JHK 1993

Paul Merkers \"Unverständnis\" für den Hitler-Stalin-Pakt. Gespräche mit dem \"Sowjetfeind\"

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 137-144

Autor/in: Wolfgang Kießling (Berlin)

Paul Merker trat erstmals 1950 in mein Denken. Wann daraus ein Nachdenken über ihn wurde, vermag ich nicht exakt zu bestimmen. Fest steht, daß es bis heute andauert. Als junger Lehrer im Erzgebirgsdorf Bermsgrün, das nach 1945 von der Tradition zehrte, bei den Wahlen in der Weimarer Zeit stets die absolute Mehrheit für die KPD erzielt zu haben und wo noch bis zur Wandlung der SED zur Partei neuen Typus eine Art proletarischer Solidargemeinschaft herrschte, die mich faszinierte und wesentlich dazu beitrug, Kandidat der SED zu werden, las ich den Namen Paul Merker in der \"Erklärung des Zentralkomitees und der Zentralen Parteikontrollkomission (ZPKK) zu den Verbindungen ehemaliger deutscher politischer Emigranten zu dem Leiter des Unitarian Service Committee, Noel H. Field\", veröffentlicht am 1. September 1950 im \"Neuen Deutschland\".Damals hätte ich nicht zu denken gewagt, daß dieser Paul Merker, der als Mitglied des Politbüros der KPD und später der SED, wie es hieß, \"dem Klassenfeind in umfangreicher Weise Hilfe\" leistete, der \"kein Vertrauen zur Sowjetunion\" und \"kein Verständnis für den Abschluß des deutsch-sowjetischen Paktes 1939\" besaß, der \"in der Tat die Befehle der amerikanischen Imperialisten\" ausführte und folglich aus der SED ausgeschlossen wurde, mir in seinen letzten Lebensjahren sehr nahe stehen und ich und meine Frau, neben uns Jacob Walcher, im Jahre 1969 zu der kleinen Schar derjenigen gehören würden, die ihn auf seinem letzten Weg begleitete.Ich lernte Merker am 10. November 1965 im Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (IML) kennen, im früheren Haus der Einheit, wo er einst als Mitglied des Politbüros residierte, wo ihm am 23. August 1950 Herta Geffke als Leiterin einer Sonderkommission der ZPKK seinen Parteiausschluß mitgeteilt hatte, und wohin er nun eingeladen worden war, um sich in einer Memorialveranstaltung zum 30. Jahrestag der Brüsseler Konferenz der KPD an dieses Ereignis zu erinnern. Anlaß, mich mit ihm bekannt zu machen, gab mir mein Dissertationsthema zu der von Merker wesentlich mitgestalteten Bewegung Freies Deutschland in Mexiko. Merker, den ich bis dahin nur auf Fotos gesehen hatte, schien mehr gealtert, als ich vermuten durfte. Der wuchtige Körperbau war als äußere Hülle geblieben. Der Anzug schien zu groß zu sein, obwohl er ihm paßte. Merker gab sich zurückhaltend freundlich, als wir uns in der Veranstaltungspause zusammensetzten. Er hörte mir zu und unterbrach mich erst, als ich zu ihm von Ludwig Renns Tagebuchnotizen sprach, die mir dieser überlassen hatte und die für mich zu einer einmaligen Quelle geworden waren. \"Ich habe nichts dergleichen\", warf Merker ein. \"Mein Reservoir, von Gedrucktem abgesehen, ist mein Gedächtnis, auf das ich mich noch immer verlassen kann, trainiert in der Isolation.