnern zu schließen. Die Bolschewiki, die sich \"auf Kosten der Menschewiki\" gefestigt und gestärkt hätten, als Vorbild hinstellend, ermahnte er, das Wesen jedes Kompromisses verdrehend, seine Gefolgsleute jedoch, nur solche \"Kompromisse\" einzugehen, mit deren Hilfe der Verbündete geschwächt, dessen Führer isoliert und \"die besten Arbeiter, die besten Elemente aus der kleinbürgerlichen Demokratie in unser Lager\" hinübergezogen werden könnten. 26In Rußland selbst versuchte Lenin, den ihm vorschwebenden historischen Fortschritt gegen die nicht theoriegerechten Gegebenheiten mit dem verschärften Einsatz aller Machtmittel, namentlich der Gewalt, zu erzwingen. Am deutlichsten ablesbar ist dies an den Anregungen zur Intensivierung des Terrors, mit denen er hervortrat, nachdem er sich angesichts des völligen Zusammenbruchs der kriegskommunistischen Wirtschaft zur Einführung der NÖP hatte entschließen müssen. Obwohl der Bürgerkrieg nun beendet, der Hunger besiegt, die Gesamtsituation beruhigt war und die \"NÖP-Leute\" nach Lenin keine Chance hatten, sich zu einer wirklichen politischen Kraft zu entwickeln,27 schrieb er, es sei \"der größte Fehler zu glauben, daß die NÖP dem Terror ein Ende gesetzt habe\".28 Offenbar in der Hoffnung, die sich \"von selbst\" vollziehende Entwicklung der zugelassenen kapitalistischen Keimzellen könne durch staatliche Repressalien aufgehalten werden, wies er die Justizbehörden in zahlreichen Schriftstücken kategorisch an, jeden \"Mißbrauch\" der NÖP nicht nur nach dem Buchstaben des Gesetzes, sondern im Einklang mit dem \"revolutionären Rechtsbewußtsein [...] erbarmungslos, bis hin zur Erschießung\" zu bestrafen.29 Da die nirgends verbindlich fixierten Begriffe \"Mißbrauch der NÖP\" und \"revolutionäres Rechtsbewußtsein\" nach Belieben interpretiert werden konnten, mußte sich Lenin, der ja von Haus aus Jurist war, darüber im klaren sein, daß er mit derartigen Direktiven der Legalisierung der Willkür Tür und Tor öffnete. In zahlreichen Einzelfällen mischte sich Lenin auch, ohne sich mit den erhobenen Beschuldigungen und der laufenden Beweisaufnahme vertraut zu machen, in schwebende Verfahren gegen \"NÖP-Leute\" ein und verlangte, sie in politischen (zur Stimmungsmache gegen die Neureichen ausschlachtbaren) \"Muster\"- und \"Schauprozessen\" zur Höchststrafe zu verurteilen: Keine \"schändlich-dummen\" Geldbußen von 100 oder 200 Millionen (lnflations-)Rubeln, forderte er, sondern Tod!26 Lenin: Der \"linke Radikalismus\" : die Kinderkrankheit im Kommunismus. (Werke. Bd. 31. S. 56 f., 61).27 Vgl. ders.: Interview für den Korrespondenten des \"Manchester Guardian\", A. Ransom; zweite(unvollendete) Variante (Werke. Bd. 33. S. 394). 28 Ders.: L.B. Kamenevu (PSS, Bd. 44. S. 428). 29 Ders.: 0 zadacach narkomjusta v uslovijach novoj ekonomiceskoj politiki (ebenda, S. 397). 30 Vgl. ebenda, S. 400. W. Ruge: Gedanken zu LeninJHK 1993 153Jetzt begnügte er sich auch nicht mehr damit, Andersdenkenden das Recht abzusprechen, sich Marxisten zu nennen, sondern plädierte dafür, sie, wenn sie den Mund aufmachen sollten, \"an die Wand zu stellen\". An Menschewiki und Sozialrevolutionäre gewendet, sagte er auf dem 11. Parteitag: \"Entweder unterlaßt es gefälligst, eure Ansichten auszusprechen, oder aber, wenn ihr in der gegenwärtigen Lage, wo wir uns in weit schwierigeren Verhältnissen befinden