JHK 1993

Sammelrezensionen

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 363-451

Hans Hecker (Düsseldorf): Literatur zur Geschichte der Sowjetunion

Torke, Hans-Joachim (Hrsg.): Historisches Lexikon der Sowjetunion 1917/22 bis 1991. Verlag C. H. Beck, München 1993, 401 S.; Nolte, Hans-Heinrich: Rußland/UdSSR. Geschichte, Politik, Wirtschaft. Fackelträger-Verlag, Hannover1991, 288 s.; Portisch, Hugo: Hört die Signale. Aufstieg und Fall des Sowjetkommunismus. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1991, 448 S.; Jegorow, Vladimir K./Jefremow, Wladislaw/Jefremowa, lrina/Mostowoi, Wjatscheslaw: Ein Stern verblaßt. Reflexion einer dramatischen Epoche. Sowjetunion 1917 bis 1991. edition q Verlags-GmbH, Berlin 1991 (Kassette). Brie, Michael/Böhlke, Ewald: Rußland wieder im Dunkeln. Ein Jahrhundertstück wird besichtigt. Mit Beiträgen von Petra Stykow und Rainer Land. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1992, 253 S. Das Ende des sowjetischen Entwicklungsmodells. Beiträge zur Geschichte der sozialen Konfrontationen mit dem sozialistischen Akkumulationskommando. Schwarze Risse Verlag, Berlin 1992 (Materialien für einen neuen Antiimperialismus, Nr. 4), 320 S. Nikolajewski, Boris: Brief eines alten Bolschewiken. Mit einem Essay von Detlev Claussen. Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1992, 106 S. Peter, Antonio/Maier, Robert (Hrsg.): Die Sowjetunion im Zeichen des Stalinismus. Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1991, 174 S. Hughes, James: Stalin, Siberia and the Crisis of the New Economic Policy. Cambridge University Press, Cambridge 1991 (Soviel and East European Studies, 81), 260 S.Mit dem Historischen Lexikon der Sowjetunion 1917/22 bis 1991 hat der Berliner Osteuropahistoriker Hans-Joachim Torke erfreulicherweise seinem Lexikon der Geschichte Rußlands (LGR), das 1985 erschienen ist, eine wichtige und wertvolle Fortsetzung folgen lassen. Nach dem bewährten Konzept hat ein zehnköpfiges Team wieder enzyklopädische Stichwortartikel erarbeitet, die alphabetisch angeordnet und mit Querverweisen versehen sind; eine Datentabelle, knappe Literaturhinweise und drei Karten ergänzen das Werk. Der hohe Wert dieses Lexikons für jeden, der sich über Ereignisse, Personen, Daten und Begrif- 364 JHK 1993Sammelrezensionenfe der sowjetischen Epoche Rußlands informieren will, steht außer Frage; eine solide, zuverlässige und weitgespannte, vor allem auch handlichhandhabbare Informationsquelle zu diesem Themenbereich von annähernder Vergleichbarkeit steht nicht zur Verfügung. Die Auswahl der Stichworte wird über einen be­ stimmten Grundbestand hinaus immer diskussionswürdig sein. So vermißt der Benutzer, wenn er auf Arti­ kel zur \"Spanischen Republik\" oder zum \"Warschauer Aufstand\" gestoßen ist, z.B. das Stichwort \"17. Juni 1953\"; weiterhin fehlen Artikel über den \"Schachty-Prozeß\" oder die \"Leningrader Affäre\", die nur er­ wähnt, aber nicht hinreichend erläutert werden. Daß die Frauen nur kurz unter \"Familie\" abgehandelt wer­ den, fällt nicht nur Feministinnen auf. Zum Bereich der Historiographie findet sich zwar eine ganze Reihe von Personal- und Sachstichworten, aber daß auf einen Übersichtsartikel verzichtet wurde, wie ihn das LGR noch bietet, dürfte wohl nicht mehr zum diskutablen Bereich gehören. Vielleicht lassen sich einige Ergänzungen in weiteren Auflagen aufnehmen, von denen dem Band noch sehr viele zu wünschen sind.In der Reihe der handlichen, gut benutzbaren historisch-politischen Landeskunden des Fackelträger­ Verlages ist Hans-Heinrich Noltes Handbuch Rußland/UdSSR erschienen. Mit seinem Überblick zur russi­ schen Geschichte von den Anfängen bis in die zweite Hälfte des Jahres 1991 liefert der Hannoveraner Ost­ europahistoriker eine bemerkenswerte Zusammenfassung der wesentlichen politischen, wirtschaftlich-so­ zialen und geistig-ideellen Aspekte, zugleich auch eine historische Deutung der Endphase der UdSSR und der für die künftige Entwicklung bedeutsamen Charakteristika dieses Landes. In die straff gegliederte, strukturbezogene Darstellung sind exemplarische Kurzbiographien, auch einmal eigene Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkrieges, eingeschoben, die den jeweils vorausgegangenen Abschnitt illustrieren; Karten, Tabellen und Quellentexte zu den letzten Jahren der UdSSR dienen dem gleichen Zweck. Das Bemühen um Verständlichkeit auch für den nicht speziell vorgebildeten Leser paart sich mit dem begrüs­ senswerten Versuch, diesen zugleich in die spezielle Terminologie der russischen Geschichte einzuführen. Eine Kapitelüberschrift wie \"Das Imperium schlägt zurück\" erscheint allerdings ein wenig zu populär ge­ wählt. Im ganzen erweckt die Lektüre den Eindruck, als sei das Buch einigermaßen hastig fertiggestellt worden, so daß zum gründlichen Korrekturlesen die Zeit gefehlt hat. So werden gelegentlich dieselben Namen unterschiedlich geschrieben, und im Literaturverzeichnis gibt es einige Ungereimtheiten; ob die Bezeichnung der Juden als Jidden oder die Erwähnung des mestnitschestwo in einem unklaren Zusammen­ hang auch zu diesen Versehen gehören, ist nicht recht erkennbar. Über einige Punkte könnte man diskutie­ ren, wie z.B. ob es nicht eher die Autokratie in den vielen Jahrhunderten ihrer Entstehung und Entfaltung war, die die Entwicklung moderner Nationen in Rußland verhinderte, und nicht nur \"der Kaiser\" im 19. Jahrhundert. Ein Register hätte den zweifellos hohen Gebrauchswert des Bandes abgerundet.Auf ein breites, sich vorwiegend am Fernsehen orientierendes Publikum zielen die beiden nächsten hier vorzustellenden Titel ab. Der auch durch sein Sibirien-Buch bekanntgewordene österreichische Journalist Hugo Portisch legt mit seinem imponierenden, bilderreichen Band das ergänzende Gegenstück zu seiner Fernsehserie vor, die ebenfalls unter dem Titel Hört die Signale gelaufen ist. Ihm geht es ausdrücklich um \"eine journalistische Darstellung der oft atemberaubenden Ereignisse, die aus Rußland die Sowjetunion werden ließen und nun aus der Sowjetunion wieder Rußland werden lassen\" (7). Allerdings läßt es der Au­ tor nicht bei einem gut geschriebenen Text und einer Fülle informativer, teils erst jetzt zugänglich gemach­ ter Aufnahmen bewenden. Der Grundgedanke, der alles durchzieht, verweist