JHK 1993

Der Stalinismus in der Sowjetunion der dreißiger Jahre. Zur Deformation einer Gesellschaft

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 11-36

Autor/in: Bernd Bonwetsch (Bochum)

Stalinismus und GesellschaftStalin ist seit 40 Jahren tot; die Sowjetunion hat 1991 aufgehört zu existieren. Die Frage ist, ob der Stalinismus damit endgültig der Vergangenheit angehört. Sie ist nicht ganz überflüssig angesichts des Ergebnisses der ersten und zugleich auch letzten repräsentati­ ven Umfrage zum Werte- und Bezugssystem der Sowjetmenschen, die 1989-1991 durch eine Soziologengruppe um Juri Lewada durchgeführt wurde. Danach hätten fünf Jahre Perestroika lediglich auf die äußere, \"reaktive Schicht\" der Sowjetmenschen eingewirkt, ihren im Stalinismus bis Mitte der fünfziger Jahre geprägten \"trägen Kern\" jedoch un­ versehrt gelassen. Als wesentliches Indiz für diese Schlußfolgerung dient den Soziolo­ gen die Tatsache, daß die Fixierung auf den allzuständigen, paternalistischen Staat auch in der Phase des Zerfalls des Sowjetsystems ein Grundzug im Denken und Verhalten der Sowjetmenschen geblieben sei.1Diese Beobachtung aus der unmittelbaren Vergangenheit macht darauf aufmerksam, daß der Stalinismus Spuren in der sowjetischen Gesellschaft hinterlassen hat, die sich nicht von heute auf morgen in Nichts auflösen. Zugleich macht sie aber auch die Frage notwendig, wieweit möglicherweise die Gesellschaft selbst Spuren im Stalinismus hin­ terlassen hat, wieweit sich im Stalinismus Reflexe des politischen und sozialökonomi­ schen Kontexts finden, in dem er sich bewegte und den er zu bewegen suchte. Eben diese Zusammenhänge stehen im Zentrum der neueren, sozialgeschichtlich orientierten Stalinismus-Forschung, die sich der Interaktion des politischen und gesellschaftlichen Systems und seiner Subsysteme widmet.Das bedeutet keineswegs, daß Gesellschaft als Forschungsgegenstand neu entdeckt worden wäre. Sowohl die Forschung, die dem Totalitarismus-Modell verhaftet war, als auch diejenige, die in expliziter Wendung dagegen die Sowjetunion Stalins im Unter-1 Lewada, J.: Die Sowjelmenschen 1989-1991. Soziogramm eines Zerfalls. Berlin 1992. S. 35. 12 JHK 1993Abhandlungenschied zur nationalsozialistischen \"Beharrungsdiktatur\" als \"Erziehungs\"- oder \"Modernisierungsdiktatur\" interpretierte, haben die Gesellschaft in den Blick genommen. Sahen die einen in der Gesellschaft das Objekt einer auf Totalität ausgerichteten, durch Zwang und Terror verwirklichten Durchdringung und Beherrschung,2 so sahen die anderen in ihr das Objekt und zugleich das Instrument einer notwendigerweise mit Zwang durchzusetzenden Modernisierung, die trotz aller Kosten nach den Worten Isaac Deutschers doch eine \"großartige Leistung\" gewesen sei.In ihrer Perspektive der staatlichen Verfügung über die Gesellschaft waren sich beide Interpretationsmodelle mithin sehr ähnlich. Seit den siebziger Jahren hat die Forschung dagegen den Stalinismus verstärkt \"von unten\" in den Blick genommen. Damit werden die Sicht \"von oben\" bzw. das Totalitarismus-Modell keineswegs obsolet. Zur Erfassung und Interpretation des stalinistischen Herrschaftssystems bleibt das Totalitarismus-Modell ein angemessenes heuristisches Mittel. Aber der Stalinismus erschöpfte sich nicht darin, ein totalitäres Herrschaftssystem zu sein. Er war vielmehr auch ein eigentümliches System der Interaktion von Staat und Gesellschaft.Niemand hat das einprägsamer formuliert als Moshe Lewin, der in der Kritik an zu kurzschlüssigen Totalitarismus-Forschungen betonte, daß auch der stalinistische Staat eine \"Geschichte hatte, die er nicht völlig allein und nicht völlig nach den eigenen Vorstellungen gemacht hatte\".4 Hinter dieser Aussage stand insbesondere die Beobachtung der Folgen, die die forcierte Industrialisierung und Kollektivierung Ende der zwanziger Jahre ausgelöst hatten. Der sowjetische Staat hatte danach zwar die Macht, die Gesellschaft in einer \"Revolution von oben\" gewaltsam zu verändern, aber er konnte die ausgelösten Prozesse nicht wirklich steuern. Im Grunde handelte es sich um einen nicht endenden Kreislauf: Der Staat löste mit seinen Maßnahmen unvorhergesehene und unerwünschte Reaktionen aus, die ihn seinerseits zu Reaktionen zwangen, die ihrerseits neue, unerwartete und unerwünschte Folgen nach sich zogen und diesen Kreislauf in Gang hielten. Im Prinzip unterschied das das sowjetische nicht von anderen Systemen, das Problem liegt vielmehr im Ausmaß und in den Formen, in denen sich dieser Kreislauf abspielte. Denn der Sowjetstaat machte sich Ende der zwanziger Jahre daran, die gesamte Gesellschaft binnen weniger Jahre grundlegend zu verändern und zu diesem Zwecke beinahe gegen die ganze Nation einen \"sozialen Krieg\" zu führen, mit allen Konsequenzen, die das für den Gewaltapparat hatte, dem nicht nur die \"verstaatlichten\" Bauern und die Industriearbeiterschaft als \"herrschende Klasse\", sondern auch die ganze Hierarchie der Bürokraten in Staat, Partei und Wirtschaft als \"herrschende Sklaven\" unterworfen waren.5Die von Moshe Lewin angeregte Beobachtung der Interaktion von Staat und Gesellschaft ist für die neuere Stalinismus-Forschung richtungsweisend geworden. Von der2 Moore, B.: Terror and Progress in the USSR. Some Sources of Change and Stability in the Soviet Dictatorship. Cambridge 1954; Inkeles, A., Bauer, R.: The Soviet Citizen. Daily Life in a Totalitarian Society. Cambridge 1961; Fainsod, M.: Smolensk Under Soviet Rule. London 1959.3 Deutscher, I.: Stalin. Eine politische Biographie. 2. Aufl., Berlin 1989 (engl. 1966). S. 438. Vgl. ferner Hofmann, W.: Stalinismus und Antikommunismus. Zur Soziologie des Ost-West-Konflikts. Frankfurt 1967; Von Laue, T. H.: Why Lenin, Why Stalin. A Reappraisal of the Russian Revolution, 1900-1930.Philadelphia 1964; Nove, A.: Was Stalin Really Necessary? London 1964. 4 Lewin, M.: The Making of the Soviet System. Essays in the Social History of Interwar Russia. London1985. s. 8.5 Ebenda. S. 221, 265 f. B. Bonwetsch: Stalinismus in der SowjetunionJHK 1993 13Analyse politischer Vorgänge in Moskau und der Perspektive auf die Gesellschaft von oben ist die Forschung zur Untersuchung von Wandlungsprozessen gesellschaftlicher Gruppen und des Funktionierens von Herrschaft in ihrem konkreten Vollzug einschließlich der Reaktionen Betroffener und ihrer Rückwirkung auf die Ausübung von Herrschaft selbst übergegangen. Dabei zeigte sich erneut, was schon Merle Fainsod festgestellt hatte: Die \"totalitäre Maschine [...] war weit von Perfektion entfernt\" Nicht nur entwickelten die betroffenen sozialen Gruppen alle möglichen Verweigerungsstrategien, sondern die mit der Exekution der Moskauer Anordnungen beauftragten Bürokraten der verschiedenen Apparate, die \"herrschenden Sklaven\" Lewins, hatten trotz aller Botmässigkeit doch auch eigene, z.T. untereinander konkurrierende Vorstellungen. Angesichts der Konfrontation realitätsferner Moskauer Anordnungen mit der Wirklichkeit schlossen sie darüber hinaus auch stillschweigende Kompromisse im Sinne praktischer Vernunft. Häufig genug war praktisches Handeln gar nicht anders als unter spezifischer Auslegung oder Umgehung der Moskauer Anordnungen möglich, weil diese uneindeutig, widersprüchlich und unrealistisch waren bzw. sich gegenseitig ausschließende Ziele verfolgten. Dysfunktionen in den Lenkungsapparaten waren darüber hinaus ein konstitutives Element des Stalinismus.Ob allerdings eine von den Eigenwilligkeiten und -interessen der Apparate ausgehende \"Unregierbarkeit\" des Landes, ein Zentrum-Peripherie-Konflikt die Ursache für den stalinistischen Terror als Reaktion auf diese Unbotmäßigkeit ist, wie einige Autoren zu belegen versuchen, ist doch eher zu bezweifeln. Allerdings ist die periodische Mobilisierung der Basis gegen die \"herrschenden Sklaven\" in den Apparaten, die dabei be-sonders betont wird, zweifellos ein Grundzug des Stalinismus. Hier handelte es sich um ein eigentümliches Partizipationsangebot, das von der Basis in Form von Denunziationen und sonstigen Beschuldigungen offenbar in großem Umfange genutzt wurde. 8Dieses \'Partizipationsangebot\' mag auch als Ventil für Unzufriedenheit gedient und somit stabilisierend gewirkt haben. Wichtiger in dieser Hinsicht war allerdings, daß das Regime es vermochte, zumindest Teile der Gesellschaft durch massenhafte Bereitstellung von Aufstiegschancen, durch Gratifikationen und nicht zuletzt auch durch eine besondere Art von Überzeugung, die von Furcht gestützt wurde, an sich zu binden, während andere Teile der Gesellschaft verfolgt und vernichtet wurden. So entstand eine \"eigentümliche soziale Mobilität\", in der letztlich die gesamte Gesellschaft \"deklassiert\" wurde - teils nach oben, teils nach unten.96 Fainsod, Smolensk, a.a.O., S. 449 f. 7 Diese These besonders verteten von Getty, J. A.: Origins of the Great Purges. The Soviel CommunistParty Reconsidered, 1933-1938. Cambridge 1985; Rittersporn, G. T.: Stalinist Simplifications and Soviel Complications. Social Tensions and Political Conflicts in the USSR, 1933-1953. Chur u.a. 1991 (frz. 1988). Vgl. dazu Bonwelsch, B.: Stalinismus \"von unten\". Sozialgeschichtliche Revision eines Geschichtsbildes, in: Sozialwissenschaftliche Informationen, 17, 1988, H. 2. S. 120-125; Schröder, H.H.: Stalinismus \"von unten\"? Zur Diskussion um die gesellschaftlichen Voraussetzungen politischer Herrschaft in der Phase der Vorkriegsfünfjahrpläne, in: Die Umwertung der sowjetischen Geschichte. Hrsg. von D. Geyer. Göttingen 1991 (Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft 14). S. 133-166, bes. S. 147-152. 8 Schon Fainsod, Smolensk, a.a.O., S. 222-237, hat darauf hingewiesen. 9 Lewin, Making, a.a.O., S. 265. 14 JHK 1993AbhandlungenDiese \"eigentümliche soziale Mobilität\" soll im folgenden im Hinblick auf die Entwicklung der Sowjetgesellschaft und die Frage, wie sie diese Veränderungen zugleich geund ertragen hat, dargestellt und erörtert werden.Bauern und KollektivierungIn der Phase der Neuen Ökonomischen Politik, die 1921 auf den \"Kriegskommunismus\" folgte, waren die sozialökonomischen Verhältnisse in Sowjetrußland durch das Nebeneinander von Privat- und Staatskapitalismus im industriell-gewerblichen und durch die absolute Dominanz bäuerlicher Kleinst- und Familienwirtschaft im Agrarbereich geprägt. Rußland war weiterhin ein rückständiges Bauernland, in dem noch Ende 1926 etwa 80 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande und überwiegend von der Landwirtschaft lebten und in dem die Sozialsphären von Stadt und Land noch nicht scharf getrennt waren. Die Diskrepanz zwischen großartigen Zukunftsvisionen und bescheidener Gegenwartsrealität auch zehn Jahre nach der Revolution war es auch, die bei vielen Bolschewiki die Prädisposition dafür schuf, die \"Revolution von oben\" Ende der zwanziger Jahre zu begrüßen und moderatere Entwicklungsperspektiven, wie sie etwa Bucharin vertrat, zu verwerfen. Zu dieser Prädisposition gehörte aber auch, daß die Masse der sowjetischen Kommunisten im Bürgerkrieg, im brutalen Kampf gegen innere und äußere Feinde, als der Zweck nahezu jedes Mittel zu rechtfertigen schien, geprägt worden war, daß sie Parteimitgliedschaft vor allem als Exekution von Moskauer Befehlen, nicht aber als Willensbildung von unten erlebt hatte. Gewalterfahrung und -bereitschaft, Kommandostil als Verkehrston in Staat und Partei - das hatte das Gros der Parteimitglieder im mentalen Gepäck, als Ende der zwanziger Jahre ein Entwicklungskurs beschlossen wurde, der von vornherein Gewaltanwendung vorsah.11Die Durchführung dieses Beschlusses im ersten und zweiten Fünfjahrplan veränderte die Struktur der sowjetischen Gesellschaft radikal. Setzte sie sich 1928 noch zu 75 Prozent aus Bauern und zu knapp 18 Prozent aus Arbeitern und Angestellten zusammen, so bestand sie 1939, nur 11 Jahre später, zu über 50 Prozent aus Arbeitern und Angestellten und nur noch zu knapp 50 Prozent aus Bauern, bei einer Zunahme des städtischen Bevölkerungsanteils von 18 Prozent auf 33 Prozent.12 Bürgerliche Reste, 1928 noch 5 Prozent der Bevölkerung, waren völlig eliminiert worden, falls man nicht die \"neue Elite\", die explosionsartig angeschwollene Schicht von Führungskräften in den Apparaten von Partei, Staat und Wirtschaft sowie im Wissenschafts- und Kulturbereich als funktionales Äquivalent für diese verschwundene bürgerliche Schicht ansieht.1310 Vgl. Danilov, V. P.: Rural Russia Under the New Regime. London 1988. S. 38-57; Lewin. Making, a.a.O., S. 213.11 Zu den Prädispositionen und ihren Ursachen siehe Pethybridge, R.: The Social Prelude to Stalinism. London 1974.12 Narodnoe chosjajstwo SSSR w 1961 godu. Moskau 1962. S. 7 f., 27. 