als bei der direkten Invasion der Weißen, eure politischen Ansichten auszusprechen wünscht, dann werden wir, entschuldigt schon, mit euch verfahren wie mit den schlimmsten und schädlichsten weißgardistischen Elementen\" _3111. Jüngst ist bekannt geworden, daß es noch 3.724 Lenin-Dokumente gibt, die ihres \"explosiven\" Inhalts wegen nicht in die letzte russische (angeblich vollständige) Ausgabe seiner Werke aufgenommen worden sind, aber demnächst veröffentlicht werden sollen. Zu erwarten ist, daß dabei Schriftstücke ans Licht gelangen, die den terroristischen Eifer des späten Lenin noch anschaulicher belegen als die angeführten Beispiele. So konnte es sich zum Teil um Dokumente wie den streng geheimen Brief Lenins an die Mitglieder des Politbüros vom 19. März 1922 handeln, der in Paris bereits 1970, in Moskau jedoch erst im fünften Jahr der Perestroika veröffentlicht wurde.33 Dieser Brief bezieht sich auf Unruhen in der Stadt Suja, bei denen vier Tage zuvor Armeeinheiten gegen Gläubige eingesetzt worden waren, die gegen die Beschlagnahme kirchlicher Reliquien protestiert hatten. Über den Verlauf der Zusammenstöße kann man daraus schliessen, daß unter den Rotarmisten keine Opfer zu beklagen waren, auf Seiten der Zivilisten aber vier Personen getötet und zehn verwundet wurden. Lenin schlug in seinem Brief nun, um den Zwischenfall politisch auszuwerten, vor, \"möglichst viele, mindestens einige Dutzend Vertreter der dortigen Geistlichkeit, des Kleinbürgertums und der Bourgeoisie wegen des Verdachts [! - W.R.] der direkten oder indirekten Beteiligung am tätlichen Widerstand gegen die Durchführung des VCIK-Dekrets über die Requisition von Kirchenschätzen zu verhaften\" und die Gerichtsorgane mündlich anzuweisen, eine \"sehr große Anzahl\" dieser Personen, die er pauschal als \"Schwarzhunderter\" bezeichnete, erschießen zu lassen, und zwar nicht etwa nur in Suja, sondern \"nach Möglichkeit auch in anderen Städten, so in Moskau und weiteren kirchlichen Zentren\".Aufschlußreich ist dieser Brief auch, weil Lenin darin, sich auf eine möglicherweise von ihm erfundene Autorität berufend, unverblümt für die Anwendung kühl berechneter Terrormaßnahmen eintrat. Er schrieb: \"Ein kluger, in Staats Fragen bewanderter Autor hat zutreffend bemerkt, daß es, wenn man sich zur Erreichung eines bestimmten politischen Zieles zu einer Reihe von Grausamkeiten entschlossen hat, notwendig ist, diese äußerst energisch und ohne Zeitverlust durchzuführen, weil die Volksmassen deren dauerhafte Anwendung nicht ertragen. Dementsprechend riet er, auf außergewöhnlich \"günstige Umstände\" verweisend, den Zwischenfall in Suja zu nutzen und die durch einen Geheimbeschluß des Politbüros bereits eingestellte Requisition von Kirchenschätzen mit einer schlagartigen Aktion weiterzuführen. Zu den \"günstigen Umstanden\" zählte er31 Lenin: Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPR (B), 27. März 1922> (Werke. Bd. 33. S.269). 32 Vgl. Ernst, Gerd: Das Gedächtnis von Generationen oder eine Büchse der Pandora?, in: \"NeuesDeutschland\" (Berlin), 20./21.6.1992. 33 KPSS, 4/90. S. 191-195. 