auf die faszinierende Span­ nung zwischen dem hohen Ideal, eine neue Welt zu erbauen, das viele Menschen, oft die idealistischsten und intelligentesten, zeitweise in seinen Bann zu schlagen vermochte, einerseits und dem grauenvollen Terror, der Zerstörung des Landes und der Vernichtung und Demütigung von Millionen Menschen ande­ rerseits. Eine Alternative innerhalb der Bewegung und Machtbildung der Bolschewiki erkennt Portisch nicht: Nachdrücklich weist er darauf hin, daß Gewalt und Terror mit ihnen von Anfang an untrennbar ver­ bunden waren, eine Art Geburtsfehler des von Lenin gegründeten Sowjetstaates. Auch Trotzki sei gegen­ über Stalin nichts anderes als ein Rivale im Kampf um die Macht gewesen, keinesfalls die bessere oder SammelrezensionenJHK 1993 365womöglich humanere Variante. Zwar billigt Portisch der sowjetischen Art des real existierenden Sozialismus, nachdem er unter Gorbatschow zuletzt seine Reformunfähigkeit bewiesen habe, keinerlei Überlebenschance zu, geschweige denn eine Modellfunktion. Aber positive Wirkungen will er ihm doch nicht versagen: Er habe eine gewaltige Herausforderung an das kapitalistische System dargestellt und es zu einem tiefgreifenden sozialen Wandel gezwungen, zum New Deal, zum Wandel der ungebundenen zur sozialen, partnerschaftlichen Marktwirtschaft, zur umfassenden Sozialpolitik. Diese Sicht der Dinge hat gewiß etwas Richtiges, wenn auch sichere Beweise noch fehlen. Vielleicht sieht der Verfasser das überlebende der beiden konkurrierenden Systeme etwas zu perfekt und rosig, vor allem zu endgültig; die eigentliche Bewährungsprobe steht ihm noch bevor, nachdem die Last der künftigen Verantwortung allein auf denen liegt, die bis vor kurzem den \"Westen\" in einer bipolaren Welt darstellten.Die Kassette des russischen Autorenteams Jegorow/Jefremow/Mostowoi gibt - in deutscher Bearbeitung - einen dreifachen Längsschnitt der Geschichte der Sowjetmacht in Rußland von 1917 bis 1991: in einem Buch, einer Videocassette und einer Audiocassette. Das Buch erfaßt noch in einem Nachtrag den Putschversuch vom August 1991, aber nicht mehr die Auflösung der Sowjetunion am Ende desselben Jahres. So weit reicht auch die Videocassette, die als eine Art Filmversuch des Buches viele interessante Aufnahmen zeigt, aber in dem Bestreben der Filmautoren, in zwei Stunden ein möglichst umfassendes Bild zu liefern, ziemlich hastig durch die sowjetische Epoche der russischen Geschichte eilt. Die Audiocassette läßt den einen Grundzug des Gesamtwerkes hervortreten, die nachwirkende Prägung durch den Sowjetpatriotismus: In zweimal 44 Minuten erklingen patriotische Jubellieder der Sowjetmacht, davon ein Drittel aus dem Zweiten Weltkrieg, sowie Lieder der Völker der Sowjetunion. Der andere Grundzug ist die Orientierung an Idee und Programmatik der Perestrojka, des demokratischen Umbaues der Sowjetunion. Die Autoren kommen aus der Umgebung Gorbatschows, insbesondere der Historiker V.K. Jegorow gehörte zu seinen Beratern. Der Gesamttitel Ein Stern verblaßt, einem Gedicht Puschkins entnommen, soll die Hoffnungen ausdrücken, die sich an den Sturz des Zarismus und den Versuch der Revolutionäre geknüpft hatten, eine neue Welt zu errichten, und die nun durch den Verlauf der Geschichte zunichte gemacht worden sind. So hart die Urteile der Autoren ausfallen, auch über Lenin und sein Erbe, so lehnen sie - und darin ist ihnen zuzustimmen - es doch ab, in den Revolutionen des Jahres 1917 einen \"Fehler\" und in der nachfolgenden Sowjetperiode eine historische \"Fehlentwicklung\" zu sehen. Daß Politiker sich irren, Fehler machen oder Verbrechen begehen können, steht außer Frage. Aber da die Geschichte keinen Kanon ihres \"richtigen\" Verlaufes kennt, kann sie auch keine \"Fehler\" machen oder \"Irrtümer\" begehen. Alles hat seine nachweisbaren Ursachen. Ob es, wie die Autoren hoffnungsvoll andeuten, der Reformpolitik gelingt, einen dritten Weg zwischen dem Kapitalismus des Westens und der sowjetischen Variante des Sozialismus zu finden, bleibt abzuwarten.Nicht für breite Kreise sind die beiden folgenden Bücher gedacht. Es drängt sich der Eindruck auf - im Fall des antiimperialistischen Autorenkollektivs stärker als bei dem zunächst zu besprechenden Buch von Brie und Böhlke - , daß sie in erster Linie den Verfassern dazu dienten, sich selbst über die Bedeutung des Unterganges der Sowjetunion klar zu werden und in ihrer politisch-weltanschaulichen Orientierung wieder einigermaßen Tritt zu fassen.In dem Taschenbuch der beiden an der Humboldt-Universität wirkenden Sozialwissenschaftler Brie und Böhlke Rußland wieder im Dunkeln wird der Versuch, den Zusammenbruch der Sowjetunion und des mit ihr verbundenen politischen, sozialökonomischen und ideologischen Systems in seinen Ursachen und Wirkungen zu klären, in Form von historischen Rückblicken und politologisch-soziologischen Analysen vorgenommen, in die einige Interviews mit russischen Wissenschaftlern sowie der Erlebnisbericht einer deutschen Journalistin vom Leben der Menschen am Ende des Jahres 1991 eingestreut sind. Worauf laufen die Betrachtungen aus wechselnder Perspektive hinaus? Wenn man davon absieht, daß beispielsweise die hier vorgeführte Deutung der spätmittelalterlichen Theorie von Moskau als Drittem Rom im Sinne einer 366 JHK 1993Sammelrezensionentriumphal-imperialen Reichsideologie nicht mehr dem Forschungsstand entspricht, sind die historischen Erläuterungen im wesentlichen zutreffend, gehen sie aber in der Sache über das Bekannte nicht hinaus. Die Gründe für viele Maßnahmen und Einrichtungen werden behandelt, wie z.B. die straff durchorganisierte und gelenkte Planwirtschaft, die in der Phase der Industrialisierung während der dreißiger Jahre und unter den besonderen Bedingungen des deutsch-sowjetischen Krieges eine zeitweilig beachtliche Effektivität aufwies, aber dann vermißt man doch entsprechende Begründungen für die zahlreichen, katastrophalen Widersprüche und Fehlentwicklungen aus dem System heraus. Einige Bemühungen um Klärung und Strukturierung der Geschichte der Sowjetunion vermögen nicht einzuleuchten, wie z.B. das Phasenmodell für die Entwicklung der Sowjetmacht, das auf der Vorstellung eines Zyklus\' wirtschaftlicher und politischer Krisen beruht. Danach wird die Zeit der Stalinherrschaft und der