13 Fitzpalrick, S.: Stalin and the Making of a New Elite, 1928-1939, in: Slavic Review, 38, 1979. S. 377-402; Schröder, H.-H.: Industrialisierung und Parteibürokratie in der Sowjetunion. Ein sozialgeschichtlicher Versuch über die Anfangsphase des Stalinismus (1928-1934). Wiesbaden 1988 (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 41); Bailes, K.: Technology and Society undcr Lenin and Stalin. Origins of the Soviet Technical Intelligentsi a. 1917-1941. Princeton 1978; Lampert, N.: The Technical Intelligcntsia and the Soviet State. A Study of Soviel Managers and Technicians 1928-1935. New York B. Bonwetsch: Stalinismus in der SowjetunionJHK 1993 15Im Verbund mit der imponierenden Produktionsstatistik jener Jahre vermittelt sich hier der Eindruck einer rasanten Modernisierung und des massenhaften sozialen Aufstiegs. Beides wurde jedoch zu derart hohen Kosten erzielt, daß der Fortschritt außerordentlich fragwürdig war. Der wirtschaftliche Preis in Form von Substanzvernichtung, Verschwendung und Qualitätseinbuße soll hier außer Betracht bleiben. Aber die sozialen Kosten sind den Gewinnen gegenüberzustellen. Denn einer großen Zahl von Aufsteigern, die dem System verpflichtet waren, stand eine weit größere Zahl von Absteigern und Verlierern gegenüber, und im Terror der Jahre 1936-1938 wurden häufig sogar die ursprünglichen Gewinner des Wandels zu Verlierern.Die Bauern wurden allerdings von Anfang an zum größten und ausschließlichen Verlierer. Selbstverschuldete Probleme der Getreidebeschaffung standen am Anfang der neuen Agrarpolitik der Sowjetmacht, die sich angewöhnt hatte, wirtschaftliche Probleme politisch zu interpretieren und sie mit \"außerordentlichen Maßnahmen\" und sozialem Druck - Stalin propagierte das als \"Ural-Sibirische Methode\" - gewaltsam zu lösen.14 So wurden die Bauern auch nicht im Namen wirtschaftlicher Rationalität, sondern politischer Moral mit dem Ziel der \"Liquidierung des Kulakentums als Klasse\" in die Kollektivwirtschaften (Kolchosen) getrieben. Dabei war der \"Kulak\" als klassenfeindliches, kapitalistisches Element auf dem Dorf weitgehend eine Fiktion, die vom ideologisch bedingten Realitätsverlust des Regimes und seiner Träger zeugt. Den Kulaken so zu definieren, daß er in der dörflichen Realität auch zu identifizieren war, erwies sich als entsprechend schwierig. Letztlich wurde der Kulak nicht soziologisch, sondern völlig voluntaristisch nach politischen Vorgaben definiert. Wo es beim besten Willen keine Kulaken gab, \"ernannte\" man eben, wie ein Parteifunktionär es formulierte, einige Bauern dazu, um den Vorgaben zu entsprechen.15Auch der \"Klassenkampf\" auf dem Dorf, in dessen Rahmen sich \"Entkulakisierung\" und Kollektivierung angeblich vollzogen, war eine reine Fiktion. Bauern gaben sich dazu kaum her. Soziale Basis dieses Kampfes auf dem Dorf selbst waren die wenigen Parteimitglieder und Bediensteten des Sowjetregimes, die häufig von außerhalb des Dorfes stammten. Von außerhalb kamen auch diejenigen, die den Kampf tatsächlich trugen: Jungkommunisten, spezielle Arbeiterbrigaden wie die sogenannten \"Fünfundzwanzigtausender\", 17 nicht zuletzt auch Militär und Geheimpolizei. Dieses Aufgebot sorgte aus Überzeugung oder Loyalität dort, wo Desorientierung, Hilflosigkeit und allgemeine Ein-J979; Beyrau, D.: Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917 bis 1985. Göttingen 1993. 14 Stalin: Werke. Bd. 12. S. 76-82. Vgl. Lcwin, M.: Russian Peasants and Soviel Power. A Study of ColJectivization. London J968. S. 214-445; Hughes, J.: Stalin, Siberia and the Crisis of the New Economic Policy. Cambridge 1991. S. l23-l 83; Merl, S.: Die Anfänge der Kollektivierung in der Sowjetunion. Der Übergang zur staatlichen Reglementierung der Produktions- und Marktbeziehungen im Dorf (1928-1930). Wiesbaden 1985. S. 28-90: Davies, R. W.: The Socialist Offensive. The Collectivization of Soviel Agriculture, 1929-1930. Houndmills 1980. S. 39-108. 15 Lewin, Peasants, a.a.O., S. 491. Vgl. bes. ders., Making, a.a.O., S. 121-141; Hughes, Stalin, Siberia, a.a.O., S. 64-96; Merl, S.: Bauern unter Stalin. Die Formierung des sowjetischen Kolchossystems 1930-1941. Berlin 1990. S. 61-71; Altrichter, H.: Agrarstruktur und Agrarpolitik am Vorabend der Kollektivierung, in: Geschichte und Gesellschaft, 5, 1979. S. 378-397. 16 Merl, Anfänge, a.a.O., S. 90-112. 17 Viola, L.: The Best Sons of the Fatherland. Workers in the Vanguard of Collectivisation. Oxford 1987. 16 JHK 1993Abhandlungenschüchterung nicht reichten, für den notwendigen Druck, der den Eintritt in die Kolchosen zu einem fluchtartigen Wettlauf machte.Die nominelle Freiwilligkeit dieses Eintritts war, wie in vielen anderen Fällen von \'Freiwilligkeit\' auch, eine Farce, die aber als totale Begriffsverwirrung zu den \'Spielregeln\' des Stalinismus gehörte. Denn der Druck aus Moskau auf die örtlichen Organe, \'Erfolge\' vorzuweisen, war immens. Wer da nicht mitzog, geriet selbst in den Verdacht, \"Kulakenhandlanger\" zu sein. Und so taten die an \"außerordentliche Maßnahmen\" gegenüber Bauern gewöhnten lokalen Behörden alles, um \'Erfolge\' vorzuweisen. Totales Chaos war die natürliche Folge. Die Schuld daran übereifrigen Bürokraten in die Schuhe zu schieben, die \"vor Erfolgen von Schwindel befallen\" seien, wie Stalin dies in seinem bekannten Prawda-Artikel vom 2. März 1930 tat, war reine Heuchelei.18 Viele mögen das zwar geglaubt haben, aber es wäre eine völlige Verkehrung der Tatsachen, die Übertreibungen auf eigenmächtiges Handeln örtlicher Organe zurückzuführen.19 Hier waren vielmehr Exekutoren am Werk, die in einer Mischung aus Überzeugung, vorauseilendem Gehorsam und Einschüchterung die von Moskau ausgehenden Signale umsetzten. Hinzu kam allerdings, daß die Moskauer Politik im wesentlichen darin bestand, \"Schleusen zu öffnen\",20 und die sich dann ungehemmt ergießenden Fluten nicht wirklich kontrollieren konnte. So kam es tatsächlich auf der untersten Ebene zur Enthemmung im Umgang mit dem \"Klassenfeind\", die aber durchaus dem Geist der Moskauer Anordnungen entsprach.So wie bloße Signale aus Moskau zunächst den Wettlauf um die möglichst schnelle \'freiwillige\' Kollektivierung ausgelöst hatten, bewirkte Stalins Artikel vom 2. März nun das Gegenteil: Die Bauern betrachteten ihn wie das Befreiungsmanifest Alexanders II. von 1861 und taten alles, um in den Besitz eines Exemplars der Prawda-Ausgabe zu kommen.21 Zusammen mit einigen weiteren \'Signalen\' bewirkte diese Wende, daß binnen weniger Wochen Millionen Bauern die Kolchosen wieder verließen.22 Die Woge flutete über die verunsicherten Behörden einfach hinweg. Die Atempause für die Bauern dauerte jedoch nicht lange. Ab Herbst 1930 ging es nach dem alten Muster der \'Freiwilligkeit\', wenn auch etwas langsamer als beim ersten Anlauf, weiter. Am Ende des zweiten Fünfjahrplans war das Dorf kollektiviert. In einem entscheidenden Punkt sah es jedoch anders aus, als man sich das in Moskau ursprünglich vorgestellt hatte: Die Bauern, vor allem die Bauersfrauen hatten sich die Konzedierung der individuellen \"Nebenwirtschaft\" einschließlich des Rechts auf eine private Kuh- und Kleinviehhaltung ertrotzt.23 Damit wurde eine Koexistenz von privatem und gesellschaftlichem Sektor in den Kolchosen etabliert, die sich als Quelle ständiger Konflikte erweisen sollte.Den Kulaken war der Eintritt in die Kolchosen verwehrt worden. 1930/31 wurden von insgesamt etwa 800.000 enteigneten Kulakenfamilien rund 400.000, etwa 1,8 Millionen Menschen, in den Ural oder weiter nach Osten deportiert und in \"Sonderansiedlungen\"18 Stalin: Werke. Bd. 12. S. 168-175. 19 So Viola, Best Sons, a.a.O., S. 108-112. Vgl. aber Merl, Anfänge, a.a.O., S. 380-400; ders., Bauern,a.a.O., S. 71-81; Davies, Socialist Offensive, a.a.O., S. 109-152; Lewin, Peasants, a.a.O., S. 446-513. 20 Lewin, Peasants, a.a.O., S. 459. 21 Davies, Socialist Offensive, a.a.O., S. 271; Fris, S. E.: Skwos prismu wremeni. Wospominanija. Mos-kau 1992. S. 176. 22 Davies, Socialist Offensive, a.a.0., S. 269-336, Tab. S. 442 f. 23 Merl, Anfänge, a.a.O., S. 148-153; ders., Bauern, a.a.O., S. 257-259; Viola, L.: Bab\'i bunty andPeasant Women\'s Protest during Collectivization, in: Russian Review, 45, 1986. S. 23-42. B. Bonwetsch: Stalinismus in der SowjetunionJHK 1993 17der Obhut der Geheimpolizei unterstellt. Etwa 400.000 bis 450.000 Kulakenfamilien der \"3. Kategorie\" wurden lediglich innerhalb ihres Heimatgebietes \"umgesiedelt\", d.h. sie wurden von Haus und Hof verjagt und sich selbst überlassen. Zumeist flüchteten sie in die Städte bzw. auf die Industriebaustellen, um im allgemeinen Durcheinander ein neues Leben zu beginnen.24Die Drangsalierung der Bauern hörte damit keineswegs auf. Jeder, der sich kritisch äußerte oder sich dem staatlich organisierten Raub des Getreides im Rahmen der \"Getreidebeschaffung\" widersetzte, galt als \"Kulakenhandlanger\". Der Staat führte unter dem Signum des \"Klassenkampfes\" einen \"brutalen Krieg [...] gegen das Bauerntum\", wie es Lew Kopelew, einer der damaligen Aktivisten, die zur Getreidebeschaffung aufs Dorf geschickt wurden, später genannt hat.25 Dennoch war es für das Selbstverständnis aller am \"Krieg\" gegen die Bauern Beteiligten äußerst wichtig, ihrem Handeln den Sinn des Klassenkampfes zu unterstellen. Ohne diese Rechtfertigung hätten sich Bürokraten, Geheimpolizei und Soldaten, nicht aber freiwillige und überzeugte Jungkommunisten und Arbeiter aktiv daran beteiligt.Ergebnis dieses \"Krieges\" war die Überführung der Bauern in einen Status, der in vielem an die Leibeigenschaft vor I861 erinnerte einschließlich der Verpflichtung zu unentgeltlichen \"Hand- und Spanndiensten\" wie Wegebau, Holz fahren usw. Die Bauern empfanden es auch so und richteten ihr Verhalten entsprechend ein, vor allem flüchteten sie wenn irgend möglich in die eigene \"Nebenwirtschaft\" _26 Derartige Verweigerung und passiver Widerstand kennzeichnete das Verhalten der Bauern. Es gab zwar einige Gewalttaten, die zu \"Kulakenterror\" aufgebauscht wurden, aber insgesamt erreichte aktiver Widerstand nicht entfernt das Ausmaß, das er 1920/21 angenommen hatte, als der Sowjetstaat gegen die bewaffneten Bauernmassen regelrecht Krieg führen, die \"Ablieferungspflicht\" für Getreide abschaffen und seine Wirtschaftspolitik radikal ändern mußte. Warum die Bauern zehn Jahre später nicht ebenso heftig reagierten, hat sicher manche Ursache. Auf keinen Fall liegt sie in der Zustimmung zu ihrer \"Verstaatlichung\". Eher ist sie im Gefühl der Ohnmacht angesichts dieses inzwischen übermächtigen und wohletablierten Staates mit seinem skrupellosen Repressionsapparat zu suchen.Die Kollektivierung wurde für eine ganze Bauerngeneration zum Schreckenserlebnis schlechthin, denn \"selten hat eine Regierung eine solche Verwüstung über ihr eigenes Land heraufbeschworen\" _28 Die Agrarproduktion blieb auf der Strecke, weil die Voraus-24 Merl, Bauern, a.a.O., S. 98 f.; Zemskow, W.W.: \"Kulazkaja sylka\" w 30-e gody, in: Soziologitscheskie issledowanija, 199 l, H. lO. S. 3-21; ders.: Spezposselenzcy (po dokumentam NKWD-MWD SSSR), in: Soziologitscheskie issledowanija, 1990, H. l l. S. 3-l 7.25 Kopclew, L.: Vorwort, in: Altrichter, H.: Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung. München 1984. S. IX; ders.: Und schuf mir einen Götzen. Lehrjahre eines Kommunisten. München 1981. S. 289-337.26 Kopelew, Götzen, a.a.O., S. 324; Lewin, Making, a.a.O., S. 176, 183, 230; Tucker, R. C.: Stalin in Power. The Revolution from Above, l 928-194 l. New York 1990. S. 195-200.27 Heller, M./Nekrich, A.: Geschichte der Sowjetunion. Bd. 1: 1914-1939. Königstein 1981. S. 90-101; Radkey, 0.: The Unknown Civil War in Soviel Russia. A Study of the Green Movement in the Tambov Region l920-1921. Stanford l976; Frenkin, M.: Tragedija krestjanskich wosstanij w Rosii l9 l 81921 gg. Jerusalem l987; Figes, 0.: Peasant Russia, Civil War. The Volga Countryside in Revolution ( l 917-1921 ). Oxford l 99 l. S. 321-353; Jessikow, S.A./Protasow, L.G.: \"Antonowschtschina\". Nowye podchody, in: Woprossy istorii, 1992, H. 6-7. S. 47-57.28 Lewin, Peasants, a.a.O., S. 515. 