154 JHK 1993Forumunter anderem erstens, daß man \"jetzt und nur jetzt, wo in den vom Hunger heimgesuchten Gebieten Menschenfleisch gegessen wird und die Leichen zu Hunderten, wenn nicht zu Tausenden am Wegrand liegen\", mit dem Verständnis der Bauern für die Beschlagnahmen rechnen könne und zweitens, daß die internationale Konferenz in Genua, nach deren Abschluß es \"politisch unvernünftig\" sein würde, mit grausamen Maßnahmen gegen die reaktionäre Geistlichkeit vorzugehen, erst noch bevorstand.12. Diese Sätze hätten durchaus aus der Feder Stalins stammen können. Wenn einerseits der gewaltige Unterschied zu beachten ist, der zwischen dem letzt-lich von Idealen beseelten Begründer der Bolschewistischen Partei und seinem von diktatorischen Ambitionen getriebenen Nachfolger bestand, so darf doch andererseits nicht übersehen werden, daß es schon bei Lenin mehr als nur Ansätze Stalinscher Denkweisen gab. Die Überbetonung der Macht, also eines Werkzeugs der Politik, und der unkontrollierte Umgang mit ihr leiteten zu ihrer Verabsolutierung als Zweck der Politik über und damit zur Anwendung neuer (oder doch qualitativ entscheidend veränderter), dem neuen Zweck entsprechender Mittel und Methoden.Stalin konnte verschiedentlich direkt an Denk- und Handlungsmuster Lenins anknüpfen. In nuce findet sich beispielsweise die Stalinsche These von der Verschärfung des Klassenkampfes beim Aufbau des Sozialismus bereits bei Lenin. Im Konspekt einer Broschüre über die Diktatur des Proletariats hob dieser 1919 die \"besondere (äußerste) Schärfe des Klassenkampfes\" nach der Revolution hervor und erklärte: \"Der Widerstand der Ausbeuter beginnt vor ihrem Sturz und verschärft sich nachher von zwei Seiten\". Auch Lenins Äußerungen über die NÖP als Geländeerkundung für die künftige \"Offensive auf das privatwirtschaftliche Kapital\"35 war geeignet, seinem Nachfolger während der Kollektivierungskampagne in den Jahren nach 1929 zur Rechtfertigung des Feldzuges gegen die Bauernschaft zu dienen. Sogar für Stalins anfangs kaschierten rassistischen Antisemitismus, der sich später zur faschistischen Wahnvorstellung einer \"zionistischen Weltverschwörung\" auswuchs, lieferte Lenin mit seinem (falschen und boshaften) Bild vom \"Juduschka Trotzki\"36 das Stichwort.Daß auch Lenin Repressalien gegen Unschuldige und die Kriminalisierung Andersdenkender befürwortete, wurde bereits erwähnt. Von nicht geringerer Bedeutung ist, daß der Parteikodex, dessen sich Stalin bei der Verfolgung seiner Rivalen bediente, im wesentlichen auf Lenin zurückging. Er war es, der auf dem 10. Parteitag (1921), und zwar mit Hilfe einer festgefügten Fraktion,37 den das Fraktionsverbot einschließenden faktischen \"Ausnahmezustand in der Partei\"38 durchsetzte und damit die Voraussetzungen für die von Stalin praktizierte, erst politische, dann moralische und schließlich physische Ausschaltung selbständig denkender Kommunisten schuf.Somit ist Milovan Djilas zuzustimmen, wenn er konstatiert: \"Stalin geht aus Lenin hervor\" _39 Das bedeutet allerdings nicht, daß Stalin und der Stalinismus zwangsläufig34 Lenin: Über die Diktatur des Proletariats (Werke. Bd. 30. S. 80). 35 Ders.: Plan der Rede für den 27. III. 1922 (Werke. Bd. 36. S. 556 f). 36 Ders.: Über die Schamröte des Juduschka Trotzki (Werke. Bd. 17. S. 29). 37 Daß Lenin, der seinen Genossen das Recht absprach, Fraktionen zu bilden, es für selbstverständlichhielt, zur Behauptung eigener Positionen fraktionclle Zusammenschlüsse herbeizuführen, hebt unter anderem J.M. Jaroslawski hervor (vgl. KPSS 4/89. S. 188). 