beginnenden Distanzierung von ihr - von 1929 bis 1956 - in einer einzigen Phase zusammengefaßt: vom Anfang der Planwirtschaft über den Zweiten Weltkrieg bis zur Internationalisierung des sowjetischen Staatssozialismus durch die Blockbildung nach Kriegsende und zur Krise des Gesamtsystems, wie sie in der \"Entstalinisierungs\"-Kampagne der Chruschtschow-Führung seit dem XX. Parteikongreß der KPdSU und den Aufstandsbewegungen in Polen und Ungarn zum Ausdruck kam. Die anderen Krisenphasen fallen hingegen vergleichsweise kurz aus.Auf zwei Punkte weisen die Autoren immer wieder hin: Rußland sei erstens etwas Eigenartiges, Selbständiges, weder europäisch - im heutigen, vorwiegend angloamerikanisch geprägten Verständnis - noch asiatisch. Aus seiner Besonderheit heraus werde Rußland - hier klingt wieder der Gedanke des russischen Driften oder Sonderweges an - wohl auch seine eigenen politischen, ökonomischen und sozialen Formen hervorbringen. Da und solange noch unklar sei, wann und auf welchen Wegen sie einmal erreicht und wie sie aussehen würden, wirke Rußland als besonders verunsicherndes Element in einer unsicher gewordenen Welt. Die Welt, und damit sind wir beim zweiten Punkt, habe überhaupt ihre lange scheinbar gewahrte Stabilität verloren, sie sei erneut in Bewegung geraten, sie sei von vielen Katastrophen bedroht, von der Unfähigkeit der Menschheit, sich vollständig ausreichend zu ernähren, bis zum ökologischen Zustand der Erde. Die wachsende Labilität der Verhältnisse erinnert die Autoren an die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, insbesondere die Umwälzung des gesamten Staatensystems und die damit einhergehende nationale Zersplitterung. Und dennoch handele es sich jetzt um etwas Neues, denn die Krisen der Gegenwart und überschaubaren Zukunft würden nicht mehr durch Niederlagen ausgelöst, sondern durch Siege, die die Sieger zu überfordern drohen (248). Diese Skepsis erscheint gewiß grundsätzlich angebracht, wenn auch die Unterscheidung nach \"Siegern\" und \"Verlierern\" der Geschichte, im untergegangenen real existierenden Sozialismus extensiv betrieben, fragwürdig, eigentlich unhistorisch ist. Wer \"gesiegt\" und wer \"verloren\" hat, wissen die Historiker erst viel später, wenn von den Protagonisten keiner mehr lebt, und dann sind sie sich häufig nicht einmal einig. Die Geschichte selbst besteht nur aus einem Wechsel, aus der permanenten Veränderung mit ihren Ursachen und Wirkungen. Im ganzen entwerfen die Autoren das Szenario einer weltweiten Krisenzeit, zu deren Symptomen der Untergang der Sowjetunion und des von ihr dominierten Teil der Welt gehört. Aus ihrer Analyse leiten sie eine Art idealen politischen Programms ab, sie rufen zu einem globalen Weltverständnis und zu weltweiter Solidarität auf. Diese Forderungen sind so richtig wie bekannt, die Frage ist nur: Wie setzt man sie in praktisches Handeln um?Was das Buch vom Ende des sowjetischen Entwicklungsmodells betrifft, so fühlt sich der Leser zunächst dadurch etwas befremdet, daß das Autoren- oder wohl eher Autorinnenkollektiv es für richtig hält, konsequent anonym zu bleiben; in bezeichnender Inkonsequenz wird im Text jedoch durchaus unbefangen die ich-Form angewendet. Ein Grundproblem der vorgelegten Texte liegt darin, daß sie publiziert worden sind, ohne eigentlich fertiggestellt worden zu sein. Das ist so wenig übersehbar, daß es der wiederholten Hinweise auf die Unfertigkeit, auf die aus dem Stückwerk resultierenden \"Mängel, Schieflagen und Verkürzungen\" (10) gar nicht bedurft hätte. Wenn man die Frage stellt, warum die Autorinnen denn ihre Ausarbeitung in diesem dürftigen Zustand zum Druck befördert haben, findet man den Grund in dem offen- SammelrezensionenJHK 1993 367sichtlich dringenden Bedürfnis, \"den Zusammenbruch des \'realen Sozialismus\' in einer sozialrevolutionären Debatte genauer diskutierbar zu machen\" (9). Das Kollektiv der Verfasserinnen sieht sich in einer Traditionslinie von den Narodniki her mit der revolutionären Linken, insbesondere mit den Basisguerillabewegungen des 20. Jahrhunderts verbunden, denen es eine maßgebliche Bedeutung für die künftige Entwicklung ganz Europas zuschreibt. Von daher wird seine fundamentale Erschütterung über das chaotische Ende des großangelegten Versuches der Bolschewiki verständlich, \"die Blockierungen zu durchbrechen, die der soziale Antagonismus dem sozialtechnischen Fortschritt der Ausbeutung entgegenstellte\" (9), und der sich nun als Ausbeutungs- und Unterwerfungsstrategie in anderen Formen entpuppt habe. Daß die \"bürgerlichen\" Osteuropawissenschaftler das schon früher erkannt, gründlich untersucht und präzise analysiert haben, kann man auch an der Häufigkeit erkennen, mit der hier ihre Arbeiten zitiert werden. Das Kollektiv äußert Befürchtungen, welche Folgen aus dem Verschwinden des \"sozialistischen Lagers\" entstehen werden: Die \"Ordnung des Kalten Krieges droht durch eine Ordnung des sozialen und militärischen Krieges gegen die Armen abgelöst zu werden\", ganz gleich wo die Armen leben (89). Aber eine Programmatik leitet es aus seinen Erkenntnissen nicht ab. Es sollte Material für die interne Diskussion aufbereitet werden, und, daß mehr nicht beabsichtigt war, merkt man nicht nur an dem sehr \"internen\" Jargon, der hier gepflegt wird, sondern auch daran, daß der \"Torso\" kein Ende hat, einfach abbricht.Der Stalinismus kennzeichnet nicht allein einen bestimmten Abschnitt in der Geschichte der Sowjetunion, sondern er ist zum Begriff und Maßstab weit über die Zeit und den Raum seiner tatsächlichen Existenz hinaus geworden. Der Stalinismus, ganz gleich, ob er in Reue, Schmerz oder Wut verdammt, oder ob er - was die andere Seite derselben Münze ist - angesichts der aktuellen Probleme schon wieder nostalgisch verklärt wird, hat die Sowjetgesellschaft nachhaltig und aufs Schwerste traumatisiert. Daher läuft jede Analyse der sowjetischen Geschichte Rußlands in irgendeiner Form auf eine Analyse des Stalinismus hinaus, und jede Bewertung aktueller Entwicklungen und Tendenzen in der ehemaligen Sowjetunion nimmt in irgendeiner Form auf den Stalinismus Bezug. Die drei Titel, die sich unmittelbar mit dem Stalinismus beschäftigen, seien abschließend besprochen.Boris Nikolajewskis Brief eines alten Bolschewiken steht im Zentrum der