\" In der Folgezeit gab mir Merker, was sein Erinnerungsvermögen zum Mexiko-Exil hergab. Über seine \"Isolation\" in der DDR sprachen wir nicht, vorerst. Merker besuchte mich anfangs im IML, in meinem Redaktionszimmer der \"Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung\", ehe er mich in das bescheidene und nur schwer beheizbare Häuschen in Eichwalde, Kreis Königs Wusterhausen, einlud, das ihm 1956 nach seiner Freilassung aus dem Zuchthaus Branden- 138 JHK 1993Aufsätze und Miszellenburg auf sein beharrliches Drängen hin, mit seiner Frau den ihm 1950 angewiesenen Verbannungsort Luckenwalde verlassen und im Berliner S-Bahn-Bereich wohnen zu dürfen, durch Hermann Matern, dem Vorsitzenden der ZPKK, zugestanden worden war.In der Frühphase unseres Bekanntseins brachte mir Merker mit dem Angebot, er werde mir die Erstveröffentlichung überlassen, seinen Briefwechsel mit Heinrich Mann aus den Jahren 1942 bis 1946, die Maschinendurchschriften seiner Briefe und die Autographen des Schriftstellers. Sie seien die einzigen Dokumente, die er vor der Staatssicherheit habe in Sicherheit bringen können. Im April 1966 saß Paul Merker, wie der DDR-Presse zu entnehmen war, mit Anton Ackermann, Herta Geffke, Paul Böttcher, Max Fechner, Albert Schreiner, Robert Siewert, Karl Steinhoff, Hans Teubner, Lotte VIbricht und 33 weiteren \"verdienten Parteiveteranen und Delegierten des Vereinigungsparteitages\" im Präsidium der Festveranstaltung zum 20. Jahrestag der SED-Gründung. Als ich ihn bei nächster Gelegenheit zum weiteren Schritt der Rehabilitierung beglückwünschte, meinte er sarkastisch: \"Du hättest mir auch zum Aufstieg ins Kuriosenkabinett gratulieren können.\" Mich ärgerte, daß ich - für Merker offenkundig - auf die Bühnenschau hereingefallen war.Wenig später kam mir der Zufall zu Hilfe, Merker zu beweisen, daß ich nicht naiv war. Ein Student der Berliner Humboldt-Universität, den ich schon als Kind kannte und für den ich bei seinem Parteieintritt gebürgt hatte, wußte von meinen Kontakten zu Merker. Eines Abends, im Mai 1966, überraschte er mich mit einem vom Parteivorstand der SPD herausgegebenen und in Westberlin hergestellten Flugblatt zum \"20. Jahrestag der Zwangsvereinigung\". \"Die politischen Leichen des Altkommunisten Paul Merker und des früheren Sozialdemokraten Max Fechner\", hieß es, seien \"zu diesem Zweck noch einmal auf die Bühne geholt\" worden. \"Merker[...] landete noch vor Fechner in den Armen des Staatssicherheitsdienstes, weil er als Kommunist nicht bloßer sowjetischer Erfüllungsgehilfe sein wollte. Beide sind später - gebrochen an Leib und Seele - aus der Haft gekommen und verzehren heute Parteirenten. Sie als Beweis für die Gleichberechtigung von Sozialdemokraten und Kommunisten in der Einheitspartei aufzubieten, mutet als makabrer Scherz an.\"Es drängte mich, Merker dieses Flugblatt zu zeigen. Ich überredete meinen studierenden Freund, der, wie er mir sagte, beobachtet worden war, als er das Papier an sich genommen hatte und es deshalb so schnell wie möglich bei der Parteileitung abgeben wollte, es mir wenigstens für einen Tag zu überlassen. Denn für den nächsten Vormittag war ich bei Merker in Eichwalde angemeldet, diesmal nicht allein, sondern mit einem Bibliothekar des IML, dem Merker Protokollbände des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses übergeben wollte, die er sich besorgt hatte, um den 1945 in Mexiko erschienenen zweiten Band \"Das 3. Reich und sein Ende\" seines Buches \"Deutschland - Sein oder Nicht Sein?\" zu überarbeiten und zu erweitern, ein Vorhaben, das er längst aufgegeben hatte, weil die 1950 in seinem Schreibtisch im Parteihaus gebliebenen Neuentwürfe und Materialstudien unauffindbar blieben, wie Merker nach energischen Rückgabeforderungen von Walter Ulbricht sogar per Brief mitgeteilt bekam. Wegen des geplanten Büchertransportes sollten der Bibliothekar und ich mit einem Dienstwagen nach Eichwalde fahren. Eine Möglichkeit, Merker allein zu sprechen, schien nicht gegeben. Ich kündigte ihm noch am Abend vor unserer Begegnung telefonisch an, ich brächte