38 Dazu vgl. A. Avtorchanov: X. s\'ezd i osadnoe polozenie v partii, in: \"Novij mir\", 3/90. S. 193 ff. 39 Djilas, Milovan: Jahre der Macht. München 1992. S. 308. W Ruge: Gedanken zu LeninJHK 1993 ISSaus der politischen Praxis Lenins erwachsen sind. Zur Klärung dieser Frage sind weitere Forschungen notwendig, die vor allem auch die Veränderungen der internationalen Lage nach Lenin, die sozialen Umschichtungen in der sowjetischen Bevölkerung, in der Partei und ihren Fuhrungsgremien sowie die persönlichen Eigenschaften, Fähigkeiten und Grenzen der an den politischen Entscheidungen beteiligten Männer berücksichtigen müßten.13. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Lenin und Stalin bestand, wie der Verlauf der Geschichte lehrt, darin, daß Lenin ein unerreichbares Ziel verfolgte, Stalin sich aber eine Aufgabe stellte, deren Realisierung (zumindest für die Dauer einer bestimmten historischen Etappe) machbar war. Während Lenins Weg, der mit zweckwidrigen Mitteln gepflastert war, zu einer kontinuierlichen Erosion des angestrebten Ziels und insofern immer weiter von ihm fortführte, stimmten bei Stalin die zum Einsatz gelangten verbrecherischen Mittel mit dem Antihumanismus des Ziels überein. Stalin war konsequenter, nüchterner, somit auch realistischer als Lenin und konnte deshalb über ihn triumphieren.Im Gegensatz zu Lenin befand sich Stalin im Oktober 1917, in dessen Kämpfen er auch nicht in Erscheinung trat, auf dem Nullpunkt seiner politischen Karriere. Er hatte zwar schon vorher, allerdings ohne der ersten Führungsgarnitur anzugehören, eine (wenn auch wegen seiner Eigenmächtigkeiten umstrittene) Rolle in der Bolschewistischen Partei gespielt, sich dann aber in den vier Jahren seiner letzten Verbannung, nur der Jagd und dem Fischfang nachgehend, weit von seinen Genossen sowie der Partei entfernt und sich obendrein dadurch disqualifiziert, daß er nach seiner Rückkehr nach Petrograd im März 1917 vehement für eine Linie eingetreten war, die den kurz danach verkündeten Aprilthesen Lenins völlig zuwiderlief. Nach der Oktoberrevolution konnte er jedoch in die Rolle eines Senkrechtstarters schlüpfen. ßrachialpolitiker standen unter den Bedingungen des Bürgerkrieges hoch im Kurs.Stalin wuchs in die politische Verantwortung in einer Situation hinein, in der die Festigung der Macht absolute Priorität besaß. Zur Festigung der Macht gehörte aber vor allem ihre ständig forcierte Konzentration, an deren Ende logischerweise die Zusammenballung aller Befugnisse in der Hand Weniger oder eines Einzelnen stand. Damit waren Rivalitätskärnpfe vorprogrammiert; sie stellten nun, eine neue Qualität ausmachend, die neuen Mittel dar, die zur Erreichung des neuen Zieles erforderlich waren. Stalin verfügte über alle Eigenschaften, die zur Führung solcher Kämpfe unerläßlich sind - Skrupellosigkeit, Mißtrauen, Rachsucht usw. So war er auf die nächste Etappe der politischen Kämpfe besser vorbereitet ab irgend jemand anderes.Es ist kaum zu bezweifeln, daß Stalin anfangs lediglich darauf hinarbeitete, die Führungsriege der Partei als Machtzentrum auszubauen, sie miiglichst klein zu halten und sich dabei einen unabkömmlichen Platz in der Spitze zu sichern. Deshalb rangierten bei ihm auch - ganz gleich, ob er als Bevollmächtigter des Zentralkomitees an der Front erschien oder als Volkskomissar über Verwaltungsstrukturen entschied - Kaderfragen immer vor Sachfragen. Er