drei Beiträge, die das gleichnamige schmale Bändchen enthält. Bei dem Brief handelt es sich um eine Veröffentlichung der in Paris herausgegebenen Zeitschrift Sozialistitscheskij Westnik aus dem Dezember 1936 und Januar 1937. Herausgeber der Zeitschrift und Verfasser des Briefes war Boris Nikolajewski, der als sozialistischer Revolutionär vom zaristischen Rußland verfolgt, als Menschewik von der bolschewistisch gelenkten Staatsmacht ins westliche Exil getrieben worden war. Ihn verband eine alte Kampfkameradschaft mit Nikolaj Bucharin, dem führenden Theoretiker der Bolschewiki, den Lenin in seinem Testament als \"Liebling der Partei\" bezeichnet hatte. Es spricht nun alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß Bucharin, als er im Frühjahr 1936 mit Nikolajewski in Paris wegen der Übernahme von Parteiarchivalien der SPD zu verhandeln hatte, diesen so eingehend über die Moskauer Verhältnisse unterrichtet hat, daß er als der eigentliche Urheber des Briefes gelten kann. Es geht um die Stalinschen Schauprozesse gegen alte, bewährte Parteiführer, die in ihrem Verlauf sowie in den Motiven und Absichten nicht nur ihrer Inszenatoren, sondern auch der sich meistens - äußerlich betrachtet - mitunter geradezu vehement schuldig bekennenden Angeklagten den Beobachtern so viele Rätsel aufgegeben haben. Bucharin selbst sollte bald zu ihnen gehören, und es war an erster Stelle seine Witwe Anna Larina Bucharina, die in ihren Memoiren \"Nun bin ich schon weit über zwanzig\" der Veröffentlichung des Briefes die maßgebliche Schuld am Schicksal ihres Mannes zuschrieb.Der zweite Essay Nikolajewskis schildert die Umstände der Ermordung des Leningrader Parteisekretärs Kirow, eines Konkurrenten Stalins, der eine Alternative zu dessen Politik anbot und auf dem XVII. Parteikongreß den größten Triumph erlebt hatte. Stalin erscheint hier als derjenige, der überhaupt ein Interesse an der Beseitigung Kirows haben konnte und daher die Fäden bei dem Komplott gezogen hat. Wenn auch in bestimmten Fragen die Forschung weitergekommen ist - z.B. behauptet sie nicht mehr so unbefangen, 368 JHK 1993SammelrezensionenStalin habe die Hungersnöte in der Ukraine in der Absicht inszeniert, um Millionen unliebsamer Menschen loszuwerden - , handelt es sich bei beiden Essays um Texte von eindrucksvoller Authentizität, die hier erstmals in deutscher Übersetzung wiedergegeben werden.Eines der Grundprobleme war das Verhältnis der Sowjetmacht zur Intelligenz gewesen. Es steckt auch in den hier behandelten Fragen, und es ist nichts mehr als berechtigt, wenn Detlev Claussen den beiden Quellentexten einen klugen und einfühlsamen Essay vorausschickt, in dem er dieses Thema am Beispiel der problematischen Rolle eines Intellektuellen wie Bucharin in Partei und Staat erörtert. Dabei geht er auch auf die Idee einer Intelligenzija-Partei in der Sowjetunion ein, die nicht als prinzipielle Opposition zur Regierung fungieren sollte, sondern als Quelle von Änderungs- und Lösungsvorschlägen, also als korrigierende, geistig-politische Kraft. Die Kontinuität des Problems wird augenfällig, wenn Claussen darauf hinweist, daß diese Idee bereits von Bucharin und Radek im Zusammenhang mit ihren Arbeiten an der \"Stalin\"-Verfassung von 1936 aufgebracht und von den geistigen Vätern der Perestrojka wieder aufgegriffen worden sei.Im Frühjahr 1990 fand bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung ein Symposium über den Stalinismus statt, die meisten Beiträge sind in dem von Antonio Peter und Robert Maier herausgegebenen Sammelband abgedruckt. Der Titel Die Sowjetunion im Zeichen des Stalinismus weist darauf hin, daß der Stalinismus nichts Abgeschlossenes ist, keine beendete Periode, sondern daß er über die nachstalinsche Periode hinaus in die sowjetische - und wir können inzwischen hinzufügen: auch in die nachsowjetische - Gesellschaft und politische Diskussion bestimmend einwirkt. Es hat die Auseinandersetzung und Verarbeitung des Stalinismus in der ehemaligen Sowjetunion nicht erleichtert, daß es keine Zäsur im Sinne einer Stunde Null gegeben hat und das Regime nicht in einem datierbaren, unübersehbaren Krach zusammengebrochen ist, wie es beim nationalsozialistischen Deutschland der Fall war, daß die Katastrophe des Systems sich über Jahre hin vollzog und noch vollzieht, daß die Distanzierung von Stalin als Person wie auch vom Stalinismus als System zögernd, nicht einmal eindeutig betrieben worden ist. Man muß sich nicht darüber wundem, daß es dort noch Menschen gibt, die ihre verklärende Verehrung Stalins nicht aufgeben wollen, Entsprechendes gibt es auch hierzulande. Es läßt sich nicht verkennen, daß Stalin keineswegs einen Krieg gegen die gesamte Bevölkerung geführt hat, sondern es hat auch große Schichten gegeben, die vom Stalinismus profitierten, denen es in dieser Zeit besser ging als jemals zuvor. Die Bevölkerung im Stalinschen Herrschaftssystem - dieser sozial- und gesellschaftshistorische Schwerpunkt, der auch unter wirtschaftlichen, außenpolitischen, literarischen und ideologischen Aspekten beleuchtet wird, bestimmt den Band. Die durchweg sehr kompetenten Autoren führen mit dem gegenwärtigen sachlichen Forschungsstand in eindrucksvoller Souveränität die breite Methodenvielfalt ihrer Wissenschaften vor. Im ganzen ein sehr lesenswerter Band, der auch dem Interessenten, der sich nicht als Fachmann bezeichnen will, zu einem guten Einstieg verhilft.Eine Schlüsselfrage und einen noch immer nicht vollständig erforschten Zeitabschnitt der Geschichte der Sowjetunion untersucht James Hughes am Fall Sibirien: Die 1921 von Lenin auf dem X. Parteikongreß eingeleitete Neue Ökonomische Politik (NÖP) und ihre Ablösung durch die zentrale Planwirtschaft, die Stalin Ende der zwanziger Jahre durchsetzte. Auf der Grundlage umfangreichen, von westlichen Historikern bislang noch nicht berücksichtigten gedruckten Quellenmaterials geht er der Frage nach, wie sich die gesellschaftliche Bewegung von unten her und Stalins Revolution von oben begegneten und in welcher Weise sie zur Gesamtentwicklung beitrugen. Sibirien spielt dabei deswegen eine so bedeutsame Rolle, als nach allgemeiner Meinung der Forschung die Eindrücke, die Stalin im Frühjahr 1928 auf seiner SibirienRundreise sammelte, den entscheidenden Anstoß zu seinem Entschluß