18 JHK 1993Abhandlungensetzungen für die rationelle Großproduktion fehlten und weil die Bauern kein Interesse an weitgehend unentgeltlicher Arbeit im gesellschaftlichen Sektor hatten. Die Regierung ihrerseits nahm dies hin, solange nur genügend Getreide in den Beschaffungskampagnen aus dem Dorf herausgepreßt werden konnte.29 Dabei nahm man 1932/33 sogar den Hungertod von mehreren Millionen Bauern in Kauf. Offiziell leugnete man diese Realität und nahm sie nicht zur Kenntnis. Die städtische Bevölkerung, seit 1929 durch die Rationierung zwar bescheiden, aber doch gesichert versorgt, wurde zum stillschweigenden Komplizen dieser Politik. Ebenso nahm man es hin, daß die Regierung dank der Einführung der \"biologischen Ernte\" seit 1933 statistische Produktionserfolge feierte, von denen niemand satt wurde.32Unter derartigen Bedingungen war es kein Wunder, daß die Abwanderung in die Städte und Fabriken den Charakter einer Massenflucht annahm, die der Staat 1932 durch die Einführung des Paßzwangs zu verhindern suchte. Durch allgemeinen Zwang wie die Einführung von Pflichttagwerken und die Tätigkeit \"außerordentlicher Organe\" wie die \"Politabteilungen\" in den Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) und Sowchosen 1933/34 wurden die Bauern zur Anpassung gebracht.33 Aber durch Zwang allein ließen sie sich über ein bestimmtes Maß hinaus nicht zur Arbeit ohne entsprechendes Entgelt bewegen. Deshalb waren die dreißiger Jahre auf dem Dorf durch einen ständigen Kampf zwischen Staat und Bauern um die Anwendung und Entlohnung der bäuerlichen Arbeitskraft geprägt, der auch die \"Nebenwirtschaft\" einschloß. Ob diese Art informellen \"Verhandelns\" allerdings etwas mit Konzepten von \"social bargaining\" gemein hat, ist eher zweifelhaft.34 Es zeigte sich jedoch immer wieder, daß das Regime trotz aller Skrupellosigkeit nicht nach Belieben über die Bauern verfügen konnte, sondern in irgendeiner Weise auf deren Hartnäckigkeit reagieren mußte.Angesichts der negativen Politik des Regimes gegenüber den Bauern überrascht es nicht, daß seine soziale Basis auf dem Dorf dünn blieb. Es gab zwar Aufstiegsmöglichkeiten durch Parteimitgliedschaft, Funktionsübernahme im Kolchos, \"Mechanisatoren\"Tätigkeit, Bestarbeiter-Status als Stoß- oder Stachanow-Arbeiter. Sie wurden auch von Bauern genutzt, die sich aus Überzeugung oder Berechnung oder aus einer Mischung von beidem mit dem Sowjetsystem identifizierten. Aber zahlenmäßig war diese Basis gering, und sie genoß auch nur eine bescheidene materielle Besserstellung. Dagegen29 Lewin, Making, a.a.O., S. 142-177. 30 Merl, S.: Wieviele Opfer forderte die \"Liquidierung des Kulakentums als Klasse\"?, in: Geschichte undGesellschaft, 14, 1988. S. 534-540; Osokina, E. A.: Schertwy goloda 1933 goda: skolko ich?, in: Istorija SSSR, 1991, H. 5. S. 18-26. Vielfach wird die These vertreten, die Hungersnot habe den ukrainischen Nationalismus auslöschen sollen, z.B. von Conquest, R.: The Harvest of Sorrow. Soviet Collectivization and the Terror Famine. London 1986. Vgl. dagegen aber Merl, S.: Entfachte Stalin die Hungersnot von 1932-1933 zur Auslöschung des ukrainischen Nationalismus?, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 37, 1989. S. 569-590. 31 Vgl. die persönlichen Erlebnisberichte: Kravchenko, V.A.: Ich wählte die Freiheit. Hamburg o. J. S. 149-176; Kopelew, Götzen, a.a.O., S. 338-369; Kalinzeva, O.W.: Naschi. Semejnaja chronika (18861986). Swerdlowsk 1992. S. 182-184. 32 Nove, A.: An Economic History ofthe USSR. Harmondsworth 1972. S. 185 f. 33 Selenin, I.E.: Politotdely MTS - prodolschenie politiki \"zreschwytschajschtschiny\" (1933-1934 gg.), in: Otetschestwennaja istorija, 1992, H. 6. S. 42-61; Tucker, Stalin, a.a.O., S. 188. 34 Fitzpatrick, S.: New Pcrspectives on Stalinism, in: Slavic Review, 45, 1986. S. 357-373, hier 367. Vgl. dazu Eley, G.: History with the Politics Left Out - Again?, in: Slavic Review, 45, 1986. S. 385-394, hier 393. B. Bonwetsch: Stalinismus in der SowjetunionJHK 1993 19waren die Risiken beträchtlich: Funktionsträger im Kolchos mußten immer mit dem Absturz rechnen, weil sie als Sündenböcke dienten. Die Stachanowisten - häufig Frauen - waren ausgesprochen unbeliebt, und zwar bei Betriebsleitern wie bei den bäuerlichen Genossen. Wegen des Drucks von oben mußten sie zwar geradezu \'produziert\' werden, aber sie waren teuer, weil ihre Leistungen unter Sonderbedingungen vollbracht wurden, obwohl allerorten die Fiktion aufrechterhalten wurde, daß sie regulär zustande gekommen seien. Bei den Kolchosbauern waren die Stachanowisten dagegen geradezu verhaßt, weil sie gegen die stillschweigende Arbeitsverweigerung verstießen und selbstverständlich Normerhöhungen rechtfertigten. \"Hetzjagden\" auf Staehanowisten waren daher eine verbreitete Erscheinung. Da auch der materielle Gewinn bescheiden war, blieb insgesamt der soziale Aufstieg im Dorf höchst unattraktiv und auf einen kleinen Personenkreis beschränkt. 35Das Stillhalten des Dorfes und die Anpassung der Bauern sind vor allem auf das Wirken des Repressionsapparates zurückzuführen.36 Die Bauern hatten dem nur Resistenz und Verweigerung bis hin zum permanenten Diebstahl von Kolchoseigentum entgegenzusetzen. Als eine Art Unzufriedenheitsventil wirkte zweifellos die Möglichkeit, sich an den örtlichen Vertretern der Obrigkeit durch Denunziation zu rächen. Das ständige Moskauer Bedürfnis, \"Schädlinge\" und sonstige \"Feinde\" zu entlarven, provozierte dies geradezu. Der Höhepunkt wurde 1937 erreicht. als auf Anweisung des ZK im ganzen Land Wellen öffentlicher Verurteilungen von \"Schädlingen\" unter Partei- und Kolchosfunktionären ausgelöst wurden. Selbstverständlich erfolgten Denunziationen aus den verschiedensten und nicht zuletzt auch niedrigen Gründen. Aber es wäre der Mühe wert, einmal zu prüfen, wieweit das \'Angebot\' cles Regimes an seine Bürger, sich an der Suche nach \"Schädlingen\" zu beteiligen, psychisch entlastend und stabilisierend gewirkt hat. Denn hier wurde auf bizarre Weise die Illusion von Partizipation geschaffen, wobei gerade auf dem Lande im Stalin-Kult ein neuer Zaren-Mythos Gestalt annahm. Jederzeit konnte man sich an \"Stalin persönlich\" wenden und um Abhilfe bei Mißständen bitten. Selektive Reaktionen halfen jenen traditionellen bäuerlichen Mythos wiederzubeleben, nach dem in Moskau ein guter Zar herrsche und lediglich die Bürokraten an der Misere des Alltags schuld seien.38 Das Elend des Kolchoslebens verlangte wohl nach solchen Illusionen.Arbeiterschaft und IndustrialisierungAber auch Stadt und Fabrik waren durch äußerst bescheidene Arbeits- und Lebensverhältnisse geprägt. Energie und Fürsorge des Staates galten eiern zu Erbauenden, nicht den Erbauern. Vor allem im ersten Fünfjahresplan bekam die Arbeiterschaft wie auch die städtische Bevölkerung insgesamt dies zu spüren. Nach dem Urteil Alec Noves erreichte die Sowjetunion 1933 den \"Tiefpunkt des schroffsten Abfalls des Lebensstandards in Friedenszeiten, der in der Geschichte bekannt ist\".39 Genaue Berechnungen zum städti-35 Merl, S.: Sozialer Aufstieg im sowjetischen Kolchossystem der 30er Jahre\'\' Berlin 1990; ders., Bauern, a.a.O., S. 418-452.36 Lewin, Making, a.a.O., S. 182. 37 Chlewnjuk, O.W.: 1937-j: Stalin, NKWD i sowetskoje obschtschestwo. Moskau 1992. S. 166-173. 38 Lewin, Making, a.a.O., S. 14 f.; Mommsen, M.: Hilf mir, mein Recht zu finden. Russische Bittschrif-ten von Iwan dem Schrecklichen bis Gorbatschow. Berlin 1987. S. 135-216. 39 Nove, Economic History, a.a.O., S. 207. 20 JHK 1993Abhandlungensehen Realeinkommen gibt es nicht. Nach Schätzungen westlicher Experten lag das nichtlandwirtschaftliche Realeinkommen 1932, am Ende des ersten Fünfjahrplans, bei etwa der Hälfte und 1937, am Ende des zweiten bei etwa Dreiviertel von 1928. 1939 erreichte danach das Realeinkommen fast wieder den Stand von 1928, fiel aber seit 1940 wieder und sank dann während des Krieges erneut dramatisch. Erst gegen Mitte der fünfziger Jahre erreichte es wieder den Stand von 1928.40Selbstverständlich muß diese Entwicklung vor dem Hintergrund einer explosionsartigen Vermehrung der Arbeitskräfte gesehen werden. Die Zahl der Arbeiter und Angestellten stieg von 10,8 Millionen 1928 auf 22,6 Millionen 1932, 26,7 Millionen 1937 und 31,2 Millionen 1940.41 Das führte zwangsläufig zu einem Sinken des durchschnittlichen Reallohnes, weil die neuen Arbeitskräfte, in der Regel Bauern, in schlecht bezahlte Berufe gingen bzw. in die niedrigsten Lohngruppen eingestuft wurden. Vieles mehr ist bei derartigen Berechnungen zu berücksichtigen. Dennoch besteht kein Zweifel daran, daß das Realeinkommen seit 1928 rapide sank. Hinzu kommen noch andere Faktoren wie die Verschärfung des Wohnraummangels aufgrund des Wachstums der Städte, in die allein 1929-1935 etwa 18 Millionen Bauern übersiedelten.42 Ein Raum pro Familie in Barakken oder städtischen Wohnungen schlechten Zustands, das war der Standard, den aber längst nicht jeder erreichte.43 Die Belastungen aufgrund dieser Enge und Schäbigkeit sind nicht in Zahlen auszudrücken, ebenso wenig die Qualitätsminderung der Waren, die Warteschlangen. Die Demütigung des Massenkonsumenten ist ein Grundzug der sowjetischen Geschichte seit den dreißiger Jahren geblieben.Dennoch war die Lage in der Stadt anders als auf dem Dorf. Ein Arbeiter, der bereits 1928 in der Fabrik arbeitete, hatte alle Möglichkeiten aufzusteigen und seinen Lebensstandard zu halten oder sogar zu verbessern. Ein Bauer, der in die Stadt zog, wurde als Hilfsarbeiter, der unter primitivsten Bedingungen arbeitete und lebte, nicht selten sogar in Erdhöhlen, zwar sozial deklassiert. Aber ihm ging es doch noch besser als den zurückgebliebenen Dorfgenossen, auch wenn er auf der Suche nach einigermaßen erträglichen Lebensbedingungen ständig von einer Arbeitsstelle zur anderen wechselte.Eine sehr hohe Fluktuationsrate blieb ein wesentliches Merkmal der sowjetischen Arbeiterschaft bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein traditionell typisches Verhalten russischer Arbeiter wurde hier durch die Verhältnisse besonders gefördert. Denn da die Nachfrage nach Arbeitskräften immens wuchs, war es, anders als in den zwanziger Jahren, seit Beginn der Fünfjahrpläne überhaupt kein Problem mehr, Beschäftigung zu finden. Die Betriebe nahmen, wen sie kriegen konnten, und warben sich die qualifizierten Arbeiter gegenseitig ab. Zugleich aber boten sie den Arbeitern hinsichtlich des Lohns, der Ernährung und des Wohnens so wenig, daß die frisch in die Fabrik geströmten Arbeiter, kaum daß sie etwas angelernt waren, auf der Suche nach besseren Arbeits-40 Ebenda, S. 201-208, 246-251, 259 f., 305-311; Chapman, J.: Real Wages in Soviet Russia Since 1928. Cambridge 1963. S. 142-188; Schröder, Industrialisierung, a.a.O., S. 99-107. Sehr viel positiver: Vyas, A.: Consumption in a Socialist Society. The Soviel Industrialisation Experience, 1929-1937. New Delhi 1978. Bes. Kap. 6, 8. Siehe dazu aber die Rez. von Weißenburger, U., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 29, 1981. S. 286-289.41 Beschäftigungszahlen nach: Narodnoje chos.jajstwo SSSR w 1961 godu. S. 566 f. 42 Lewin, Making, a.a.O., S. 219. 