verdrängte (oft genug mittels eines Hinrichtungsbefehls) alle Funktionäre, die sich nicht an Autoritäten orientierten und hievte solche, die sich bedingungslos der Zentralgewalt (und möglichst ihm persönlich) unterordneten, in verantwortliche Positionen.Zu welchem Zeitpunkt Stalins Alleinherrschaftspläne faßbare Gestalt annahmen, läßt sich schwer sagen, dürfte auch kaum präzis zu bestimmen sein. Wahrscheinlich ist, daß 156 JHK 1993Forumseine Ambitionen durch die zunehmende Verschlechterung von Lenins Gesundheitszustand nach dem Attentat vom August 1918 Auftrieb erhielten, besonders durch dessen schwere Krankheit, ein Bruch im Mai 1922, der - wenngleich man nicht offen darüber sprach - die Nachfolger-Frage auf die Tagesordnung rückte. Eine bedeutende Zäsur bei der eigenen Rollenbestimmung Stalins stellte zweifellos auch seine (mit Billigung Lenins erfolgte) Wahl zum Generalsekretär des Zentralkomitees und damit zum Personalchef der gesamten Partei im März 1922 dar.14. Krank, isoliert und konzeptionslos, hatte Lenin keine Chance, sich gegen seine von Stalin mit allen Finessen beriebene Kaltstellung zu wehren. Außer Trotzki, der offenbar ein konsequenterer Leninist war als Lenin selbst und sich folgerichtig weiter auf dessen widersprüchlicher (und in die Nahe der Resignation) führenden Linie bewegte, schlugen sich die übrigen, in ihren Machtkult mehr und mehr persönliche Bestrebungen einbringenden Mitglieder der engeren Parteispitze auf die Seite des aufsteigenden Generalsekretärs. Sie hielten zwar den zur Mobilisierung der Massen unverzichtbaren Namen Lenins hoch und schmückten sich mit seinen, von ihnen mit Füßen getretenen Ideen, aber behandelten ihn, den \"Alten\", wie sie ihn nannten, mehr und mehr als Fossil.Nachdem das Politbüro Lenin erst vorübergehend, dann aber (seit Ende 1922) endgültig in den goldenen Käfig des Landhauses in Gorki gesperrt und Stalin alsbald mit der \"Betreuung\", in Wirklichkeit mit der Beaufsichtigung, des in Tausenden Reden und Broschüren weiterhin glorifizierten Parteiführers beauftragt hatte, mußte dieser zermürbende Kämpfe um jeden Besucher, zeitweilig sogar um die Erlaubnis, Briefe zu empfangen und Zeitungen zu lesen sowie um die unzensierte Veröffentlichung der wenigen noch von ihm diktierten Artikel ausfechten. Nahezu hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen und seiner Umgebung mißtrauend,40 versiegelte und versteckte er, als lebe er wieder in der Illegalität, die spärlichen Aufzeichnungen, die er über die mit großer Besorgnis beobachtete Krise der Parteiführung und deren mögliche Überwindung machte.15. Die bekannteste dieser Aufzeichnungen ist der als Lenins Testament in die Geschichte eingegangen \"Brief an den Parteitag\" vom 23.12.1922/4.1.1923,41 der in erschütternder Weise offenbart, daß der Autor zu diesem Zeitpunkt nicht nur ein gebrochener Mann, sondern auch ein den Herausforderungen in keiner Weise mehr gewachsener Politiker war. Grundsatzfragen spielten nun in seinem Denken eine zweitrangige Rolle. Seine Anregungen und Empfehlungen galten dem Instrumentarium der Politik, dem Aufbau der Entscheidungsgremien und den Prozeduren, in erster Linie aber Kaderfragen, deren Herauslösung aus der Gesamtproblematik - wie die Stalinsche Praxis bereits bewiesen hatte - darauf hinauslief, den Mitteln und Methoden eine dominierende Rolle bei der Planung