gaben, die NÖP zu beenden und mittels einer instrumentalisierten Partei die Wirtschaft - und damit das ganze Land - durch den Übergang zum zentral gesteuerten Fünfjahrplansystem fest in den Griff zu nehmen, um darauf seine Alleinherrschaft sicher zu gründen. Hughes beschreibt nun die engen Verbindungen der sibirischen Parteiorganisationen zu SammelrezensionenJHK 1993 369dem selbständigen, wohlhabenden Bauerntum, das sich während der NÖP weiter ausgebildet hatte. Hier werden die Methoden Stalins, sich in einem Patronagesystem seine Anhängerschaft innerhalb der Partei um sich zu scharen und an sich zu binden, und die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie im ganzen aus der Sicht mikrohistorischer Studien neu beleuchtet. Am Fall des Parteisekretärs Syrtschow, der in der Wirtschaftspolitik Bucharin viel näher stand als Stalin, kann Hughes zeigen, daß keineswegs dieselbe politische Linie das Fundament gegenseitiger Loyalität bilden mußte. Hier gaben andere Verbindungen und Abhängigkeiten den Ausschlag. Diese subtile Untersuchung zeigt, wieviele Aufgaben und Möglichkeiten die Stalinismusforschung noch bereithält - ohne daß man auf die sich nur allmählich öffnenden Archive angewiesen wäre! -, und daß Stalin und sein System viel facettenreicher waren, als es manchem scheinen mag.Klaus Heller (Gießen)Neue \'westliche\' Veröffentlichungen zur russischen RevolutionsgeschichtePipes, Richard: Die Russische Revolution. Bd.1: Der Zerfall des Zarenreiches. Bd.2: Die Macht der Bolschewiki. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 1992. 1567 S.Bonwetsch, Bernd: Die russische Revolution 1917. Eine Sozialgeschichte von der Bauernbefreiung 1861 bis zum Oktoberumsturz. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1991. 240 S. John Daborn: Russia: Revolution and Counter-Revolution 1917-1924. Cambridge University Press, Cambridge 1991. 134 S. Revolution in Russia: Reassessments of 1917. Hrsg. von Edith Rogovin Franke!, Jonathan Franke/, Baruch Knei-Paz. Cambridge University Press, Cambridge 1992. 434 S. Aschmoneit, Artur: Trotzki, ZK, RMK. Das Revolutionäre Militärkomitee in der Oktoberrevolution. Die Legenden um Leo Trotzki. Dis\'s\'kurs Verlag Artur Aschmoneit, Düsseldorf 1991. 334 S. Nabokov, Wladimir D.: Petrograd 1917. Der kurze Sommer der Revolution. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 1992. 224 S.Die Veränderungen in der Sowjetunion in den letzten Jahren, die unter Gorbatschow seit 1985 zunächst nur zu einer Revitalisierung des sowjetkommunistischen Systems unter den Parolen \"Glasnost\" und \"Perestrojka\" führen sollten, um dann nach dem mißglückten Putsch konservativer Kräfte im August 1991 nicht nur das Verbot der Kommunistischen Partei, sondern auch die Auflösung des gesamten Sowjetimperiums zur Folge zu haben, führten frühzeitig zu einer intensiven Beschäftigung mit der Vergangenheit, insbesondere mit der Zeit des Stalinismus. Dabei wurde bald die Frage aufgeworfen, ob dieses Terrorregime, das selbst vor den bolschewistischen Führungskräften nicht haltmachte, nicht bereits in der Zeit Lenins vorgeformt worden sei. In Umkehrung der Parole der dreißiger Jahre \"Stalin - das ist der Lenin von heute\" müßte es dann besser heißen : \"Lenin - das war der Stalin von gestern\".Immer wieder erscheinen seit einigen Jahren in der demokratischen Tagespresse (z.B. \"Argumenty i fakty\") einzelne Archivstücke, die dies beweisen sollen; auch in den stark nationalistisch gefärbten Zeitun- 370 JHK 1993Sammelrezensionengen (z.B. \"Russkij westnik\") werden Belege für den frühzeitigen Terror der Bolschewiki insbesondere gegen Bauern, Kosaken und Geistlichkeit mit einer zumeist antisemitischen Färbung veröffentlicht.Noch ist allerdings nicht genug Zeit ins Land gegangen, als daß bereits mit gründlichen Untersuchungen über die Politik der Bolschewiki auf der Grundlage der jetzt zugänglichen Partei- und KGB-Archive gerechnet werden könnte. Dazu kommt, daß der Weg zum \"Eingemachten\" der Sowjetgeschichte besonders für ausländische Historiker noch nicht allgemein offen ist.1 Die hier zur Rezension anstehenden westlichen Bücher bringen hinsichtlich der Quellen somit nichts Neues.Schon vom Ausmaß her gewichtig ist die auf vier Bände angelegte Geschichte der Russischenn Revolution von Richard Pipes. Zwei Bände sind bereits in deutscher Übersetzung erschienen und reichen vom Niedergang des Zarenreiches bis zum Machtaufstieg der Bolschewiki (1880-1920).Gewidmet hat Pipes sein Werk den Opfern, und seine Geschichte der Revolution in Rußland zielt vor allem darauf, in Erfahrung zu bringen, warum die Bolschewiki von Anfang an die Absicht verfolgten, für ihren \"neuen Menschen\" auf allen Gebieten, auf dem der Politik wie auf dem der Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, etwas grundsätzlich Neues zu errichten. In deutlicher Anlehnung an Edmund Burkes Deutung der Geschichte der Französischen Revolution gibt Pipes dabei offen zu, daß er nicht beabsichtige, \"wertfrei\" zu argumentieren. Seine konservative Grundhaltung läßt ihn vielmehr immer wieder danach fragen, warum die russischen Revolutionäre, insbesondere die Bolschewiki, gleich ihren französischen Vorgängern und Vorbildern vor der Geschichte das Recht für sich beanspruchten, die Welt auf gewaltsame Weise nach ihren Idealvorstellungen zu vervollkommnen.Die Revolutionen von 1905 und 1917 waren in Rußland nach Pipes in erster Linie das Ergebnis eines unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Staat und Gesellschaft, und die treibenden Kräfte des Umsturzes sind für ihn unter den Intellektuellen zu suchen, die man in Rußland selbst als \"intelligenzija\" zu bezeichnen pflegt. Spätestens seit dem ausgehenden 19. Jh. sei dieser, zumeist in den beiden Hauptstädten St. Petersburg und Moskau lebenden Schicht bewußt geworden, daß von oben keinerlei Reformen mehr zu erwarten seien. Pipes macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, daß diese Haltung gegenüber der Autokratie nicht so sehr das Ergebnis von \"unerträglichen Bedingungen\" als von \"unversöhnlichen Einstellungen\" war. Damit aber war für die Zukunft jegliche Möglichkeit zu friedlichen, auf Kompromisse angelegten und vor allem auf Rechtssicherheit beruhenden Reformen der politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Einrichtungen