43 Ebenda, S. 220; Nove, Economic History, a.a.O., S. 250 f. Vgl. die Schilderungen bei Scott, J.: Jen-seits des Ural. Stockholm 1944. S. 51-53, 281; Orlow, J.: Ein russisches Leben. München 1992. S. 51, 70 f. B. Bonwetsch: Stalinismus in der SowjetunionJHK 1993 21und Lebensbedingungen den Betrieb und häufig auch den Ort wechselten. Ganze Branchen schlugen auf diese Weise ihre Arbeitskräfte mehrmals im Jahr um. Im Durchschnitt wechselte jeder Industriearbeiter in den vier Jahren des ersten Fünfjahrplans \"mindestens fünfmal den Arbeitsplatz\". Wie die Betriebe die Beschäftigten, so wechselten auch die Städte ihre Einwohner.44Die \"Revolution von oben\" hatte offenkundig Prozesse ausgelöst, die weder gewollt noch zu steuern waren. Die Gesellschaft wurde geradezu \"aus den Angeln gehoben\" (Lewin). Nach den Erschütterungen durch Revolution und Bürgerkrieg wurden ihre alten Strukturen nun vollends aufgelöst, ohne daß neue bereits an deren Stelle getreten wären. Mit der Gesellschaft selbst war auch ihre innere Ordnung in Bewegung geraten. Die alte Arbeiterschaft, im wesentlichen auch erst in den zwanziger Jahren entstanden, bildete nicht den Kristallisationskern der neuen, weil sie in Führungspositionen befördert bzw. für politische Zwecke eingesetzt wurde und weil sie in der Flut der neuen Arbeitermassen einfach unterging. Die neuen Arbeiter gaben nichts auf, wenn sie Betrieb und Wohnort wechselten. Nichts hielt sie. Da die neurekrutierten Arbeiter immer jünger wurden, waren sie auch als Persönlichkeit nicht gefestigt und familiär ungebunden. In manchen Fabriken waren 1930 70-80 Prozent der Arbeiter unter zwanzig Jahre alt und ohne Fabrikerfahrung. Selbst Ende der dreißiger Jahre hatten fast 40 Prozent aller Arbeiter erst ein Jahr oder weniger in der Fabrik gearbeitet.45Wie für die Entwicklung der Arbeiterschaft selbst blieb dies auch für die sowjetische Fabrik nicht folgenlos: Ungelernte, unter primitivsten Bedingungen lebende und den Betrieb ständig wechselnde Arbeiter hatten weder die Fähigkeit noch das Ethos, an den neuen Maschinen gute Arbeit zu leisten. Ersetzung von Qualität durch Quantität bei den Arbeitern wie bei den Erzeugnissen war die logische Folge, gefördert durch eine Politik, die die Masse zum wesentlichen Erfolgskriterium erhob, sich an Stückzahlen und Wachstumsraten berauschte und nur Neubau, nicht aber Erhaltung kannte.All dies kam den Staat wie die Gesellschaft in Form von Ressourcenverschwendung und entgangenem Nutzen außerordentlich teuer zu stehen. Hinzu kam, daß die sich formierende neue Arbeiterschaft Industrie, ja Wirtschaft überhaupt als permanentes Chaos kennenlernte und sich sehr schnell an die offizielle Version gewöhnte, dies nicht als Folge verfehlter Politik, sondern als Folge von \"Schädlingstätigkeit\" anzusehen. So konnten sich beide, Arbeiterschaft wie Partei, von der Verantwortung für Mißstände entlasten. Während es aber für das Verhalten der Arbeiter Entlastendes genug anzuführen gäbe, trug die Partei die volle Verantwortung für das Chaos, das sie auslöste, indem sie \"Maßlosigkeit zur Politik\" machte (Lewin). Der Wachstumsrausch kannte nicht nur keine Bremsen, sondern duldete auch keine. So übertraf dann ein Planentwurf den vorhergehenden. Voluntarismus wurde zum Prinzip erhoben. \"Es gibt keine Festung [... ], die die Werktätigen und die Bolschewiki nicht nehmen könnten\", nach dieser wie eine Weisung betrachteten Äußerung Stalins vom April 1928 handelten die führenden Bolschewiki und dachte die Masse der Parteimitglieder.46 Wer mit Vernunftargumenten zur Vorsicht mahnte wie zahlreiche Fachleute in den Volkskommissariaten, Planungsbehörden und Betrieben, der geriet automatisch in den Verdacht, Klassenfeind zu sein oder44 Schröder, Industrialisierung, a.a.O., S. 292-298, Zit. 294; Kuromiya, H.: Stalin\'s Industrial Revolution. Politics and Workers, 1928-1932. Cambridge 1988. S. 209-212.45 Kuromiya, Stalin\'s Revolution, a.a.O., S. 215; Lewin, Making, a.a.O., S. 250. 46 Stalin: Werke. Bd. 11. S. 52. 22 JHK 1993Abhandlungenihm zu dienen. Denn wie die Kollektivierung wurde auch die forcierte Industriealisierung nicht als Frage wirtschaftlicher Rationalität, sondern als Frage der politischen Moral bzw. des Klassenkampfes angesehen. Während in der Kollektivierung den Kulaken der Krieg erklärt wurde, richtete sich im Zusammenhang mit der Industrialisierung der Kampf gegen die \"bürgerlichen Spezialisten\" als Ersatz-Bourgeoisie und alle diejenigen, die als \"Rote Direktoren\" oder sonstige Führungskräfte deren Ansichten teilten.47Den Vorwand zum Krieg gegen die \"bürgerlichen Spezialisten\" hatte die SchachtyAffäre 1928 gebildet.48 Man hatte die angebliche Verschwörung von 53 Ingenieuren der Kohlengruben von Schachty im Donbass aufgedeckt und einen Schauprozeß inszeniert, der unter großem propagandistischem Aufwand die These belegen sollte, daß die Spezialisten im Verbunde mit dem ausländischen Kapital die \"ökonomische Konterrevolution\" betrieben. Stalin hatte dieses Untersuchungsergebnis im April 1928 vorweggenommen und dabei zugleich den Begriff der \"Schädlingstätigkeit\" (wreditelstwo) in den politisch-strafrechtlichen Sprachgebrauch eingeführt.49Es ist ungeklärt, ob die OGPU die Beschuldigungen in gutem Glauben erhoben hat. Sicher ist jedoch, daß sie politisch genutzt wurden. Der Prozeß wies bereits fast alle Merkmale auf, die für politische Verfahren der Stalin-Zeit typisch waren: Die Schuld der Angeklagten wurde bereits mit ihrer Verhaftung als Tatsache behandelt; die Beweise waren absolut dürftig und beruhten lediglich auf Aussagen Beschuldigter, die mit zweifelhaften Verhörmethoden dazu gebracht worden waren, sich und andere zu belasten; die Strafen waren äußerst hoch. Andere Prozesse nach dem gleichen Muster folgten; der bedeutendste fand im Oktober 1930 gegen die sogenannte \"Industrie-Partei\" statt.Die Vorwürfe gegen die \"bürgerlichen Spezialisten\" hatten immer dasselbe Muster: Sie wurden beschuldigt, die Industrialisierung und den Aufbau des Sozialismus in Zusammenarbeit mit dem Ausland durch Planungs- und Produktionssabotage verhindern und die Sowjetmacht stürzen zu wollen. Selbstverständlich wurde dies auch mit der \"rechten Abweichung\" um Bucharin in Verbindung gebracht.SO Die Schauprozesse und die ganze Kampagne gegen die \"bürgerlichen Spezialisten\" wurde eindeutig politisch instrumentalisiert.51 Hier wurde die Realität des angeblichen Klassenkampfes belegt, der das Hauptargument für den Stalinschen Industrialisierungs- und Kollektivierungskurs war.Bizarr wie dieser Nachweis war, so mußte er doch einer spezifischen Realitätswahrnehmung in der innerparteilichen Auseinandersetzung Glaubwürdigkeit verleihen. Denn auch die Gegner der forcierten Industrialisierung konnten sich dieser Logik nicht entziehen, da sie die ideologisch bedingte Gesellschaftsanalyse teilten. Denn auch für Bucharin war im Rußland der Neuen Ökonomischen Politik der Klassenkampf noch zu führen, um das Land zum Sozialismus zu bringen. Der Unterschied zu Stalin lag in der Auffas-47 Vgl. bes. Bailes, Technology, a.a.O., S. 69-156; Lampert, Technical Intelligentsia, a.a.O., S. 38-69; Schröder, Industrialisierung, a.a.O., S. 31-41.48 Kuromiya, Stalin\'s Revolution, a.a.O., S. 12-17; Bailes, Technology, a.a.O., S. 69-94; Medvedev, R.: Let History Judge. 2. Aufl., Oxford 1989. S. 255-291; Reiman, M.: Die Geburt des Stalinismus. Die UdSSR am Vorabend der \"zweiten Revolution\". Frankfurt 1979. S. 104-115; Tucker, Stalin, a.a.O., S. 75-78, 98-101.49 Stalin: Werke. Bd. 11. S. 47 f. 50 Stalin: Werke Bd. 12. S. 1-95, bes. 13. 51 Ziehr, W.: Die Entwicklung der Schauprozesse in der Sowjetunion. Ein Beitrag zur sowjetischen In-nenpolitik 1928-1938. Phil. Diss., Tübingen 1969. B. Bomvetsch: Stulinis111us in der Sowjetunion./HK 1993 23sung, daß dieser Kampf mit friedlichen, unblutigen Mitteln geführt werden könnte.52 Aber da auch Bucharin dies nicht grundsätzlich, sondern abhängig von der Klassenkampfsituation sah, mußte seine Überzeugung von der Möglichkeit des friedlichen Klassenkampfes in dem Moment seine Grundlage verlieren, wo dieser sich verschärfte. Das hatte auch Bucharin als Möglichkeit nicht ausgeschlossen. Genau diese Verschärfung aber wurde in der Kampagne gegen die \"bürgerlichen Spezialisten\" - mit welch fragwürdigen Mitteln auch immer - \'bewiesen\'. Die Gegner des radikalen Kurses wurden auf diese Weise gleichsam argumentativ \'entwaffnet\'. Das gleiche gilt im übrigen für das Argument der drohenden Kriegsgefahr, das auch Bucharin in der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern benutzt hatte und das nun selbstverständlich von den Befürwortern der forcierten Industrialisierung gegen Bucharins Vorschläge für einen gemäßigteren Kurs eingesetzt wurde.53Gegen die These von der inneren und äußeren Bedrohung gab es für Kommunisten offenbar kein als legitim angesehenes Argument. Der merkwürdige \"Klassenkampf\" gegen die Bourgeoisie in Gestalt der \"bürgerlichen Spezialisten\" konnte sich so ungehindert entfalten. Allerdings nahm er nicht entfernt die blutigen Ausmaße an wie der Kampf gegen die \"Kulaken\". Daß sich diese \'Bourgeoisie\' gewehrt hätte, und sei es auch nur in einzelnen Verzweiflungsakten wie auf dem Dorf, ist nicht bekannt. Die städtische \'Bourgeoisie\' reagierte nur mit Anpassung, und dazu ließ man ihr auch die nötige Chance. Insgesamt wurden offenbar nur einige Tausend Fachleute aus dem Obersten Volkswirtschaftsrat, der Staatlichen Plankommission, den Volkskommissariaten und den Betrieben strafrechtlich verfolgt. Schätzungen gehen bis zu 10 Prozent des in Frage kommenden Personenkreises.54 Von erheblich größerer Breitenwirkung war die Verunsicherung und Einschüchterung nicht nur aller \"bürgerlichen Spezialisten\", sondern auch aller Kommunisten, die als \"Rote Direktoren\" und sonstige Angehörige der Leitungsapparate mit ihnen zusammenarbeiteten. Sie wurden für alle Planungs- und Produktionsmißstände verantwortlich gemacht und öffentlich angeprangert. In dieser Atmosphäre allgemeiner \"Spezialistenfresserei\" (spezejedstwo), wie dies anschaulich genannt wurde, wagte niemand mehr, Einwände auch gegen absurdeste Anordnungen zu erheben. Die Planer gaben sich zu abenteuerlichen Planentwürfen her, weil sie lieber für ein hohes Wachstumstempo \"einstehen\" als für ein niedriges \"einsitzen\" wollten, wie es Stanislaw Strumilin aus dem Gosplan mit einem Wortspiel ausdrückte.55 Betriebsleiter wagten nicht mehr, gegen phantastische Produktionsvorgaben zu protestieren, Ingenieure nicht, auf Sicherheitsvorschriften hinzuweisen, weil das als \"Schädlingstätigkeit\" galt. Trafen aber Unglücksfälle ein, wurden sie ebenfalls belangt. Ein absoluter Voluntarismus hatte die letzten Bremsmechanismen außer Kraft gesetzt. Die Zerrüttung der Volkswirtschaft war die logische Folge, die aber wiederum als Beleg für die Schärfe des \"Klassenkampfes\" gewertet wurde.52 Cohen, S. F.: Bukharin and thc Bolshevik Revolution. New York 1974. S. 198-200, 283-285 und pas-s1 m. 53 Ebenda, S. 262-265, 316; Boctticher, M. von: lndustrialisierungspolitik und Verteidigungskonzeptionder UdSSR 1926-1930. Herausbildung des Stalinismus und \"äußere Bedrohung\". Düsseldorf 1979. S. 217 und passim. 