nur für ihn allein von Interesse und auch nur zur kurzen Ansicht eine bibliographische Kostbarkeit mit. Er fragte nicht zurück und hatte mich, wie sich zeigte, verstanden. Das Flugblatt, zum W. Kießling: Paul MerkerJHK 1993 139Format einer Streichholzschachtel gefaltet, wechselte, unauffällig für fremde Augen, von meiner in Merkers Hand und, nachdem er für einen Moment das Zimmer verlassen hatte, zurück zu mir. Der in der \"illegalen Arbeit\" erfahrene Mann setzte das Dreiergespräch bruchlos fort.Durch die eher unbedeutende Begebenheit mit dem Flugblatt, deren mögliche Folgen Merker ernster nahm als ich, wie ich seiner späteren Erkundigung nach dem Studenten entnahm, der, wie Merker meinte, von der Universität hätte verwiesen werden können, bekam unsere Beziehung eine größere Vertrauens- und Vertraulichkeitsbasis. Ich war im Bild seines Bekanntenkreises, zu dem aus vergangenen Zeiten nur noch Franz Dahlem und Hermann Budzislawski gehörten, und für die berufsbedingt Neugierigen, die ihn, das muß ich heute annehmen, weiterhin observierten, der Mitarbeiter einer ZK-Institution, der triftige Gründe hatte, ihn zu besuchen oder anderswo mit ihm zusammenzutreffen. Ich hatte den Segen meiner Vorgesetzten, Merker, den Zeitzeugen meines Forschungsgegenstandes, zu konsultieren und als Redakteur der parteihistorischen Zeitschrift, ihn als Autor für Erinnerungsbeiträge über die Novemberrevolution in Dresden oder den Streik der Berliner Gaststättenarbeiter von 1921 zu gewinnen und zu beraten.Ab Sommer 1966 bis zum Frühjahr 1969 trafen wir uns unregelmäßig - ins IML kam er nicht mehr-, zumeist bei ihm in Eichwalde, aber auch am Müggelsee in Berlin-Friedrichshagen und in der Mitropa-Gaststätte des Berliner Ostbahnhofs, wo er uns, wenn nötig, für einen Obolus an den Kellner in dem vom Gedränge und Lärm der Reisenden erfüllten Wartesaal ungestörte Plätze zu besorgen wußte. Seine Idee mit der Bahnhofswirtschaft begründete er mit der für uns beide günstigen Verkehrsverbindung und damit, daßman dort, wo es am lautesten zugehe, gezwungen sei, sich im Gespräch stärker zu konzentrieren. Gestattete es die Jahreszeit, bevorzugte er die freie Natur, deren Wert fürs Menschsein ihm erst in den Stasi-Zellen von Hohenschönhausen bewußt geworden sei, wie er mir einmal erklärte, als wir im Liegestuhl in seinem Garten saßen. Im Garten ist er schließlich auch gestorben. Am Vormittag des 13. Mai 1969, es hatte Nachtfrost gegeben, wollte er nachsehen, ob die von ihm gesteckten Pflanzen Schaden genommen hatten. Er fiel auf die kühle Erde, als plötzlich sein Herz für immer versagte.Auf Wunsch des ihm menschlich wohlgesonnenen Leiters des SED-Archivs schrieb Merker in seinen letzten Jahren Erinnerungstexte zu ausgewählten Abschnitten seines politischen Wirkens. Bedingt durch die von Paul Merker vorsätzlich gewählte Methode, auch jetzt dem noch Allgewaltigen Walter Ulbricht nichts von dem in die Hand zu geben, was auch die Staatssicherheit in den Verhören einer 28 Monate währenden Untersuchungshaft an seinen Ansichten zu parteigeschichtlichen Problemen und in der Beurteilung zurückliegender Ereignisse nicht aus ihm herauszuholen vermochte, blieben diese Memoirenfragmente, von Ausnahmen abgesehen, bereits in ihrem Ursprung von geringem wissenschaftlichen Wert.Ich war mir Merkers Vertrauen bewußt, als er mir vieles von dem erzählte, was er in den von ihm zu Papier gebrachten Erinnerungen verschwieg oder anders darstellte. Als ich vor seinen Augen Notizen machte und ihn bat, langsamer zu sprechen oder noch einmal zu wiederholen, um