in Rußland bereits verbaut worden. Obwohl durch die Reformen Alexanders II. (1855-1881) das personalisierte Herrschaftssystem zumindest im Prinzip bereits durch das allgemeine öffentliche Interesse ersetzt worden war, gelang es wegen dieser unversöhnlichen Gegnerschaft in der Folgezeit nicht, die allumfassende Herrschermacht soweit zu begrenzen, daß dadurch auch dieses öffentliche Interesse in der Innen- und Außenpolitik tatsächlich hätte wirksam werden können. Da aber die Möglichkeit politischer Kompromisse wegen der intransingenten Haltung des Zaren von vornherein ausgeschlossen war, ergab sich nach Pipes eine \"wachsende Entfremdung zwischen Herrschenden und Beherrschten\", so daß am Ende nur noch der revolutionäre Umsturz als Ausweg erschien. Da Nikolaus II. (1894-1917) nach der Revolution von 1905 alles daran setzte, um die ihm abgerungenen politischen Zugeständnisse wieder rückgängig zu machen und nach wie vor über Recht und Gesetz zu stehen, konnte sich in Rußland vor dem Weltkrieg kein Regime des Übergangs zu einer konstitutionellen Monarchie entwickeln. Zum Fehlen eines wirksamen öffentlichen Rechts kam vor allem in der bäuerlichen Sphäre noch \"ein allgemein schwach entwickeltes Rechtsempfinden\" sowie \"keine Vorstellung von Eigentumsrechten im römischen Verständnis einer absoluten Verfügungsgewalt über Sachen\".Hierzu Creutzberger, StefanNeltmejer, Ruud: Forschungsarbeit in Moskauer Archiven. Ein Erfahrungsbericht, in: Osteuropa43 (1993) 3. S. 271-279. SammelrezensionenJHK 1993 371Die eigentlich bewegende Kraft in diesem Zustand von öffentlicher und privater Willkür waren für Pipes die radikalen Intellektuellen, denen ihrer Auffassung nach die fehlende Kompromißbereitschaft der Autokratie das Recht gab, den eigenen politischen Willen als absolut zu setzen.Diese nicht nur bei den Sozialisten festzustellende Radikalität sei es dann auch gewesen, die während des Weltkrieges jeglichen Ausgleich mit Nikolaus II. unmöglich gemacht habe. Obwohl der Zar seit 1916 den Forderungen des \"Fortschrittsblocks\" der Duma nach personellen Veränderungen innerhalb der Regierung weitgehend Genüge leistete, waren es nach Pipes insbesondere die Konstitutionellen Demokraten (\"Kadetten\"), die durch ihren Verbalradikalismus verhinderten, daß es im Laufe des Weltkrieges zu politischen Kompromissen kam.Ähnliches stellt Pipes dann auch für die Zeit zwischen Februar- und Oktoberrevolution fest. Die \"Doppelherrschaft\" von Provisorischer Regierung und St. Petersburger Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten habe wiederum politisch tragfähige Kompromisse unmöglich gemacht und damit entscheidend zu jener Radikalisierung der Massen beigetragen, die am Ende nur den Bolschewiki in die Hände spielte. Diese Partei sei aber selbst unter den Sozialisten die bei weitem radikalste gewesen, da sie jegliche politische Mitverantwortung von vornherein abgelehnt habe. Dabei waren es gerade die Bolschewiki, die mit den pragmatischen Parolen nach Land, Frieden und Brot die Forderungen der Massen zu erfüllen versprachen.Im zweiten Band seiner Revolutionsgeschichte kommt Pipes dann direkt auf die Bolschewiki zu sprechen. Weit zurückgreifend bis auf die Anfänge des Bolschewismus geht es ihm um den Nachweis, daß der Führer dieser Partei, Lenin, im Gegensatz zu den anderen Sozialdemokraten in Rußland weder den Willen der Arbeiter noch überhaupt demokratische Entscheidungen zu respektieren bereit gewesen sei. Nach Pipes ging es Lenin nur darum, auf konspirative Weise und ohne Rücksicht auf den Willen der Massen einen politischen Umsturz von oben herbeizuführen. Mit seinen Vorstellungen von einer Partei der Berufsrevolutionäre als Avantgarde des Proletariats sollte die von Natur aus eher unpolitische Arbeiterschaft \"von außen\" für den politischen Umsturz manipuliert werden. Indem Lenin aber\"das demokratische Moment in der Sozialdemokratie\" verwarf, brauchte er zukünftig nicht mehr wie die anderen sozialistischen Parteien auf die politischen Verhältnisse in Rußland Rücksicht zu nehmen. Es kam nur noch auf die eigene Revolutionsbereitschaft an und nicht mehr auf die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse mit Hilfe der Marxschen Theorie. Dies zeigte sich bereits in der Revolution von 1905 und sollte in der von 1917 für Lenin das ausschließliche Prinzip politischen Handels werden, wie seine \"Aprilthesen\" und erst recht sein \"Oktoberputsch\" unter Beweis stellen.Der \"neue Einparteienstaat\" der Bolschewiki - so der Autor - der Prototyp \"linker und rechter Einparteiendiktaturen in Europa wie in der übrigen Welt\" - zeichnete sich in der Folge vor allem dadurch aus, daß Legislative, Exekutive und Judikative \"in den Händen einer privaten Vereinigung lagen, die als \'Regierungspartei\' alle Macht auf sich allein vereinigte, ohne sich dafür auf demokratische Weise legitimieren zu lassen\". Somit sei die \"Sowjet-Demokratie\" nichts anderes gewesen als eine modernisierte Form des alten \"Moskowiter Absolutismus\" hinter einer scheindemokratischen Fassade: \"Von nun an wurde Rußland per Dekret regiert. Lenin beanspruchte für sich dieselben Vorrechte, die der Zar vor 1905 genossen hatte. Sein Wille war Gesetz.\"Der Rote Terror sei dabei von Anfang an \"als unerläßliches Instrument der revolutionären Regierung\" betrachtet worden. Gleich seinem geistigen Vorgänger Robespierre habe der von der Richtigkeit seiner Sache zutiefst überzeugte Lenin den politischen Terror als Mittel zur Prävention genutzt, um alle diejenigen auszurotten, die seinem Entwurf einer besseren Welt im Weg gestanden haben. Bei diesem Massenterror trat nach Pipes das \"revolutionäre Gewissen\" an die Stelle der Gesetzlichkeit: \"Sowjetrußland war der erste Staat in der Geschichte, der formell das Gesetz außer Kraft setzte. Diese Maßnahme gab den Behörden freie Hand, jeden zu vernichten, der ihnen nicht genehm war, und legitimierte Pogrome gegen ihre politi- 372 JHK 1993Sammelrezensionensehen Gegner.\" Nach Pipes brach das bolschewistische Terrorregime über die Bevölkerung wie eine Katastrophe herein und sollte auch in der Folgezeit keiner Normalität mehr weichen. \"Die Revolution war erst der Anfang ihrer Leiden.