54 Bailes, Technology, a.a.O., S. 70: Schröder, Industrialisierung, a.a.O„ S. 223-225. 55 Lewin, Making, a.a.O., S. 272. 24 JHK 1993AbhandlungenDie Überwachungsorgane - Arbeiter- und Bauerninspektion und OGPU, die Geheimpolizei - wurden im Zuge dieses Kampfes zu mächtigen Organisationen. Die Tendenz, Mißstände auf \"Schädlingstätigkeit\", nicht aber auf allgemeine Unzulänglichkeit, Überforderung, Schlamperei und Unfähigkeit zurückzuführen, blieb auch bestehen, als der Kampf gegen die \"bürgerlichen Spezialisten\" 1931 eingestellt wurde.56 Kein Wunder, daß \"Spezialisten\", welcher sozialen Herkunft auch immer, verantwortungsscheu wurden, sich blind an sekundären Erfolgsmerkmalen wie den Planvorgaben orientierten, Kapazitätsreserven verheimlichten, um bei unvermeidlichen Pannen trotzdem den Plan erfüllen zu können, und daß sie aus dem gleichen Selbsterhaltungsinteresse auch die Gewohnheit entwickelten, einen \"Posten rechtzeitig zu verlassen, bevor sie bestraft, abberufen, verhört, degradiert, entlassen oder verhaftet wurden\".57All dies trug selbstverständlich zur Zerrüttung der Wirtschaft im ersten Fünfjahrplan bei. Das kehrte sich erstaunlicherweise aber nicht gegen die dafür Verantwortlichen in der Parteiführung um Stalin. Das Konstrukt des \"Klassenkampfes\" und die ständige Jagd nach \"Schädlingen\" auf allen Ebenen der Leitungsinstanzen von Partei, Staat und Wirtschaft waren offenbar wirksame Mittel, um die Arbeiterschaft oder zumindest Teile von ihr für den Kurs der Regierung zu mobilisieren und ihm auf diese Weise eine für das ideologische Selbstverständnis wichtige soziale Basis zu verschaffen.58 Obwohl der Klassenkampfgedanke hier in total deformierter Weise in Erscheinung trat, ließen sich offenbar nicht nur die rund 500.000 Parteimitglieder unter den Arbeitern und die etwa 2 Millionen im Komsomol organisierten Jugendlichen für den Kampf gegen den angeblichen Klassenfeind in Gestalt der \"bürgerlichen Spezialisten\" wie auch der privaten Unternehmer, Händler und sonstigen Gewerbetreibenden föhren.59 Auch nach Beendigung des Kampfes gegen die \"bürgerlichen Spezialisten\" 1931 und nach der völligen Eliminierung der privaten Elemente in der Wirtschaft blieb der \'Feind\' in Gestalt des klassenungebundenen \"Schädlings\" während der gesamten dreißiger Jahre erhalten.60 Und es ist erstaunlich, wie es der Parteiführung immer \\Vieder gelang, mit deformierten Klassenkampf-Vorstellungen die Basis gegen \"Schädlinge\" im Apparat zu mobilisieren und sie zu Sündenböcken für die eigene Politik zu machen. Ganz offenkundig ließ sich eine latente Bereitschaft freisetzen, sich an denen schadlos zu halten, die die Härte des Regimes nach unten exekutierten.Arbeiterschaft zwischen Aufstiegschancen und DisziplinierungDie Unterstützung wichtiger Segmente der Arbeiterschaft sicherte sich die Regierung aber auch durch materielle \'Überzeugung\'. Denn der Industrialisierungskurs eröffnete einer großen Zahl von Arbeitern ungeheuere Aufstiegschancen, weil im Zuge des angeblichen Klassenkampfes proletarische Herkunft ein entscheidendes Auswahlkriterium56 Siehe z.B. Witkin, Z.: An American Inginecr in Stalin\'s Russia. The Memoirs of Zara Witkin, 19321934. Berkeley 1991. S. 124 f. und passim.57 Lewin, Making, a.a.O., S. 221, 239; Bailes, Technology, S. 122-140. 58 So die Kernthese von Kurorniya, Stalin\'s Revolution, a.a.O. 59 Rigby, T. H.: Communist Party Memhership in the USSR 1917-1967. Princeton 1968. S. 52, 116. 167.Vgl. Schapiro, L.: The Cornmunist Party of the Soviet Union. 2. Aufl., London 1970. S. 313-317. 60 Zur Eliminierung des privaten Sektors: Sowetskaja torgowlja. Statistitscheskij sbornik. Moskau 1956.S. 14 f.; Narodnoje chosjajstwo SSSR w 1961 godu, a.a.O., S. 67: The USSR in Figures 1935. Moskau 1935. S. 75; Nove, Economic 1-listory, a.a.O., S. 136-138. B. Bonwetsch: Stalinismus in der Sowjetunion.!HK 1993 25bei der Besetzung von Leitungsposten war. Nach einer Schätzung von Sheila Fitzpatrick wurden allein 1928-1934 etwa 1,5 Millionen Arbeiter in betriebliche und administrative Führungspositionen oder zum Studium an einer Höheren Bildungsanstalt \"befördert\".61 Diese \"Beförderung\" (wydwischenije) führte zusammen mit politischen Einsätzen der Arbeiterschaft zu einer derartigen Entblößung der Betriebe von qualifizierten Arbeitern, daß das wirtschaftliche Chaos noch vertieft wurde. Parallel zur Rehabilitierung der \"alten Spezialisten\" im Interesse der Restabilisierung der Wirtschaft wurde deshalb seit Mitte 1931 auch diese \"Beförderung\" eingeschränkt und 1933 ganz eingestellt.62Damit hörte auch die \"Kulturrevolution\" an den Höheren Bildungsanstalten auf. Sie hatte 1928 mit dem Beschluß zur Heranbildung \"Roter Spezialisten\" begonnen und war entsprechend der damaligen Klassenkampfatmosphäre durch forcierte Proletarisierung der Studenten sowie durch starke Ausweitung der technischen Bildung und der angewandten Forschung gekennzeichnet.63 Opfer der Klassenkampfstimmung waren nicht nur Studenten und Hochschullehrer aus bürgerlichem Milieu, sondern auch das Niveau der Ausbildung. Die eingeschüchterten alten Lehrkräfte leisteten bestenfalls passiven Widerstand. Die konservative Wende, die 1931/32 einsetzte, war nicht ihnen zu verdanken, sondern denjenigen Managern und Parteiführern, die einsahen, daß mit Enthusiasmus und proletarischer Herkunft allein weder die neue Technologie noch das wirtschaftliche Chaos zu bewältigen waren. Die \"Wiederherstellung der Ordnung\" (Kuromiya) wurde jetzt zum vorrangigen Ziel erklärt.Damit setzte nicht nur an den Universitäten eine Abkehr vom revolutionären Elan und eine Hinwendung zu sozialkonservativeren Wertvorstellungen und Verhaltensformen ein, die der Soziologe Timasheff mit Recht als den \"großen Rückzug\" von kommunistischen Idealen und Gesellschaftsentwürfen bezeichnet hat.64 Auch der Massenaufstieg von Arbeitern fand damit sein Ende. Die \"Beförderten\" des ersten Fünfjahrplans bildeten zwar einen wesentlichen Teil der neuen Eliten des Sowjetstaates, die möglicherweise auch die \"Säuberungen\" 1936-1938 besser überstanden als andere. Aber das war wohl vor allem ihrer Jugend zu verdanken, die sie erst in \'gefährliche\' Positionen aufrücken ließ, als die Repressionswelle ihren Höhepunkt schon überschritten hatte. Wegen sozialer Herkunft gab es jetzt keinen Bonus mehr - weder bei der Beförderung noch bei der Repression. 65\"Wiederherstellung der Ordnung\" bedeutete für Arbeiter, daß sie vor allem arbeiten sollten. Revolutionärer Elan war nicht mehr gefragt. Das erfuhren vor allem die bei älteren Arbeitern nicht unbedingt beliebten jugendlichen Enthusiasten, die die \"Stoßarbeiter\"-Bewegung und den \"sozialistischen Wettbewerb\" ins Leben gerufen hatten. Derartige spontane Regungen wurden in staatliche Fürsorge übernommen und in einem Pseu-61 Fitzpatrick, New Elite, a.a.O., S. 387. Vgl. auch Süß, W.: Die Arbeiterklasse als Maschine. Ein industriesoziologischer Beitrag zur Sozialgeschichte des aufkommenden Stalinismus. Berlin 1985. S. 239252.62 Fitzpatrick, New Elite, a.a.O., S. 390 f.; Kuromiya, Stalin\'s Revolution, a.a.O., S. 276-280.63 Cultural Revolution in Russia, 1928-1931. Hrsg. von S. Fitzpatrick. Bloomington 1978; dies.: Educa-tion and Social Mobility in thc Soviet Union, 1921-1934. Cambridge 1979; Bailes, Technology, a.a.O., S. 159-261. Vgl. als interessanten Blick von innen auch Fris, Skwos prismu, a.a.O., S. 174-212. 64 Timasheff, N. S.: The Great Retreat. The Growth and Decline of Communism in Russia. New York 1946. Vgl. Lewin, Making, a.a.O., S. 222. 65 Fitzpatrick, New Elite, a.a.O., S. 385 f., 398. Vgl. aber Thurston, R.: Fear an Belief in the USSR\'s \"Great Terror\". Response to Arrest, 1935-1939, in: Slavic Review, 45, 1986. S. 213-234, hier 232. 26 JHK 1993Abhandlungendo-Freiwilligentum bürokratisch erstickt.66 Arbeiter konnten sich nun aus politischer Überzeugung oder materiellem Interesse als \"Stoßarbeiter\" oder später als \"Stachanowisten\" hervortun und zum Vorarbeiter aufsteigen, um sich dann an der Nahtstelle des Konflikts zwischen Arbeitern und Betriebsleitung zu zerreiben. Ein zahlenmäßig kaum zu erfassendes Segment der Arbeiterschaft nahm dieses Aufstiegsangebot durchaus wahr, auch wenn zu den Bedingungen dieses Angebots immer wieder die Beteiligung an der Denunzierung der eigenen Vorgesetzten als \"Schädlinge\" gehörte. Das zeigte sich vor allem während der \"großen Säuberung\" 1936-1938.67Einen etwas anderen Charakter hatte kurzzeitig die Stachanow-Bewegung als Aufstiegsmöglichkeit von Arbeitern in der Produktion.68 Der Hauer Alexej Stachanow hatte im August 1935 in einer Schicht ein Vielfaches der Norm gefördert. Das ganze war jedoch eine zu Propagandazwecken \'getürkte\' Aktion. Sie wurde in Moskau nicht zuletzt von Stalin selbst aufgegriffen, zum Vorbild erklärt und zu einer nationalen Kampagne gemacht, um eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität zu erreichen, die man durch eine stillschweigende Komplizenschaft zwischen Apparat und Arbeiterschaft hintertrieben glaubte. Typisch für die Zeit war, daß niemand auf die Idealbedingungen hinzuweisen wagte die zur Erzielung dieses und ähnlicher \"Rekorde\" für einzelne hergestellt werden mußten. Alle Beteiligten taten so, als ob ganze Betriebe und Branchen derartige Leistungen vollbringen konnten. Dabei war derartige Rekordhascherei betriebswirtschaftlicher Unsinn: Sie brachte den normalen Arbeitsablauf durcheinander, erhöhte Verschleiß und Ausschußproduktion, war wegen der progressiven Lohnerhöhung nicht zu bezahlen und verprellte die übrigen Arbeiter, weil die \"Rekorde\" zur Rechtfertigung von Normerhöhungen dienten.Da seit den Erfahrungen mit der \"Spezialistenfresserei\" niemand mehr offen Widerspruch äußerte, sondern entsprechend der ungeschriebenen Regeln des \"Spiels \'Einmütigkeit\'\" (Lewada) sogar öffentlich Beifall zollte, blieb für das Management wie die Masse der Arbeiter nur die Möglichkeit, die Stachanow-Bewegung zu hintertreiben. Die potentiellen oder bereits erfolgreichen Stachanowisten, durch beträchtlichen Lohngewinn wie große Publizität verlockt, hatten aber schnell heraus, daß sich durch Denunziation dieser \"Sabotage\" die Partei wie auch die Geheimpolizei mobilisieren ließ. Auf diese Weise wurden zahlreiche Betriebsleiter und sonstige Angehörige des Apparats den \"Organen\" ausgeliefert.Allerdings wäre es völlig verfehlt, die Initiative dazu einer spontanen Entwicklung an der Arbeiterbasis zuzuschreiben und in der Stachanow-Bewegung eine oder sogar die Erklärung für den Terror der Jahre 1936-1938 zu sehen.69 Teile der Basis - häufig unqualifizierte Arbeiter - nutzten als Stachanowisten wie auch als Denunzianten \'Angebote\' des Regimes, die einen aus Überzeugung, die anderen aus Aufstiegsinteresse - beides mag sich auch vermischt haben. Aber spontan war die Entwicklung nicht. Denn in dem66 Siegelbaum, L.H.: Stakhanovism and the Politics of Productivity in the USSR, 1935-1941. Cambridge 1988. S. 15-65; Kuromiya, Stalin\'s Revolution, a.a.O., S. 115-135, 194-199.67 Siegelbaum, L.H.: Masters on the Shop Floor. Foremen and Soviel lndustrialization, in: Stalinism. lts Nature and Aftermath, a.a.O., S. 127-156.68 Vgl. außer Siegelbaum, Stakhanovism, a.a.O., auch