den genauen Wortlaut fest-zuhalten, erhob er keinen Einspruch, selbst dann nicht, als er mir sagte: \"Anfangs bekämpfte mich Ulbricht in sowjetischem Auftrag, der ihm sehr gelegen kam. Nachdem er den Juni 1953 politisch überlebt hatte, wurde dieser Auftrag zu seinem ureigensten Anliegen. Ich bekam dies erst sehr spät mit, denn im Gefängnis erfuhr ich nicht einmal, daß es den 17. Juni gab. Auch Sta- 140 .!HK 1993Aufsätze und Miszellen!ins Tod blieb mir bis 1955 verborgen. Die Zeit der Schauprozesse war vorüber, trotzdem ließ mich Ulbricht (im März 1955 vom Obersten Gericht der DDR in einem Geheimprozeß´ heimprozeß - W.K.) verurteilen, ohne jegliche Notiz in der Presse, also völlig ohne Belang lang für die Partei. Ulbricht war schon seit den zwanziger Jahren der Idealtyp eines Funktionärs im Stalinschen Sinne bzw. der bolschewistischen Kaderpartei und ihrer Ideologie. Für ihn ist nicht derjenige der politische Hauptgegner, der etwas ganz anderes will, sondern derjenige, der nuancierte Auffassungen oder, wie es in der Parteisprache heißt, abweichende Meinungen hat. Das ist relativ zu sehen. Wenn ich im Pariser Exil als Basis für die deutsche Volksfront allein die antinazistische Frontstellung sah und dafür plädierte, daß andere Ansichten für die Mitarbeit im Volksfront-Ausschuß toleriert werden sollten, war für Ulbricht nur derjenige ein akzeptabler Hitlergegner, der auch gegen Trotzki oder Bucharin Stellung bezog. Das führte zu der Absurdität, daß in Ulbrichts Denkschema nur derjenige ein wirklicher Antifaschist sein konnte, der die Moskauer Prozesse auch als Schlag gegen Hitler wertete. Partiell bin ich, weil ich innerhalb der kommunistischen Bewegung keine Alternative sah, diesen Weg Stalins und der Komintern trotz meiner Bedenken und anderen Erkenntnis weitergegangen.Nach der Rückkehr aus dem Exil erwartete ich durch die nunmehr vorhandene Einheitspartei, deren Entstehungsprozeß ich nicht mitgemacht hatte, einen parteipolitischen Neuansatz. Ab 1948 spürte ich, daß ich in der Parteiführung auf Dauer keinen Platz haben werde, denn die stärkere Gewichtung lag auf der Seite derjenigen, die aus Moskau gekommen waren. Von Anfang an war ich im Zentralsekretariat und im Politbüro nicht in Grundsatzentscheidungen einbezogen, und selbst meine Verantwortung für die Landwirtschaft wurde stufenweise abgebaut.\"In der Zeit meiner Gespräche mit Merker dachte ich nie daran, Material für Vcröffentlichungen zu sammeln. Ich war viel zu sehr mit der DDR verbunden und in die SED eingebunden. Aber das Verlangen nach sonst unerreichbarem Wissen war unwiderstehlich. An die Stelle der Verlockungslust von damals ist inzwischen der wissenschaftliche Reiz getreten, die von mir notierten Gedanken und Erinnerungen Merkers mit den früher unzugänglichen Beständen des ehemaligen SED-Archivs in Beziehung zu setzen, Merkers Angaben zu überprüfen und zu ergänzen und ihnen damit eine neue Dimension zu geben. Ein Beispiel mag dies demonstrieren. Ich fragte Merker, worauf sich der am 1. September 1950 im \"ND\" nachzulesende Vorwurf des ZK und der ZPKK stützte, er habe \"kein Verständnis für den Abschluß des deutsch-sowjetischen Paktes 1939\" gezeigt, obwohl er in seiner Geschichtsdarstellung \"Das 3. Reich und sein Ende\" von 1945 den Pakt vehement rechtfertigt.Merker antwortete: \"Daß ich kein Verständnis für den Pakt gehabt hätte, basiert auf einer Aussage Anton Ackermanns, die er im Mai 1940 gegenüber Pieck und Ulbricht, möglicherweise auch vor speziellen sowjetischen Dienststellen gemacht hat, nachdem er gemeinsam