der Politik einzuräumen.Gegenüber der Hauptgefahr, die dem Sowjetstaat drohte, nämlich seiner Entartung zu einer terroristischen Diktatur, war Lenin blind. Er konstatierte lediglich, daß eine Einzelperson in der Parteispitze, nämlich der Generalsekretär, \"eine unermeßliche Macht\" in seinen Händen konzentriere, sah aber nicht, daß damit bereits der Grundstein einer Al-40 Wie berechtigt Lenins Mißtrauen war, illustriert unter anderem die Tatsache, daß sein Testament, zu dem seinem Willen gemäß nur seine Frau, Nadezda Krupskaja, Zugang haben sollte, schon wenige Stunden nach der Niederschrift Stalin in die Hände gespielt wurde.41 Werke. Bd. 36. S. 577-582. W. Ruge: Gedanken zu LeninJHK 1993 157leinherrschaft gelegt war, und warf erst recht nicht die Frage auf, wie man eine solche Machtkonzentration rückgängig machen und in Zukunft verhindern könne. Statt dessen fragte er simpel, ob Stalin der Mann sei, dem man solche - wohlgemerkt: unbegrenzten Machtbefugnisse belassen könne. Und nicht einmal darauf gab er eine eindeutige Antwort. Er, der früher gewohnt war, seine Vorschläge in kategorischem Ton vorzubringen, regte nun in vorsichtigen Wendungen (und erst in einem zehn Tage später, also nach längerem Zögern, abgefaßten Nachtrag) an, \"sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte\". Eine Kandidatur für den nächsten Träger der \"unermeßlichen Macht\" nannte er nicht.Mehrmals warnte Lenin im Testament vor einer möglichen Spaltung der Partei, die durch die Rivalität Stalin-Trotzki ausgelöst werden könne. Außerstande, über den von ihm selbst oktroyierten Parteikodex hinauszudenken, kam ihm nicht in den Sinn, daß mit einer zweiten Partei unter Umständen ein von Politbüro- und Staatsexekutive unabhängiges und folglich zu deren wirksamer Kontrolle befähigtes Zentrum hätte entstehen und zumindest die schlimmsten Auswüchse einer schrankenlosen Tyrannei verhindern können.Den größten Raum im Testament nimmt eine nachgerade oberlehrerhafte Beurteilung eines Sextetts von führenden ZK-Mitgliedern ein, das Lenin offensichtlich als seinen Kollektiven Nachfolger betrachtete. Es handelte sich dabei um Stalin und die später von diesem ermordeten Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Bucharin und Pjatakow. Wenn man einmal von der Bemerkung absieht, daß Trotzki \"wohl der fähigste Mann im gegenwärtigen ZK\" sei, stellt dieser Teil des Testaments eine Anhäufung absoluter Fehleinschätzungen dar. Was Lenin als Stalins Grobheit bezeichnete, war nicht, wie er meinte, ein Mangel, der \"im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist\", sondern eine grenzenlose, vor der Ermordung fast aller seiner Mitstreiter und der Einkerkerung und Aussiedlung von Dutzenden Millionen Menschen nicht zurückschreckende Brutalität. Und wenn er Stalin Unaufmerksamkeit, Launenhaftigkeit, mangelnde Toleranz und ungenügende Loyalität gegenüber den Genossen vorwarf, so verkannte er die für das Schicksal der Partei entscheidenden Eigenschaften seines Generalsekretärs - Machthunger, Menschenverachtung und Hinterlist. Geradezu grotesk klingt es, wenn er erklärte, er wünsche sich auf dem Posten des Generalsekretärs einen Mann, der etwas toleranter, höflicher usw. als Stalin sei, ansonsten aber \"in jeder Hinsicht\" dessen Qualitäten besitze.Daß Lenin, möglicherweise über Sinowjews und Kamenews rückhaltlose Unterstützung