Maier, R.: Die Stachanow-Bewegung 1935-1938. Der Stachanowismus als tragendes und verschärfendes Moment der Stalinisierung der sowjetischen Gesellschaft. Stuttgart 1990; Filtzer, D.: Soviel Workers and Stalinist lndustrialization. The Formation of Modem Soviet Production Relations, 1928-1941. London 1986.69 So Maier, Stachanow-Bewegung, a.a.O., S. 418. B. Bonwetsch: Stalinismus in der SowjetunionJHK 1993 27Moment, wo aus Moskau Signale in entgegengesetzter Richtung kamen, hörten die Beschuldigungen wegen \"Sabotage\" der Stachanow-Bewegung sehr schnell auf, die Bewegung selbst verschwand in der Versenkung, ohne daß sie je offiziell für beendet erklärt worden wäre. Letztlich hat sich hier das Management mit stillschweigender Unterstützung aus der Arbeiterschaft wie aus der Parteiführung gegen ein unsinniges Experimneenntt durchgesetzt, dessen negative Folgen unweigerlich ihm selbst zur Last gelegt werden wären. Aufstiegschancen wurden jedenfalls nur für wenige geboten, sofern sie, wie Alexej Stachanow selbst, der Produktion entfremdet wurden.Die Masse der Arbeiter ließ sich durch Aufstiegschancen nicht locken oder 1atte keine. Sie suchte sich, so gut es ging, mit den kümmerlichen Arbeits- und Lebensb Lebensbedingungen gungen einzurichten. Eine Bewegung zur Vertretung ihrer Interessen brachte diese neue Arbeiterschaft nicht hervor. Die zu ihrer Führung berufenen erfahrenen Arbeiter wraren \"befördert\" oder sonst in das System integriert und Gefangene psychischer und p ·aktischer Zwänge. Eine oppositionelle Intelligenz, die Arbeiterinteressen hätte artiku ieren und organisieren können, gab es nicht mehr. Selbst in der relativ liberalen Phasee der NÖP hatten sich keine autonomen Bewegungen entwickelt. Um so weniger gab es Ansätze dazu angesichts der allgemeinen Einschüchterung im beginnenden Stalini ;mus. Das galt auch für die Gewerkschaften, die die letzten Reste ihrer Selbständigkeit verloren ren und nun vollends zum Teil der Exekutive wurden.70 Auf sich selbst gestellt und der staatlichen Übermacht ausgeliefert, entwickelte die Arbeiterschaft ihre eigenen Verhaltensweisen, die dem Staat die Grenzen seiner scheinbar unbeschränkten VerfüguHgsgewalt deutlich machten, ohne daß auch nur der leiseste Hauch von Opposition s spürbarwurde. Die Arbeiterschaft erwies sich als \"renitenter Held\" (Schlögel), der dem Staat den für unangemessen gehaltenen Gehorsam partiell verweigerte. Das betraf vor allemm die Disziplin, die auch nach der konservativen Wende von 1931 ein Dauerproblem blieb, wobei die periodische Mobilisierung der Basis gegen die Apparate deren Autorität gegenüber den Arbeitern und damit deren Disziplin nicht gerade förderte.Das Kernproblem hinter der Undiszipliniertheit war, daß der Staat meinte, ü überdie Arbeitskraft beliebig verfügen und deren Bedürfnisse als Residualgröße betracl tten zu können. Trotz aller äußeren Anpassung verweigerte sich die Arbeiterschaft dies, diesPerolitik. Arbeitsplatzwechsel, Fehlen (\"Bummelei\"), Alkoholismus, mangelndes Arbe tsethos - das waren die Probleme, denen sich Betriebe und Regierung infolgedessen konl rontiert sahen. Mit Hilfe moralischer, wirtschaftlicher und strafrechtlicher Sanktionen versurcshtue chte man die unerwünschten Folgeerscheinungen der eigenen Politik einzudämmen: Entzug der Lebensmittelkarte und der durch den Betrieb zugeteilten Gutscheine für Indu Industriewaren ren, Verweis aus der betrieblichen Unterkunft, öffentliche Anprangerung, Aussc Aussacuhsluß der Gewerkschaft, Entlassung, Beschneidung des Urlaubsanspruchs, strafrechtliche Verfolgung als \"Produktionsdeserteur\" oder \"böswilliger Schädiger\" (slostnyj <lese rganisator) - die Palette der Sanktionsmaßnahmen war breit und dennoch nicht wirksa n. Denn letztlich machte der unstillbare Bedarf an Arbeitskräften den Betriebswechsel auceh unter Vertragsverletzung leicht und ließ alle Sanktionen ins Leere laufen, weil auch die Betriebsleitungen über vieles hinwegsahen.71Hinzu kam seit Ende 1936 der demoralisierende Effekt der pausenlosen Elltlarvung von \"Volksfeinden\" (wragi naroda). Das eingeschüchterte Management konnte so der70 Deutscher, l.: Die sowjetischen Gewerkschaften. Frankfurt 1969. 71 Hofmann, W.: Die Arbeitsverfassung der Sowjetunion. Berlin 1956. S. 95- 103. 28 JHK 1993AbhandlungenDisziplinlosigkeit der Arbeiter kaum etwas entgegensetzen. Das gleiche zeigte sich übrigens in der Armee, wo die Offiziere z.T. nicht einmal mehr wagten, Disziplin einzufordern.72 Erst nach dem Abflauen der Jagd auf \"Volksfeinde\" änderte sich daran etwas. Im Dezember 1938 wurden \"Arbeitsbücher\" eingeführt, die das Verhalten der Arbeiter auch bei Betriebswechsel kontrollierbar machen sollten. Da dies nicht den gewünschten Effekt hatte, und weil die Lage in Europa härtere Maßnahmen angezeigt erscheinen ließ, folgte am 26. Juni 1940 ein Erlaß, der nicht nur die Arbeitszeit erheblich verlängerte, sondern auch das Arbeitsverhältnis für Arbeitnehmer generell unkündbar machte. Eigenmächtiger Betriebswechsel sollte danach obligatorisch im Schnellverfahren mit zwei bis vier Monaten Haft und \"Bummelei\", d.h. Verspätung um mehr als 20 Minuten, mit bis zu sechs Monaten Strafarbeit im Betrieb unter Lohnabzug und anderen Auflagen bestraft werden.73Da die Betriebsleitungen im Interesse einigermaßen friedlicher Arbeitsbeziehungen das Gesetz nur zögernd praktizierten, wurden sie ihrerseits für den Fall seiner unzureichenden Anwendung mit Strafe bedroht. Das Resultat war ebenso erschreckend wie bezeichnend für den Zustand der Sowjetgesellschaft: Bis zum Kriegsausbruch im Juni 1941 wurden rund drei Millionen Arbeiter und Angestellte aufgrund des Erlasses vom 26. Juni 1940 verurteilt, davon 83 Prozent wegen \"Bummelei\", die Übrigen wegen eigenmächtigen Wechsels des Arbeitsplatzes.74Gewiß, es ging hierbei nicht wie beim berüchtigten \"Ährengesetz\" von 1932 um jahrelange Lagerhaft oder gar die Todesstrafe. Nichtsdestoweniger wurden binnen Jahresfrist 8 Prozent aller Arbeiter und Angestellten allein wegen dieser Geringfügigkeiten strafrechtlich belangt. Ganz offenkundig waren die Menschen gegen die Strafandrohung abgestumpft und das Verstoßen gegen das Strafgesetzbuch gehörte zum Alltagsverhalten. Die Kriminalstatistik bestätigt das: 1937 wurden über 1,1 und 1940 über 1,2 Millionen Menschen vor allgemeinen Gerichten verurteilt, wobei Fälle nach dem Gesetz vom 26. Juni 1940 und Verhandlungen vor Transport- und Militärgerichten sowie außergerichtlichen Instanzen, die für politische Verfahren einschließlich derjenigen gegen \"Volksfeinde\" zuständig waren, nicht eingerechnet sind.75 Allerdings war offenkundig auch der Staat abgestumpft. Denn statt angesichts dieser massenhaften Straffälligkeit die eigene Politik zu überdenken, verschärfte er sie noch: Nur sechs Wochen nach Erlaß des neuen Arbeitsgesetzes wurde am 10. August 1940 auch für Bagatellfälle von Diebstahl am Arbeitsplatz sowie für \"Rowdytum\" eine Mindesthaftstrafe von einem Jahr verfügt.76Diese Unempfindlichkeit des Staates gegenüber der Kriminalisierung seiner Bürger erklärt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, daß er seit Anfang der dreißiger Jahre immer72 Siegelbaum, Foremen, a.a.O., S. 148; Rittersporn, Stalinist Simplifications, a.a.O., S. 34, 52-55; Bonwetsch, B.: Die Repression des Militärs und die Einsatzfähigkeit der Roten Armee im \"Großen Vaterländischen Krieg\", in: Zwei Wege nach Moskau. Vom Hitler-Stalin-Pakt zum \"Unternehmen Barbarossa\". Hrsg. von B. Wegner. München 1991. S. 404-424, hier 408.73 Hofmann, Arbeitsverfassung, a.a.O., S. 103-109. Das Gesetz galt bis 1956, ist also mit der Kriegsgefahr allein nicht zu erklären.74 GULAG w gody Welikoj Otetschestwennoj wojny, in: Woenno-istoritscheskij schurnal, 1991, H. 1. S. 14-24, hier 17.75 Ebenda, S. 17 f. 76 Solomon, P. H.: Soviet Penal Policy, 1917-1934. A Reinterpretation, in: Slavic Review, 39, 1980. S.195-217, bes. 214 ff. B. Bonwetsch: Stalinismus in der SowjetunionJHK 1993 29mehr Interesse am Häftling als Zwangsarbeiter gewonnen und die Straffälligkeit pragmatisch zu nutzen begonnen hatte. Zumindest im System des GULAG, das 1940 für 13 Prozent aller Großbauten des Landes aufkam,77 schien die totale Verfügungsgewalt über die Arbeitskraft realisiert zu sein. Der totalitäre Staat hatte sich gleichsam an das Verhalten der unbotmäßigen Untertanen angepaßt, um seinen Anspruch auf deren Arbeitsleistung durchzusetzen. Indem die Kriminalisierung der Bürger zur Normalität wurde, wurde auch Zwangsarbeit zu einem Aspekt der Normalität des Arbeitsalltags, in der Begriffe wie \"frei\" und \"unfrei\" ohnehin ineinander übergingen.Zu dieser spezifischen Normalität der Sowjetunion gehörte auch, daß der soziale Wandel weiterhin Hunderttausenden Aufstiegschancen in den Apparaten von Partei Staat und Wirtschaft sowie in den Intelligenzberufen des Kultur- und Wissenschaftsbereiches bot. Hier formierten sich neue Eliten, für die neben der Qualifikation absolute Anpassung zur Karrierevoraussetzung wurde. Dafür wurden sie mit exekutiver Macht und materiellen Privilegien ausgestattet, die den Idealen von Egalität hohnsprachen.78 Der Genuß von Macht und Privilegien wurde allerdings dadurch getrübt, daß die Stellung auf den verschiedenen Ebenen der Hierarchie jederzeit gefährdet war. Denn bei Abwesenheit jeglicher Rechtssicherheit zögerte der Staat nicht, seine Eliten für alle Unzulänglichkeiten, auch wenn sie systemisch bedingt waren, haftbar zu machen. Das gehörte zu den \'Spielregeln\' der Machtteilhabe.Da sie die Spielregeln nicht ändern konnten, entwickelten die Eliten entsprechende Abwehrstrategien. So sicherte man sich bei allen Entscheidungen nach oben ab, mied kritische Bereiche, suchte den \"schwarzen Peter\" weiterzugeben.79 Das machte denApparat so bürokratisch, schwerfällig, entscheidungsschwach und innovationsfeindlich. Insbesondere wurde im Produktionsbereich und allen zuständigen Apparaten darauf geachtet, Planvorgaben niedrig zu halten bzw. Kapazitätsreserven zu \'verstecken\', um auch bei den unvermeidlichen Schwierigkeiten dem entscheidenden - sekundären - Erfolgskriterium, der Planerfüllung, gerecht werden zu können.Die Parteiführung konnte in dieser Hinsicht klagen und anordnen, was sie wollte - der Apparat erwies sich als resistent. Das war nur zu verständlich angesichts der Tatsache, daß er \"personell und organisatorisch überfordert war und zudem zwischen hypertrophen, unrealistischen Forderungen von oben und Desorganisation und Unmut an der Basis zerrieben wurde\".80 Dazu kam die Praxis, sowohl Widerspruch gegen unrealistische Anordnungen als auch Mißerfolg bei ihrer Durchführung mit Einschüchterung, Degradierung und Repression zu ahnden.Es ist völlig eindeutig, daß die Führung in Moskau ihre \"herrschenden Sklaven\" zu deren Verhalten provozierte und einem anderen Verhalten keine Chance gab. Auf diese Weise wurde das Land tatsächlich in gewisser Weise \"unregierbar\", wie vor allem Arch Getty und Gabor Rittersporn betont haben. Aber es rührte nicht daher, daß die \"Sklaven\", um im Bilde zu bleiben, frei sein und eigene Vorstellungen verwirklichen77 GULAG w gody wojny, a.a.O., S. 18 f.78 Matthews, M.: Privilege in the Soviel Union. A Study in Elite Life-Styles under Communism. London 1978.79 Lampert, Technical Intelligentsia, a.a.O., S. 80-107; Bailes, Technology, a.a.O., S. 297-380. 80 Schröder, Stalinismus von unten, a.a.O., S. 150. 