mit seiner Frau Irene Gärtner (Elli Schmidt) auf einer NKWD-Linic, wie man das damals nannte, von Richard Stahlmann aus Frankreich über die Schweiz, Italien und den Balkan in die Sowjetunion geschleust worden war. In Moskau wurde er - wie mir Franz Dahlem berichtete, der davon nach 1945 erfuhr - mit schweren Vorwürfen gegen das gesamte Auslandssekretariat der KPD in Paris und damit auch gegen mich konfrontiert, so daß er, um Repressalien zu entgehen, belastende Aussagen vor allem gegen mich machte, die dann bis zu dem Zeitpunkt auf Eis gelegt wurden, als sie zweckdienlich schienen.\" W. Kießling: Paul Merker.!HK 1993 141Details, die Merker nicht kannte, lassen sich bei Herbert Wehner nachlesen: \"Kurz vor dem Zusammenbruch Frankreichs, von dem in Moskau erschreckend wenig Notiz genommen wurde, trafen Ackermann, Irene Gärtner und Richard (ein früherer technischer Mitarbeiter Dimitrows, der zuletzt in einem Balkanbüro in Paris tätig gewesen war) in Moskau ein, der die ganze Schuld für den Zusammenbruch der deutschen Parteileitung auf Merker und Gerhard [Gerhart Eisler - W.K.] wälzte, während er versuchte, sich selbst und Dahlem weitgehend zu entlasten. Merker wurde in Ackermanns Bericht als Förderer trotzkistischer Elemente in der Organisation hingestellt, während Gerhard im Zusammenhang mit seinen Beziehungen zu Mitgliedern der Gruppen \'Neu Beginnen\' und \'Berliner Opposition\' - als der böse Geist Dahlems angeschwärzt wurde. Ackermanns sogenannte Selbstkritik war auch in der Form so widerwärtig, daß selbst Manuilski und Dimitrow seiner Zeit darauf verzichteten, ihn selbst anzuhören, und den deutschen Funktionären die Erledigung der Angelegenheit überließen.\" 1Weiter sagte mir Merker zu seinem angeblichen Unverständnis für den Pakt von 1939: \"Ende August 1950, ich war bereits aus der Partei ausgeschlossen, verlangte Herta Geffke von mir umgehend eine schriftliche Stellungnahme zu der ihr vorliegenden Aussage eines Genossen, dessen Namen sie mir nicht sagen dürfe, da es nicht um persönliche Querelen, sondern um die objektive Wahrheit gehe, daß ich mich in einer Sekretariatssitzung in Paris gegen den Pakt gestellt hätte. Ich gab es ihr schwarz auf weiß: \'Ich habe niemals eine falsche Auffassung zum Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der Sowjetunion gehabt. Es hat keine Besprechung in Paris stattgefunden, in der ich die mir vorgehaltenen Äußerungen getan habe\'.\"Das Herta Geffke vorgelegene Ackermannsche Papier vom 29. August 1950 besagt in seinen wesentlichen Passagen: \"Als die Presse den Abschluß des Nichtangriffspaktes der UdSSR mit Deutschland meldete, berief Gen. Dahlem eine Sitzung ein, an der, wie mir bestimmt erinnerlich ist, folgende Genossen teilnahmen: Dahlem, Merker, Bertz, Eisler und der Unterzeichnete. Im Verlauf der Aussprache über den zu fassenden Beschluß des ZK der KPD zum Nichtangriffspakt der UdSSR/Deutschland kam es beim Genossen Merker zu einem direkten Wutanfall. In äußerster Erregung brachte er zum Ausdruck, daß es immer dasselbe sei, was die ausländischen Kommunisten aufbauen, wird durch die Außenpolitik der Sowjetunion wieder zerschlagen. So sei es schon wiederholt gewesen. Mit dem Abschluß des Nichtangriffspaktes sei von den Russen wieder eine Suppe eingebrockt worden, die die deutschen Kommunisten auszulöffeln hätten [...].2 Über den Verlauf der Sitzung und die antisowjetischen Äußerungen des Gen. Merker hat der Unterzeichnete nach Ankunft in Moskau den dort weilenden Mitgliedern des ZK der KPD wie auch den Genossen Dimitrow und Gulajew (Leiter der Kaderabteilung der Komintern) mündlich Bericht erstattet. [...] Als Paul Merker aus der mexikanischen Emigration nach Deutschland zurückkehrte und in den Parteivorstand der SED kooptiert werdenWehner, Herbert: Zeugnis. Halle, Leipzig l990 (zuerst Köln 1982). S. 242. 