\"Sieht man von Richard Pipes moralischem Impetus ab, den man nicht unbedingt zu goutieren braucht, ist bei seiner Darstellung der Russischen Revolution vor allem bemerkenswert, daß er zu recht auf das Defizit an demokratischen Entwicklungsmöglichkeiten vor wie nach der Revolution hinweist. Verantwortlich macht er dafür anachronistische politische Strukturen und vor allem auch die Unterentwicklung Rußlands im Bereich des öffentlichen wie des privaten Rechts. Wenig Auskunft gibt er aber darüber, warum der Weg zu einer Konstitution in Rußland vor allem an der Radikalität der dortigen Intellektuellen scheiterte, obwohl gerade dies seine zentrale These ist.Auf knappem Raum verfolgt Bernd Bonwetsch mit seiner Geschichte der Russischen Revolution die Absicht, die sozialen Hintergründe aufzuhellen, die das damalige politische Geschehen bestimmten. So stehen bei ihm nicht die handelnden Personen und ihre politischen Ziele im Vordergrund, sondern die Bauern und Arbeiter. Seine Herausarbeitung der sozialgeschichtlichen Bedingungen soll nach eigener Aussage dazu dienen, \"eine Einführung in grundlegende Probleme der Sozialgeschichte Rußlands von 1861-1917\" zu geben und zugleich die damit in Verbindung stehenden Forschungsprobleme aufzuzeigenBonwetsch widmet seine Aufmerksamkeit zunächst der Bauern- und der Arbeiterschaft vor der Weltkriegs- und Revolutionszeit, um dann den Weltkrieg, die Februarrevolution, die Zeit zwischen den Revolutionen und die Oktoberrevolution - jeweils wiederum unter besonderer Beachtung der sozialen Aspekte abzuhandeln.Seine Beschäftigung mit der Bauernschaft und den Agrarverhältnissen in Rußland beginnt mit der Aufhebung der Leibeigenschaft (1861). Dabei gilt sein Hauptaugenmerk \"der Besonderheit des russischen Dorfes\", dessen Bewohner, wie er zu recht hervorhebt, auf Grund ihrer sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Betätigungen im sozialen Sinne nicht unbedingt immer als Bauern bezeichnet werden können: \"Rein landwirtschaftliche Tätigkeit war für die überwiegende Zahl russischer Bauernfamilien die Ausnahme. Charakteristisch war vielmehr die Mischung von eigener Landwirtschaft und Nebentätigkeit verschiedenster Art, dem promysel. Das war vor 1861 so und verstärkte sich danach noch.\" Nicht die kapitalistische Entwicklung der Landwirtschaft und dadurch hervorgerufene sozialökonomische Differenzierungsprozesse waren nach Bonwetsch für \"die Krise auf dem Dorfe\" verantwortlich, sondern die auch nach der Bauernbefreiung fortbestehende Abhängigkeit vom Gutsbesitzer. Inwieweit die Stolypinschen Agrarreformen nach der Revolution von 1905 daran etwas Wesentliches änderten, läßt sich - so der Autor - nicht eindeutig belegen; zumindest habe die unverkennbare Förderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Teiles der Bauern nicht zur erwünschten politischen Stabilisierung auf dem Lande geführt.Überhaupt sei es schwer, die allgemeine Lage der Bauern zu beurteilen, weil deren Erwerbsquellen eben nicht ausschließlich auf das Anteiland beschränkt waren. Dies ergab sich daraus, \"daß die zunehmende Arbeitsteiligkeit der Wirtschaft nicht mit einer zunehmenden Trennung der Sozialsphären Stadt und Land einhergeht\". Bonwetsch kommt dabei zu dem Schluß, daß die Bauern in Rußland in ihrer Masse keinem allgemeinen Verelendungsprozeß unterlagen, sondern im Gegenteil eher ihre wirtschaftliche Situation verbessern konnten, wenngleich \"viele Bauernwirtschaften nicht elastisch genug waren, um die periodischen Mißernten aufzufangen\". Diese sich daraus ergebende ständige Gefährdung ihres bescheidenden Wohlstandes barg somit sozialen Explosionsstoff in sich.Bei der Untersuchung des Protestpotentials der Arbeiterschaft geht der Verfasser wiederum von einer sozialen Unschärfe aus. So wie der Bauer nur eine \"ständisch-administrative Kategorie\" war, läßt sich der Fabrikarbeiter nur \"nach polizeilich-administrativen Kriterien\" definieren. Damit ergibt sich die Schwierigkeit, daß die bloße administrative Zuordnung kaum zu erkennen gibt, ob und inwieweit eine Tätigkeit im gewerblich-industriellen Bereich auch tatsächlich eindeutig die Zurechnung zum Industrieproletariat Sammelrezensionen_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _JHK 1993 373erlaubt. Dies nicht zuletzt deshalb. weil die ländliche Kleinindustrie, das Kustar-Gewerbe, wie vor allem die Textilindustrie unter Beweis stellen, keineswegs ein von der städtischen Großindustrie mehr und mehr überholter Gewerbezweig gewesen zu sein. \"Urbanisicrung und Industrialisierung verlaufen in Rußland mithin nicht synchron\". Zwischen Groß- und Kleinindustrie existierte \"keine scharfe Grenze\", so daß der russische Fabrikarbeiter sich \"irgendwo zwischen Feld und Fabrik\" befunden habe, wobei ihm seine \"Zwitterexistenz\" ganz normal vorgekommen sei.In bezug auf die Arbeiterbewegung zwischen l1905l 9 l 4 selbst bedeutete dies nach Bonwetsch freilich nicht, daß der Arbeiter im ländlichen Bereich, im Vergleich zu demjenigen im städtischen, konservativer war. Vielmehr läßt sich gerade bei ihm eine höhere \"Risikobereitschaft\" als beim klassischen Industriearbeiter feststellen.Soziale und ökonomische Unterentwicklung bargen also bereits vor dem Weltkrieg revolutionären Zündstoff in sich, ohne daß dabei vor 1914 in Rußland von einer \"bürgerlichen Klassengesellschaft westeuropäischen Musters\" die Rede sein konnte. Der Funke, der die Februarrevolution auslöste, entsprang aber dann in erster Linie der kriegsbedingten Teuerung. Allerdings läßt sich für Bonwetsch die offene Streikbereitschaft der städtischen Arbeiterschaft nicht ausschließlich auf die wirtschaftliche Misere zurückführen, womit er freilich nicht behaupten möchte, daß dieses Fabrikproletariat unbedingt unter der Führung der Bolschewiki gestanden habe.Auf jeden Fall läßt sich für den Verfasser während der Februarrevolution bei den \"Massen\" kein eindeutiger politischer Wille irgendeiner sozialistischen Partei feststellen, zumal das alte Regime sowieso eher an seiner eigenen Schwäche als durch bewußtes revolutionäres Handeln zugrunde gegangen sei.In der Zeit der \"Doppelherrschaft\" zwischen Februar und Oktober konnte die Spontaneität der \"Massen\" weder von der Provisorischen Regierung eingeschränkt, noch vom St. Petersburger Sowjet kanalisiert werden. Die Bolschewiki hingegen entzogen sich jeglicher politischer Verantwortung. Für Bonwetsch ist es in diesem Zusammenhang wichtig hervorzuheben, daß die im Verlaur des Jahres 1917 immer weiter Zl!nehmende Radikalisierung in Stadt und Land keine Folge bewußter bolschewistischer Agitations- und Propagandatätigkeit war, sondern \"aus wirklicher Not und rapider Verschlechterung der Lebensbedingungen herrührte\". Aber diese politische Radikalisierung insbesondere der hauptstädtischen Arbeiter sei es am Ende gewesen, die den Bolschewiki zum \"Oktoberumsturz\" verholfen habe.Dieser Umsturz aber ging auf das Drängen Lenins zurück. \"Die Macht fiel den Bolschewiki zu, weil eigentlich niemand sie ihnen strcilig machte.