30 JHK 1993Abhandlungenwollten, sondern es ging hier im Prinzip um legitime Schutzbedürfnisse, die weder absolute Loyalität noch Gesetze und Instanzen sicherstellten.81Terror und GesellschaftDiese Beharrlichkeit in der Wahrung seiner Selbsterhaltungsinteressen ließ jedoch die Stalinsche Parteiführung dem Apparat ständig mißtrauen. Sie förderte damit zugleich die systemisch bedingte Unfähigkeit, zwischen vermeintlichen und tatsächlichen Feinden unterscheiden zu können. Das permanente Mißtrauen gegenüber dem resistenten Apparat führte zu mehreren Konsequenzen: Zum einen wurden für bestimmte Aufgaben halbpolizeiliche Sonderapparate mit direkter Zugriffsmöglichkeit von oben nach unten eingesetzt wie etwa die 1933 geschaffenen \"Politabteilungen\" in der Landwirtschaft und im Verkehrswesen. Diese Sonderapparate legten aber sehr bald die gleichen Verhaltensweisen an den Tag wie die bestehenden, weil sie mit den gleichen Realitäten konfrontiert wurden. Letztlich wurde so nur bürokratischer Wildwuchs und \"Parallelismus\" gefördert. Eine weitere Konsequenz des Mißtrauens in die Apparate war die Praxis, immer wieder die Basis gegen sie zu mobilisieren - etwa bei der Entlarvung von \"Schädlingen\" und \"Volksfeinden\" oder von \"Saboteuren\" der Stachanow-Bewegung. Die wichtigste Konsequenz aus dem Mißtrauen gegenüber den Apparaten war jedoch die Tatsache, daß die ohnehin schon mächtige Geheimpolizei eine Bedeutung gewann, die jedes Maß sprengte. Auch wenn es sich bei der OGPU bzw. dem NKWD letztlich ebenfalls um bürokratische Apparate handelte, die mit dem gleichen Mißtrauen betrachtet und behandelt wurden wie andere Apparate und einschließlich ihrer Volkskommissare Jagoda und Jeschow in die \"Säuberungen\" gerieten,82 so hatten sie doch eine Sonderstellung inne, die sie zu einem Staat im Staate machte.Ins öffentliche Bewußtsein trat die Sonderstellung der Geheimpolizei vor allem während des \"Großen Terrors\" 1936-1938, dem Höhepunkt der Suche nach \"Volksfeinden\", die angeblich mit der innerparteilichen Opposition, Trotzki oder sonstigen Feinden der Sowjetmacht in Verbindung standen. Den Anlaß dazu hatte der Mord am Leningrader Parteisekretär Kirow im Dezember 1934 geliefert.83 Zwei Jahre später artete dies in Verbindung mit den großen Schauprozessen gegen die alte Garde der Partei in den Terror der \"Jeschowtschina\" unter dem neuen Volkskommissar für Innere Angelegenheiten Nikolaj Jeschow aus.Die Ursachen für diesen Terror, der in erster Linie die Eliten des Sowjetstaates traf, sind umstritten. Während etwa Robert Conquest dahinter das von langer Hand vorbereitete Streben Stalins nach Ausschaltung seiner tatsächlichen und potentiellen Gegner vermutet, meinen Gabor Rittersporn und Arch Getty, daß der Terror die Antwort auf das Verhalten der Apparate gewesen sei, deren Unbotmäßigkeit das Land unregierbar ge-81 Lampert, Technical Intelligentsia, a.a.O., S. 154 f. 82 Conquest, R.: The Great Terror. A Reassessment. London 1990. S. 179-181, 431-435; Medvedev, Hi-story, a.a.O., S. 358-361, 456-461. 83 Conquest, R.: Stalin and the Kirov Murder. New York 1989, meint, die Urheberschaft Stalins nach-gewiesen zu haben. Der Fall ist jedoch weiterhin ungeklärt. Die unter Gorbatschow vom Politbüro eingesetzte Kommission konnte ihre Arbeit nicht beenden. B. Bonwetsch: Stalinismus in der SowjetunionIHK1993 31macht hätte. Getty nennt den Terror der \"Jeschowtschina\" eine \"radikale, ja sogar hysterische Reaktion auf die Bürokratie\".84Tatsächlich hatte der regionale Parteiapparat im Zuge von Partei-\"Säuberungen\", die aus Moskau angeordnet worden waren, ähnlich hinhaltend operiert wie andere Apparate in anderen Situationen, in denen die Legitimität von Anordnungen aus Moskau bezweifelt wurde, aber, wie inzwischen in Stalins Sowjetunion üblich geworden, nicht in Frage gestellt werden durfte, und wo es nicht zuletzt um das eigene politische und physische Überlebensinteresse der Betroffenen ging. Der Kern des Problems lag aber nicht in Selbstherrlichkeit und Insubordination, sondern im Mangel an wirklich identifizierbaren \'Feinden\'. Erst die Schergen des NKWD haben diesem Mangel abgeholfen, indem sie Hunderttausende durch entsprechenden Druck dazu brachten, sich selbst und andere zu belasten. Rechtsstaatliche Grundsätze, in der Sowjetunion ohnehin nicht heimisch, wurden dabei nicht einmal rudimentär gewahrt: Beweismittel waren allein Aussagen Beschuldigter, die Folter war seit Februar 1937 offiziell erlaubt,85 die Masse der wegen \"Konterrevolution\" Beschuldigten - mehrere Millionen Menschen - wurden durch verfassungsmäßig nicht vorgesehene außergerichtliche Instanzen des NKWD - die \"Sonderberatung\" in Moskau bzw. die \"Trojki\" (Dreierkomitees) in der Provinz - verurteilt.86Die gesellschaftliche Breitenwirkung des Terrors wird dadurch unterstrichen, daß es seit 1935 auch formell als Strafttatbestand galt, \"Angehöriger eines Vaterlandsverräters\" zu sein. Dabei wurde dieser Begriff sehr weit gefaßt und auf \'Feinde\' jeglicher Art angewandt. Letztlich handelte es sich hier um ein Signal, das nicht nur Härte und Schikane jeglicher Art gegenüber Angehörigen Verhafteter erlaubte, sondern - noch infamer - ihre Unterlassung gefährlich machte. Für die Angehörigen Verhafteter ergaben sich daraus Konsequenzen, die von bloßer Einschüchterung und gesellschaftlicher Diskriminierung über den Verlust von Privilegien, Wohnung und Arbeitsplatz bis hin zu Verbannung, Verhaftung und Verurteilung reichten;87 für Kollegen und Nachbarn bedeutete dies, daß sie zu Komplizen des Terrors wurden. Betroffen waren fast nur die Eliten. Je höher die Position, desto größer die Wahrscheinlichkeit der Verhaftung und Verurteilung wegen \"Konterrevolution\" aufgrund des berüchtigten Artikels 58 des Strafgesetzbuches. Das galt auch für die Repression des Militärs 1937/38, die die Rote Armee \"enthauptete\" und Zehntausende von Opfern unter den Offizieren kostete.88 Mannschaftsdienstgrade waren kaum betroffen. Sie konnten, wie auch die Arbeiter in den Fabriken und die Bauern in den Kolchosen, den Terror des \"Jeschowtschina\" als etwas erleben, das nur die \"anderen\", die Vorgesetzten bzw. die Privilegierten betraf.84 Getty, Origins, a.a.O., S. 206. Vgl. zur Jeschowtschina bes. Conquest, Great Terror, a.a.O.; Medvedev, History, a.a.O.; Wolkogonow, D.: Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt. Düsseldorf 1989.85 Chruschtschow erinnert sich. Reinbek 1971. S. 554 f. Vgl. Medvedev, History, a.a.O., S. 485-498. 86 Die Gesamtzahl der 1921-1954 wegen \"Konterrevolution\" Verurteilten beträgt 3.777.380. Die Massedavon entfällt auf die dreißiger Jahre. Siehe Scmskow, W.N.: Sakljutschennye, spezposselenzy, sylnoposselenzy, sylnye i wyslannyje, in: Istorija SSSR, 1991, H. 5. S. 151-165, hier 153; Gulag w gody wojny, a.a.O., S. 17 f. 87 Medvedev, History, a.a.O., S. 349. Vgl. z.B. Larina Bucharina, A.: Nun bin ich schon weit über zwanzig. Erinnerungen. Göttingen 1989. S. 13-39; Suturin, A.S.: Delo krajewogo masstaba. Chabarowsk 1991. S. 225-239. 88 Bonwetsch, Repression, a.a.O., S. 405 f., 413. 32 JHK 1993AbhandlungenDas Erstaunliche und für die sowjetischen Eliten Charakteristische ist, daß auch sie bis 1937 und z.T. auch darüber hinaus die Repression für ein Problem der \"anderen\" hielten.89 Man hatte sich angepaßt, hatte sich angewöhnt, alles als normal anzusehen, was \'oben\' als normal angesehen wurde. Vieles hatte dazu beigetragen, daß auch das Absurdeste und Widerwärtigste als normal angesehen und nicht in Frage gestellt wurde. Die Parteispitze selbst hatte vor allem seit Mitte der zwanziger Jahre gezeigt, was im Umgang miteinander \'normal\' war; ein \"reduktionistischer Marxismus\" (Beyrau), ideologisch deformierte Wirklichkeitswahmehmung, das Gefühl, in einer \"belagerten Festung\", in \"kapitalistischer Umkreisung\" zu leben, die zunehmende Isolierung von der Außenwelt - all dies und vieles andere kam hinzu und führte zu schwerwiegenden Orientierungsverlusten. Von Bedeutung war auch die Verführung durch nicht unbeträchtliche Privilegien wie rangabhängige \"Sonderrationen\" und \"geschlossene Kantinen\" während der Nahrungsmittelrationierung vor 1935, Bevorzugung bei der Wohnungsvergabe usw. Alles zusammen hatte eine Gesellschaft und nicht zuletzt eine neue Elite sich angewöhnen lassen, \"unsichtbare Schranken\" zu akzeptieren und zu verinnerlichen.90Diese Elite hatte auch die Vernichtung von Millionen Menschen als \'normal\' hingenommen. 1927-1936, also bis zum Beginn dessen, was gemeinhin als \"Terror\" bezeichnet wird, sind nach neueren demographischen Berechnungen 6,6 Millionen Menschen vorfristig gestorben, d.h. Opfer des Stalinismus geworden. Rund 3,8 Millionen starben danach allein 1932/33 in der von Moskau fahrlässig erzeugten und ungerührt hingenommenen Hungersnot.91 Die neue Elite hat das ebenso als \'normal\' akzeptiert wie die Tatsache, daß die Bauern insgesamt als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden und einem alltäglichen Strafrechtsterror unterlagen, der kaum historische Parallelen hat. Denn aufgrund eines Gesetzes vom 7. August 1932, das gesellschaftliches Eigentum vor dem Zugriff seiner bedürftigen Produzenten schützen sollte und das im Volksmund nicht ohne Grund \"Ährengesetz\" hieß, wurden in erster Linie Bauern drangsaliert. Wegen geringfügiger Diebstahls- und Mundraubsdelikte wurden sie hunderttausendfach zu mindestens zehn Jahren Lager· bis hin zur Todesstrafe verurteilt. Nicht selten gehörten zu den Betroffenen auch Kolchosleiter, die angesichts des Hungers 1932/33 menschlichen Regungen nachgegeben hatten.Den Eliten, die als Richter oder in anderer Funktion diese Härte des Regimes exekutierten, drang ihr Tun nicht als Terror ins Bewußtsein. Angesichts unklarer Gesetze hielten sie sich an Moskauer Mahnungen zu unerbittlicher Härte, wobei seit 1935 die strafrechtliche Verantwortlichkeit bereits für Kinder ab 12 Jahren galt. Erst als sie 1937/38 wegen derartiger Anwendung der Gesetze selbst z.T. als \"Volksfeinde\" angeklagt wurden - 1938 wurden 1,2 Millionen derartiger Urteile gegen Bauern \"überprüft\"-, stellte sich offenbar ein Gefühl von Terror ein.92 Kein Wunder aber, daß sich die Basis in der Partei, im Betrieb oder wo sonst immer wieder dazu verführen ließ, in den Exeku-89 Thurston, Fear, a.a.O., belegt dies, unterschätzt allerdings Wirkungen des Terrors, die sich nicht direkt als Furcht äußerten.90 Vgl. auch Orlow, Ein russisches Leben, a.a.O., S. 67. 91 Zaplin, W.W.: Statistika schertw stalinisma w 30-e gody, in: Woprossy istorii, 1989, H. 4. S. 175-181,hier 178. Zur westlichen Diskussion über die Zahl der Repressionsopfer siehe Schröder, Stalinismus, a.a.O., S. 159. 