2 Eine fundierte Darstellung und Dokumentation zu dieser Thematik, in der jedoch der Fall Merker nichtenthalten ist, weil dem Verfasser der Zugang zu den entsprechenden Quellen versperrt war, bietet Wolfgang Leonhards Buch: Der Schock des Hitler-Stalin-Paktes in der kommunistischen Weltbewegung. München 1989, in dem u.a. 75 Zeitzeugen zu Wort kommen. Neueste Recherchen ergeben, daß der inhaftierte Ernst Thälmann den Moskauer Prozessen mit Unverständnis begegnete und sich eigene Gedanken über den Nichtangriffspakt machte, von dessen Folgen er schließlich selbst betroffen war. Vgl. Sassning, R.: \"Das hätte man nicht machen sollen... \", in: Neues Deutschland, 24./25.4.1993. 142 JHK 1993Aufsätze und Miszellensollte,3 hat der Unterzeichnete abermals sehr ernst auf die Vorgänge in Paris und die damaligen Äußerungen des Paul Merker hingewiesen. In der Sitzung des Politbüros am 22.8.1950, nachdem mir die Verbindung Merkers zu Field bekannt geworden war, habe ich noch einmal an die Vorkommnisse erinnert, die ich hiermit schriftlich bestätige. \"4Merker erfuhr erst in der Untersuchungshaft, daß in der Pakt-Frage Anton Ackermann der Belastungszeuge war. Der von der ZPKK befragte Franz Dahlem, zu dieser Zeit noch Politbüromitglied, bestätigte Ackermanns Angaben nicht. Eisler erklärte, von irgendwelchen Differenzen in der Leitung der Partei über den Pakt sei ihm nichts bekannt. Paul Bertz konnte nicht mehr vernommen werden. Er hatte sich im April 1950 das Leben genommen, als die Untersuchungen gegen ihn begannen. Noch vor Stalins Tod gelangten Berijas Vertreter in der DDR und ihre deutschen Gehilfen zu dem Schluß, mit dem seit dem 2. Dezember 1952 in ihrer Gewalt befindlichen Paul Merker als Hauptangeklagten sei kein dem Prager Tribunal gleichrangiger Schauprozeß in Berlin zu machen - ein Thema, das einer gesonderten Darstellung bedürfte, in der besonders Merkers Widerstand gegen das geplante Verbrechen hervorzuheben wäre.Gegen Dahlem als Spitzenkandidat für die Anklagebank hatte ursprünglich gestanden, daß er im Vergleich zu Merker oder zu Dahlems Frau Käthe den \"Superagenten\" Field nicht persönlich kannte. Doch es ging überhaupt nicht um Field, der für die Anklage nur als Medium, als unsichtbarer Popanz zu fungieren hatte. Für Dahlem als Hauptbeschuldigten sprach, daß er das Auslandssekretariat in Paris leitete und in dieser Funktion bis zu Kriegsbeginn 1939 nach dem Vorsitzenden Pieck der zweite Mann der KPD-Führung war und als Kaderchef der SED größeren Einfluß besaß als Merker. Zu Beginn der 13. Tagung des Zentralkomitees der SED am 13./14. Mai 1953 - Franz Dahlem stand draußen vor der Tür - ließ Otto Grotewohl darüber abstimmen, ob die am 17. März vom Politbüro beschlossene Funktionsenthebung für Dahlem auch dessen Rechte und Pflichten als gewähltes ZK-Mitglied einschließt, ob er an der Tagung teilnehmen darf oder nicht. Geplant war, in einer geschlossenen Sitzung dieser Tagung, Dahlems \"Vergehen\" zu behandeln. Nun sollte verhindert werden, daß der Betroffene Gelegenheit fand, sich vor dem Plenum zu verteidigen. Grotewohl, laut Tagungsprotokoll: \"Wünscht jemand dazu das Wort? - Das ist nicht der Fall. Ich lasse dann darüber abstimmen, ob das ZK diesem Beschluß, den das Politbüro gefaßt hat, seine Zustimmung gibt. Wer dafür ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. - Wer dagegen ist, den bitte ich, das Zeichen zu geben. - Gibt es Stimmenthaltungen - Das ist nicht der Fall. Das ZK hat einstimmig den Beschluß des Politbüros bestätigt. Danach kann der Genosse Dahlem an dieser Sitzung also nicht teilnehmen.