für Stalin verärgert, an deren Widerspruch gegen die Aufstands-Resolution des ZK vom Oktober 1917 und den damit zusammenhängenden Disziplinverstoß erinnerte, war nicht nur unklug, weil er damit Stalin, den er offenbar noch immer nicht als seinen unerbittlichen Gegenspieler erkannt hatte,42 einen wertvollen Trumpf für künftige Machtkämpfe in die Hand spielte. Diese Beschwörung der Vergangenheit war auch völlig verfehlt, und zwar insofern, als sie den Genannten die Fähigkeit der selbständigen Meinungsbildung und des Einstehens für ihre Überzeugung bescheinigte, über die sie dort, wo es um mehr als ihr Leben, nämlich um die Sache ging, nicht verfügten: Zehn Jahre später legten Sinowjew und Kamenew, zugegebenermaßen durch Stalin in eine beispiel-42 Erst zwei Monate später, fünf Tage vor seinem letzten Krankheitsanfall, drohte Lenin Stalin in einem Brief (Text in: KPSS, 12/89. S. 192) den Abbruch der persönlichen - nicht der parteimäßigen! - Beziehungen an. 158 JHK 1993Forumlose Zwangssituation hineinmanövriert, eine revolutionären Führern unverzeihliche Würdelosigkeit an den Tag, indem sie, irrigerweise auf Gnade hoffend, sich nie begangener Untaten bezichtigten, ihren Auffassungen abschworen und dabei jeden anbefohlenen Meineid leisteten.Gleicherweise unzutreffend charakterisierte Lenin auch die Nachwuchspolitiker Bucharin und Pjatakow, wobei seine Ausführungen obendrein durch Inkonsequenz überraschen. Den einen bezeichnete der einstige unermüdliche Wächter über die Reinheit der Lehre als einen \"bedeutenden Theoretiker\", fügte aber im gleichen Satz hinzu, daß dessen Anschauungen \"nur mit sehr großen Bedenken zu den völlig [! - W.R.] marxistischen gerechnet werden\" könnten; dem zweiten kreidete er genau das an, was dieser bei Lenin selbst gelernt hatte, nämlich \"den Hang für das Administrieren\". Weitaus schwerer wiegt jedoch, daß Lenin, der die menschlich-moralischen Qualitäten bei der Einschätzung Stalins als eine \"Kleinigkeit\" gewertet hatte, \"die entscheidende Bedeutung erlangen kann\", diesen Aspekt bei Bucharin und Pjatakow gänzlich übersah. Er sprach von ihnen als den \"hervorragendsten Kräften\" unter den Jüngeren beziehungsweise von Funktionären mit \"großer Willenskraft und glänzenden Fähigkeiten\", während auch diese beiden sich (ebenfalls ein reichliches Jahrzehnt später und unter extremen Ausnahmebedingungen) als Männer ohne Führungsqualitäten und Rückgrat erwiesen. Beispielsweise erniedrigte sich Bucharin, um seine \"Parteitreue\" zu bekunden, dazu, über seine alten Genossen Sinowjew und Kamenew, deren Unschuld für ihn feststand, an Woroschilow zu schreiben: \"Daß man die Hunde erschossen hat, freut mich sehr\".43 Noch verkommener verhielt sich Pjatakow, der sich, ehe er verhaftet war, also nicht etwa unter dem Druck der Folter, erbot, seine Ergebenheit gegenüber Stalin durch erlogene Zeugenaussagen gegen Sinowjew und Kamenev zu beweisen und nachdrücklich darum bat, die zu erwartenden Todesurteile gegen diese beiden und ihre Mitangeklagten sowie gegen seine frühere Ehefrau eigenhändig vollstrecken zu dürfen.4416. So war am Ende des Lebens nichts mehr von dem scharfsichtigen Dialektiker und energiegeladenen Visionär Lenin geblieben, der es drei Jahrzehnte zuvor auf sich genommen hatte, die Weltgeschichte zu verändern. Schmerzhaft die eigene Ohnmacht empfindend, spürte er