92 GULAG w gody wojny, a.a.O., S. 15 f. Hinweise zum \"Ährengesetz\" bei Kalinzeva, Naschi, a.a.O., S. 183; Solschenizyn, A.: Der Archipel GULAG. München 1974. S. 94; Medvedev, History, a.a.O., S. 349; Rittersporn, Simplifications, a.a.O., S. 149, 246-250. B. Bonwetsch: Stalinismus in der SowjetunionJHK 1993 33toren die eigentlich Schuldigen zu sehen und sich durch Beteiligung an öffentlicher Kritik und Denunziation an der Entlarvung von \'Feinden\' zu beteiligen. Denn schließlich war nicht nur an den Bauern die alltägliche Härte des Stalinismus exekutiert worden. Daß sich die Betroffenen an den Dienern und Nutznießern des Regimes für die eigene Unbill schadlos hielten, sollte nicht verwundern. Allerdings war der Volkszorn, so berechtigt er auch sein mochte, nie wirklich spontan. Er richtete sich immer gegen Gruppen und Personen, die gleichsam offiziell zur Kritik freigegeben wurden, und hatte immer etwas von einem Ritual an sich.Von oben und unten bedrängt, hatten die Eliten im Zuge des \"Großen Terrors\" einen hohen Blutzoll zu entrichten. Nach neueren demographischen Berechnungen hat die Repression 1937/38 1,3 Millionen Tote gekostet. Nicht alle davon waren erst in diesen Jahren verhaftet worden. Aber zu ihnen gehörten die meisten der über 680.000 Menschen, die 1937/1938 wegen \"Konterrevolution\" erschossen wurden, darunter über 40.000 Offiziere; zu ihnen gehörten Hunderttausende, die zu Lagerhaft verurteilt wurden und zusammen mit anderen Häftlingskategorien die Insassenzahl der Lager gewaltig ansteigen ließen - von 0,5 Millionen Anfang 1934 auf 1,9 Millionen Anfang 1941 und 2,3 Millionen bei Kriegsbeginn, als zusätzlich noch etwa 1 Million Zwangsdeportierter in \"Sonderansiedlungen\" des NKWD festgehalten wurden.93Annähernd genaue Zahlen zum Umfang des spezifischen Terrors gegen die Führungskräfte in Partei, Staat und Wirtschaft sowie im Kultur- und Wissenschaftsbereich liegen nicht vor. Doch selbst wenn im Westen z.T. abenteuerlich hohe Zahlen über die Zahl der Repressionsopfer kursierten, so stehen der Massencharakter des Terrors und seine tiefgreifende Wirkung doch völlig außer Zweifel Die Verarbeitung dieses Terrors durch die betroffenen Eliten ergibt das Bild einer Gesellschaft, die sich kaum anders als gebrochen oder krank bezeichnen läßt. Fast niemand kündigte z.B. dem Sowjetstaat die Loyalität auf, eher suchte man sie noch mehr unter Beweis zu stellen. Die Verhaftungen hielt man für berechtigt. Im Falle der eigenen Verhaftung und vielleicht auch noch der des Ehegatten oder eines Familienangehörigen glaubte man an einen Irrtum, obwohl es auch genügend Fälle gab, in denen sich Ehegatten im Loyalitätskonflikt voneinander lossagten. Niemand konnte und wollte sich vorstellen, daß praktisch nur Unschuldige verhaftet wurden. Das überstieg wohl auch die menschliche Vorstellungskraft. Seit der Revolution an die Existenz von \'Feinden\' gewöhnt und zugleich dem eigenen Augenschein mißtrauend und der eigenen Urteilsfähigkeit weitgehend beraubt, hatte man auch jetzt keinen Grund, an der Richtigkeit der offiziellen Versionen zu zweifeln. Selbst die Mitarbeiter der \"Organe\", die von Amts wegen untersuchten, waren überzeugt, oder ließen sich überzeugen, daß sie tatsächliche Feinde verfolgten, selbst wenn sie93 Zaplin, Statistika, a.a.O., S. 181; Chlewnjuk, 1937-j, a.a.O., S. 154-156; Semskow, Sakljutschennye, a.a.O., S. 152; ders.: GULAG (istoriko-soziologitscheskij aspekt), in: Soziologitscheskie issledowanija, 1991, H. 7. S. 3-16, hier 3; dcrs., Spezposselenzy, a.a.O., S. 6 f.; Kumanew, G.A.: W ognc tjaschelych ispytanij, in: Istorija SSSR, 1991, H. 2. S. 3-31, hier 6. Vgl. auch Schröder, Stalinismus, a.a.O., S. 159-162.94 Die umfangreiche Memoirenliteratur bedarf noch systematischer Auswertung. Thurston, Fear and Belief, a.a.O. hat einen ersten Versuch unternommen. Beispiele aufschlußreicher Schilderungen des Zeiterlebnisses: Ginsburg, J.S.: Marschroute eines Lebens. Reinbek 1967. S. 7-39; Fris, Skwos prismu, a.a.O., S. 222-236. 34 JHK 1993Abhandlungenkeine rechtsstaatlichen Bedenken hatten, dabei möglicherweise auch Unschuldige zu treffen.95Äußerlich lebte diese Gesellschaft normal. Auch die Eliten genossen ihre Privilegien und nutzten die Aufstiegschancen, die die Verhaftungen boten. Mittdreißiger wurden in dieser Zeit Volkskommissare bzw. Leiter wichtiger Ressorts wie Nikolaj Wosnessenski, Alexej Kossygin, Michail Perwuchin, Iwan Tewosian, Petr Lomako, Dimitri Ustinow, Alexej Sachurin. Indirekt oder auch direkt, wie Ustinow und Sachurin, profitierten sie von der Verhaftung ihrer Vorgänger. Auf den Ebenen darunter vollzogen sich ähnliche Blitzkarrieren. Hatten die solcherart Beförderten allen Grund, diesem Staat gegenüber Loyalität zu erweisen, so kündigten die Gestürzten sie ihm merkwürdigerweise ebenfalls nicht. Hinter Gittern arbeiteten z.B. der Flugzeugkonstrukteur Tupolew und der Raketentechniker Korolew wie viele andere \"Volksfeinde\" ebenso gewissenhaft wie vor der Verhaftung. Volkskommissar Wannikow, die späteren Marschälle Rokossowski und Meretzkow und viele andere gingen direkt aus der Haft auf verantwortungsvolle Posten, als sei nichts gewesen, während manche ihrer Kollegen den umgekehrten Weg gingen.96Eine ganze Gesellschaft hatte die Maßstäbe für Normalität verloren. Nur so konnte ein Militär wie Marschall Schukow in seinen Erinnerungen nach der ausführlichen Schilderung der Verhaftungen und ihrer negativen Folgen hinsichtlich seiner eigenen Tätigkeit im Wehrkreis Weißrußland zu dem Fazit kommen: \"Wie schwer auch die Lage 1937-1938 war, die militärische Ausbildung der Truppen ging bei uns im wesentlichen normal vor sich.\"97 \"Normal\" und \"unnormal\" waren in der Sowjetunion der dreißiger Jahre eine untrennbare Verbindung eingegangen. Entweder taten alle so, als ob das, was sie taten, normal sei, oder alle hielten das, was sie taten, für normal, selbst wenn sie sich dazu zwingen mußten. Diese Entwicklung hatte zwar bereits früher eingesetzt, aber 1937/38 erreichte sie ihren Höhepunkt. Vor allem die Eliten sind aus dieser Schreckenszeit schwer geschädigt hervorgegangen: \"Im Lande entstand eine unheimliche Situation. Niemand traute dem anderen, die Menschen begannen einander zu fürchten, sie vermieden Begegnungen und jegliche Gespräche, und wenn diese unvermeidlich waren, dann suchte man in Gegenwart Dritter als Zeugen zu sprechen. Es entfaltete sich eine noch nie dagewesene Verleumdungsepidemie. Man verleumdete häufig absolut ehrenhafte Menschen und manchmal auch seine engsten Freunde. Und alles geschah aus Furcht davor, selbst der Illoyalität verdächtigt zu werden. \"98Niemand verstand die sich immer höher schraubende Verhaftungswelle, aber jeder versuchte sie so zu rationalisieren, daß er selbst nicht gefährdet schien - eine \"natürliche psychologische Schutzreaktion gegen die Angst, die jedesmal entstand, wenn jemand aus dem Kollegen- und Bekanntenkreis \'verschwunden\' war\" .99 Auch wer sich glauben95 Vgl. auch Rittersporn, G.T.: The Omnipresent Conspiracy. On Soviet Imagery of Politics and Social Relations in the 1930s. in: Stalinism. Its Nature and Aftermath, a.a.O., S. 101-120.96 Vgl. Beyrau, Intelligenz, a.a.O., S. 117-122; Saragin, A.: Tupolewskaja saraga. Frankfurt 1971; Wannikow, B.L.: Sapiski narkoma, in: Snamja, 1988, H. 1. S. 130-160, hier 133; Bonwetsch, Repression, a.a.O., S. 407-409. Vgl. auch Resin, L.E./Stepanow, W.S.: Sudby generalskije, in: Woenno-istoritscheskij schumal, 1992, H. 10-12.97 Schukov, G.A.: Wospominanija i rasmyschlenija. 10. Aufl., Moskau 1990. Bd. 1. S. 236. 98 Ebenda, S. 220. Vgl. auch Fris, Skwos prismu, a.a.O., S. 227; Scott, J.: Behind the Urals. An AmericanWorker in Russia\'s City of Steel. Bloomington 1989. S. 301-304. 99 Fris, Skwos prismu, a.a.O., S. 223. Vgl. auch Ginsburg, Marschroute, a.a.O., S. 32, 36; Rosenberg, S.:Soviel Odyssey. Harmondsworth 1991. S. 60. B. Bonwetsch: Stalinismus in der SowjetunionJHK 1993 35machte, die Verhaftungen erfolgten zu Recht, fragte sich insgeheim doch, ob seine Kontakte mit Verhafteten nicht Anlaß zur eigenen Verhaftung bieten könnten. Auf öffentlichen Versammlungen wurden die Verhafteten von den Kollegen wie in einem Ritual noch nachträglich verurteilt. Zweifel an der Schuld der Betroffenen äußerten nur wenige Mutige, weil auch dies verdächtig machte.100 Über Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verhaftungen und Verurteilungen sprach man öffentlich überhaupt nicht und selbst mit Vertrauten kaum, weil es zwischenmenschliches Vertrauen fast nicht mehr gab.101Absolute Rechtsunsicherheit, Mißtrauen gegenüber den Kollegen und Mitmenschen, Tabuisierung der eigentlich bewegenden Fragen, Bewußtseinsspaltung, Verlust der selbständigen Urteils- und Orientierungsfähigkeit, Fixierung auf den Staat als einzige Autorität - dies waren wesentliche, erschreckende Kennzeichen einer Gesellschaft am Ende von zehn Jahren \"großen Sprungs\". Dabei ist fraglich, ob von Gesellschaft überhaupt noch gesprochen werden kann, wenn der Begriff mehr bedeuten soll als nur die Tatsache, daß es innerhalb eines Verbandes an objektiven Merkmalen zu definierende Schichten und Gruppen gibt.Wenn eine Gesellschaft \"atomisiert\" und \"strukturlos\" im Sinne Hannah Arendts war, dann die sowjetische. Jegliche Solidarität war zerstört, nicht einmal Ansätze von eigenen Strukturen und von Gruppenbewußtsein waren noch vorhanden, autonome Bereiche existierten nicht. Das bedeutete nicht, daß der Staat über den einzelnen beliebig verfügen konnte, wie sich am Verhalten von Bauern, Arbeitern und Angestellten bzw. den Angehörigen der Apparate immer wieder zeigte, aber das zeigte sich ebenso in der von Solschenizyn und vielen anderen erlebten und beschriebenen Welt des GULAG. Einzelne oder Gruppen hatten nicht entfernt eine Position, die ihnen ein \"social bargaining\", ein \"informelles Verhandeln\" ermöglicht hätte. Dazu war der einzelne in der sowjetischen Gesellschaft zu \"verlassen\", wie Hannah Arendt diesen Zustand genannt hat. Er stand dem übermächtigen Staat bzw. dessen Vertretern allein gegenüber, auch als Mitglied gesellschaftlicher Gruppen. Denn auch diese waren, wie alles, staatlich organisiert und befähigten zu gleichem Verhalten, aber nicht zu gemeinsamem Handeln.Das heißt nicht, daß dieser Staat nicht Zustimmung fand und daß diese Gesellschaft nicht zu geschlossenem, organisiertem Handeln fähig war. Anderenfalls wäre die Sowjetunion 1941 nicht zur Abwehr des deutschen Überfalls in der Lage gewesen. Aber daraus läßt sich nicht schließen, daß die sowjetische Gesellschaft subjektiv im wesentlichen ungebrochen aus dem Stalinismus der dreißiger Jahre hervorgegangen sei, ein unbefangenes Verhältnis zu diesem Regime bewahrt, es für legitim gehalten und letztlich getragen hätte.! 02 Für die Masse der Jugendlichen, deren Begeisterungsfähigkeit und Glaube noch ungebrochen war, wird das zwar gelten, auch für viele Erwachsene, die sich trotz allem ein naives Verhältnis zu diesem System bewahren konnten. Auch kann kein Zweifel an der generellen Zustimmung der Gesellschaft zu allem, was der Stalinismus ihr zumutete, bestehen. Aber hier die Grenzen zwischen spontaner Naivität, bloßer Anpassung, unreflektierter Verdrängung und ritualisierter Heuchelei zu ziehen, ist wohl unmöglich.100 Fris, Skwos prismu, a.a.O., S. 224; Rosenberg, Odyssey, a.a.O., S. 59; Schukow, Wospominanija, a.a.O., S. 225 f.; Chlewnjuk, 1937-j, a.a.O., S. 173-183.101 Rosenberg, Odyssey, a.a.O., S. 27; Kalinzeva, Naschi, a.a.O., S. 188,248. 102 So Thurston, Fear, a.a.O., bes. S. 230-234. 36 JHK 1993AbhandlungenDer stalinistische Staat selbst mißtraute dieser Zustimmung. Wie sollte er das auch nicht, wenn z.B. Arbeiter und Angestellte der im Juni 1940 von den Gewerkschaften \"erbetenen\" Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich sowie der Betriebsbindung und der disziplinarischen und strafrechtlichen Ahndung von Verstößen gegen die Arbeitsdisziplin nicht nur zustimmten, was allein schon merkwürdig genug wäre, sondern trotz dieser Zustimmung auch noch massenhaft gegen die neuen Bestimmungen verstießen?l03 Was sollte der Staat, was soll der Historiker von einer Zustimmung halten, die nicht einmal die Verhaftung mit gepacktem Koffer Erwartende oder unschuldig Verhaftete, Deportierte, Gefolterte und zu jahrelanger Zwangsarbeit Verurteilte verweigerten? Wohl nur dies, daß sie von einer durch den Stalinismus gebrochenen Gesellschaft kam, die sich im Zustand \"sozialer und politischer Krankheit\" befand.104 Die Zustimmung zum stalinistischen System gehörte ebenso zum Krankheitsbild dieser Gesellschaft wie der offenbar unerschütterliche Glaube an Stalin, mit dessen Namen auf den Lippen viele seiner Opfer unter den Kugeln der eigenen Erschießungspeletons oder der Deutschen starben.103 Lewin, Making, a.a.O., S. 284. 104 Hofmann, Arbeitsverfassung, a.a.O., S. 204 f.; Lehrbuch des sowjetischen Arbeitsrechts. Berlin1952. S. 269.

Inhalt – JHK 1993

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