\" 5Am 14. Mai 1953 - es war vier Wochen vor dem 17. Juni, die Stimmung im Lande berührte das ZK-Plenum nicht - erhielt nach einem Bericht von Hermann Matern über die \"Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky\" Anton Ackermann die Möglichkeit, die nur von ihm allein bezeugten Äußerungen Merkers über den HitlerStalin-Pakt, die inzwischen nahezu 14 Jahre zurücklagen, in neuem Licht zu sehen und ihnen eine größere Dimension zu verleihen. In seiner Rede sagte Ackermann: \"Nach3 Richtig ist, daß Merker, als er sich noch in Mexiko befand, auf dem Gründungsparteitag der SED in Abwesenheit in den Parteivorstand und dessen Zentralsekretariat gewählt wurde.4 Zentrales Parteiarchiv der SED in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin, IV 2/4/117.5 Ebenda, IV 2/1/115. W. Kießling: Paul MerkerJHK 1993 143dem Abschluß des Nichtangriffspaktes fand in Paris eine Sekretariatssitzung der Auslandsleitung der KPD statt. Ich wurde von Dahlem hinzugezogen. Teilgenommen haben daran: Dahlem, Merker, Bertz, Eisler und Ackermann. Im Verlaufe dieser Sitzung, wo die Stellungnahme der KPD nach Deutschland hin zum Abschluß des Nichtangriffspaktes festgelegt wurde, kam es zu einem wüsten, unvorstellbar krassen antisowjetischen Ausfall des inzwischen als Agenten aus der Partei ausgeschlossenen Paul Merker. Einige Minuten lang hat in dieser Sitzung Paul Merker sein wirkliches Gesicht gezeigt, nämlich die Fratze eines wütenden Feindes der Sowjetunion. Ich habe darüber im Mai 1940, nachdem ich und Elli Schmidt durch Genossen Ulbricht nach Moskau zur Berichterstattung gerufen wurden, vor dem Sekretariat des Exekutivkomitees mündlich und schriftlich berichtet. Ich habe immer wieder mit Protest auf diese Tatsache hingewiesen, wenn die Stellung Merkers in der Partei zur Sprache kam. So 1945 im Sekretariat des ZK der KPD, als ausdrücklich ein Platz für Merker reserviert wurde, obwohl er noch gar nicht in Deutschland anwesend war. Es war nach 1945 immer die gleiche Tragödie für die Partei, wenn ich auf diese Tatsache hinwies. Die Haltung von Merker war klar: er behauptete, Ackermann verleumde ihn böswillig. Bertz, Dahlem und Eisler \'erinnerten sich nicht [...]\'. Es ist Tatsache, daß Dahlem in der Sekretariatssitzung im Sommer 1939 zu diesem wüsten antisowjetischen Ausfall geschwiegen hat und keinerlei Konsequenzen zog. Dahlem blieb weiter in Merkers Schlepptau. Dahlem war als Vorsitzender des Auslandssekretariats doch im Schlepptau von Merker. Er hat nach 1945 immer wieder behauptet, daß er sich an einen solchen Ausfall Merkers nicht erinnern kann, auch noch, als Merker bereits als Agent entlarvt war. Später bequemte sich Dahlem zuzugeben, daß es zeitweilig bei Merker \'Schwankungen\' gab. Er hat sich aber nie daran erinnert, was das für Schwankungen waren. Genossen, einen solchen wütenden Haßausbruch gegenüber der Sowjetunion noch jahrelang später als ein harmloses \'Schwanken\' hinzustellen - was bedeutet das? Das bedeutete, dem Sowjetfeind Merker Hilfestellung zu leisten, ihm jahrelang seine Doppelzüngelei zu ermöglichen. Das bedeutet, die Partei daran zu hindern, den Agenten Merker und andere rechtzeitig zu entlarven. Dahlem hat alles, was in seinen Kräften stand, getan, um das