offenbar, daß es unter den charakterlosen Spitzenfunktionären, die seine Führerschaft geformt hatte, keinen gab, dem er ruhigen Gewissens die Bürde seiner Nachfolge hatte auferlegen können. Wie groß seine Resignation war, ist nicht zuletzt daraus zu ersehen, daß er, ein ausgeprägter politischer Tatmensch, sich, einer Notiz seiner Schwester Maria Uljanowa zufolge, zeitweilig mit dem Gedanken trug, Sämereien aus den USA und Kanada anzufordern und fortan als Privatmann auf dem Gebiet der Pflanzenzucht zu experimentieren.Lenins persönliches Fiasko, von dem damals nur eine Hand voll Leute wußte, kann als frühe Warnung vor dem Scheitern des Realsozialismus gedeutet werden. Daß Lenin, dessen Ziel es ursprünglich gewesen war, die \"höchste Wohlfahrt\" und \"freie allseitige Entwicklung\" aller Mitglieder der Gesellschaft zu erreichen und zu sichern,45 mit immer verschwommenerem Blick auf die Wohlfahrt eine auf Gewalt gestützte Politik betrieben43 Wolkogonow, Dimitri: Stalin -Triumph und Tragödie. Düsseldorf 1989. S. 274.44 Vgl. O tak nazyvaemom \"parallel\'nom antisovetskom trockistskom centre\" (KPSS, 9/89. S. 37). 45 Lenin: Entwurf des Programms der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (Werke. Bd. 6. S.13). W. Ruge: Gedanken zu LeninJHK 1993 159hatte, die Millionen Menschen seinem eisernen Willen unterwarf und ihnen jede freie Entscheidungsmiiglichkeit nahm, daß er darüber hinaus die Voraussetzungen für die Fortführung einersolchen Politik nach seinem Tode schuf, ist Tatsache. Gleicherweise dürfte feststehen, daß es vor allem und fast ausschließlich die von ihm angewendeten, in letzter Instanz durchweg erfolglosen Mittel und Methoden waren, die die Ausstrahlungskraft seines Werkes immer mehr verblassen ließen, schließlich seine Partei jedes geschichtsträchtigen Rückhaltes beraubten und somit zu einem gewichtigen, wenn nicht zum entscheidenden Grund für den Mißerfolg seines Wagnisses wurden, von einem zurückgebliebenen Land aus der jahrtausendelangen Menschheitsgeschichte ein Ziel aufzupfropfen. Lenins Vorsätze zerbarsten an der Unerbittlichkeit seines Vorgehens.Allerdings bleibt die Frage im Raum stehen, ob es angesichts des gewaltigen äußeren und inneren Drucks, dem die Sowjetmacht ausgesetzt war und der sie ständig zur Konzentration auf das Nächstliegende, zur Abwendung der unmittelbarsten Gefahren zwang, generell möglich gewesen wäre, wenigstens partiell oder temporär auf den Einsatz dieser Mittel zu verzichten. Anders ausgedrückt: Ob die revolutionäre Ordnung auch ohne diese Mittel eine Überlebenschance gehabt hätte. Beantwortet werden kann diese Frage sofern sie überhaupt beantwortbar ist - nur in ferner Zukunft, wenn die Enttäuschung über den Realsozialismus verweht sein und angesichts der fortbestehenden und weiter ausufernden Gebrechen des Kapitalismus vielleicht ein neuer, wohl nicht mehr mit dem Begriff Sozialismus verbundener, andersartiger, also auch auf andere Mittel setzender Versuch der Errichtung einer gerechteren Gesellschaft unternommen wird.Womöglich wird es dazu niemals kommen. Die zum Selbstzweck gewordenen Mittel, derer sich die Menschheit zur Erhaltung ihrer Existenz bedient - Naturunterwerfung und Technikentwicklung, Konsumausweitung und Profitmaximierung könnten ihr schon vorher den Garaus machen.

Inhalt – JHK 1993

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