zu tun. [...] Was das Jahr 1939 anbelangt, so steht für mich fest, daß ein enger Zusammenhang zwischen der politischen \'Indifferenz\' von Dahlem zu dem antisowjetischen Ausfall von Merker und dem kapitulantenhaften Verhalten Dahlems bei Kriegsausbruch besteht. [...] Es handelt sich darum, daß sich vor dem 2. Weltkrieg in den Reihen selbst der kommunistischen Emigranten in den westlichen kapitalistischen Ländern eine gefährliche Ideologie breitmachte. Merker war nicht zufällig der Hauptexponent dieser Ideologie. Diese sogenannte Ideologie bestand darin, in den westlichen Ländern und ihren Regierungen Verbündete gegen Hitler zu sehen. Selbst da und dort, wo die Politik, die Haltung dieser Regierungen keinerlei Berechtigung zu einer solchen Einstellung gab, sondern im Gegenteil die Tatsachen dafür sprachen, daß diese Regierungen Hitler Hilfsdienste leisteten. Aus den auch in dieser Zeit vorhandenen Gegensätzlichkeiten unter imperialistichen Mächten in manchen Fragen zog man den falschen und gefährlichen Schluß, den imperialistischen Charakter dieser Regierungen entweder weitgehend zu unterschätzen oder ganz zu leugnen. Wie ist eine solche Haltung politisch einzuschätzen? Sie bedeutet das Verlassen des prinzipiellen Standpunktes des Marxismus-Leninismus und das Herabsinken auf die Position des Sozialdemokratismus. Vorsichtig ausgedrückt war Franz Dahlem von dieser Ideologie des Verkennens des imperialistischen Charakters der westlichen Staaten sehr weitgehend 144 JHK 1993Aufsätze und Miszellenangesteckt. Das ist meiner tiefsten Überzeugung nach die zweite Ursache seines Verhaltens zu dem Wutausbruch Merkers [...].\"6Merker hat den Wortlaut dieser Rede nie zu Gesicht bekommen. Wie ich aus meinen Gesprächsnotizen mit ihm entnehme, wurde er jedoch mit ihrem Inhalt konfrontiert - bis hin zu den darin enthaltenen Beschimpfungen. Merker glaubte, es wäre die Sprache der Vernehmer, die er als seine Feinde ansah, denn er hätte, wie er mir sagte, ihnen nur zu widerstehen vermocht, nachdem er sie als politische und persönliche Gegner begriff, \"weil sie sich als solche benahmen, die jüngeren unter ihnen dazu mißbraucht\". Am schlimmsten sei es für ihn gewesen, daß sie sich \"als sowjetische und deutsche Kommunisten ausgaben\" und \"behaupteten, auf Veranlassung des Politbüros des ZK oder seines Sekretariats zu handeln\". Sinnlos sei sein Widerstand nicht gewesen. Er habe es abgelehnt, sich als \"imperialistischen Agenten zu bezeichnen und andere schuldlose Menschen zu beschuldigen, \'imperialistische Agenten\' zu sein, und sie so mit mir ins Verderben zu reißen\". Niemals hätte er sich träumen lassen - von den Vorahnungen abgesehen, die Dahlem und er hatten, als sie im Sommer 1939 zur Berichterstattung nach Moskau kommen sollten -, daß er einmal den Kampf \"an einer so eigenartigen Front zu führen gezwungen sein würde\".Ungeachtet dessen, daß sich Merker in der Haft und vor Gericht bis zuletzt dagegen verwahrte, ein \"Sowjetfeind\" zu sein, hieß es in der Begründung für das Urteil von acht Jahren Zuchthaus: \"Als im August 1939 die imperialistische Politik Englands und Frankreichs die Sowjetunion dazu veranlaßte, zu ihrem Schutz einen Nichtangriffspakt mit dem faschistischen Deutschland abzuschließen, machte er innerhalb des Kreisesführender Genossen des Auslandssekretariats gegen diese Politik Stimmung. \"76 Ebenda. 7 Dieses Zitat verdanke ich Rudi Becker, Berlin, der 1990 im Obersten Gericht der DDR das Urteil unddie Urteilsbegründung einsah.

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