\" Bonwelsch führt die Leichtigkeit, mit der die Bolschewiki an die Macht kamen, auf den \"plebiszitären Grundzug\" ihrer Politik zurück. Sie besaßen zumindest zeitweise \"das politische Mandat der Arbeiter und Soldaten\", aber nicht \"das Mehrheitsmandat der Bevölkerung\". wie die Wahlen zur Konstituante unter Beweis stellten. Deren problemlose Auflösung im Januar 1918 führt der Autor darauf zurück, daß die damalige Situation nicht so war, \"daß man für abstrakte Prinzipien wie parlamentarische Demokratie auf die Straße ging\".Zusammenfassend kommt Bonwetsch zu dem Schluß, daß Rußland am Vorabend der Revolution \"über eine eigentümliche soziale Struktur verfügte wie sie in keinem anderen europäischen Land ähnlicher BeBedeutunvgorzufinden war\". Der soziale Friede sei bereits vor dem Kriege \"außerordentlich labil\" gewesen und sei danach noch weit mehr gefährdet worden, so daß es am Ende nur noch eines kleinen Anstoßes bedurfte, um die Revolution auszulösen. Da das alte Regime fast von selbst in sich zusammenbrach, ohne daß gleichzeitig eine demokratische Alternative dauernd Fuß fassen konnte, sei von den Rechten bis zu den gcmjßigten Linken der Kredit verspielt worden, \"den die neue Demokratie an der sozialen Basis ursprünglich hatte\". Dies habe letztendlich die politische Machtergreifung durch die Bolschewiki gefördert deren sozialökonomische Konsequenzen in bezug auf die Masse der Bevölkerung aber längst nicht so tiefgreifend waren, wie man in Anbetracht der rigorosen politischen Veränderungen eigenllich annehmen müßte. Grundstürzcnd seien diese erst mit Stalins \"Revolution von oben\" vorgenommen worden. 374 JHK 1993SammelrezensionenSetzt man sich kritisch mit Bonwetschs Darstellung auseinander, so kann nicht bestritten werden, daß durch den sozialhistorischen Aspekt die Ereignisse und Personen der russischen Revolutionsgeschichte in ein gesellschaftliches Beziehungsgeflecht gestellt werden. So wird der Willkürlichkeit der Interpretation, besonders der aus der eigenen ideologischen Sichtweise, der Boden entzogen. Es läßt sich aber nicht verhehlen, daß dieser Ansatz gar nicht soweit vom ideologiegeschichtlichen weg ist, so daß durch die Hintertür wiederum das Ideologische eintreten kann. Die Crux liegt dort, wo von sozialökonomischen Entwicklungen gesprochen wird, ohne daß dem wirtschaftlichen Aspekt als selbständiger Größe allzu große Aufmerksamkeit gewidmet wird.John Daborn will mit seinem Buch hingegen nur Handreichungen für Studenten liefern, um ihnen die Möglichkeit einer Einführung in die \"Hauptprobleme\" von Revolution und Gegenrevolution in Rußland in den Jahren 1917 bis 1924 zu geben. Im ersten Teil schildert er die historischen Vorgänge und Probleme dieser Jahre und macht dazu bibliographische Angaben, um dann zu den Hauptpunkten eine geschickte Auswahl von Quellen zu bringen, zu denen Fragen formuliert werden. Die Quellen sind sehr unterschiedlicher Natur und mit Statistiken und Bildern angereichert, so daß im Grunde kaum ein Wunsch offen bleibt. Kurzbiographien der politischen Hauptakteure, ein Glossar und ein Stichwortverzeichnis runden diesen gelungenen Reader ab.Der dem Martov-Biographen Israel Getzler gewidmete Sammelband über die Russische Revolution enthält 18 Beiträge von Historikern aus der westlichen Welt, die z.T. wesentliche Impulse für die Erforschung der russischen Revolutionsgeschichte gegeben haben. Den Fragen nachgehend, inwieweit nach der Februarrevolution und dem Sturz der Autokratie in Rußland der spätere Sieg der Bolschewiki bereits unausweichlich gewesen sei oder ob es außer der Alternative einer rechten Diktatur der Generäle auch die der Errichtung eines parlamentarischen Systems gegeben habe, ob der Stalinismus bereits durch den Sieg Lenins im Oktober grundgelegt worden sei, werden verschiedene thematische Annäherungen versucht.Zur Frage nach den Alternativen zur Oktoberrevolution sieht sich Jonathan Franke! außerstande, eine absolute Aussage zu machen. Dies möchte er aber nicht so verstanden wissen, als seien keine anderen Entwicklungen in Rußland bis zum Ende des Bürgerkrieges möglich gewesen.Israel Getzler beschäftigt sich mit dem Beitrag der Räte 1917 in Rußland zur Entwicklung demokratischer Verhaltensweisen. Seiner Auffassung nach wurden sie zu \"quasi- parlamentarischen Körperschaften\", in denen parlamentarische Spielregeln beachtet und demokratischer Pluralismus praktiziert wurde. Erst die Bolschewiki gaben den Sowjets mit der Forderung \"Alle Macht den Räten\" einen antidemokratischen Grundzug, um sie dann nach dem Oktoberumsturz zu bloßen administrativen Organen verkommen zu lassen.Donald J. Raleigh demonstriert am Beispiel Saratov die politische Machtbildung in der Provinz im Revolutionsjahr 1917 und kommt zu dem Schluß, daß sich dort ähnlich wie in Petersburg von Anfang an eine \"Doppelherrschaft\" herausgebildet habe, bis dann die Bolschewiki seit dem September die Oberhand im örtlichen Sowjet gewannen.Das Problem von Spontaneität und Revolution im Zusammenhang mit dem Oktoberumsturz der Bolschewiki wird von Rex A. Wade am Beispiel der Roten Garden untersucht, die als bewaffnete Arbeitermiliz 1917 eine gewichtige Rolle spielten. Ihr mehr spontaner Charakter machte eine direkte politische Einflußnahme von außen schwierig. Die Bolschewiki erkannten zwar ihren Wert, blieben ihnen gegenüber aber immer äußerst skeptisch eingestellt. Wade schließt daraus, daß die bolschewistische Führung im Hinblick auf die bewaffnete Arbeitermacht bis zuletzt ohne feste Konzeption war. Auch nach dem Oktoberumsturz konnten sich die Bolschewiki nicht für eine allgemeine Volksbewaffnung erwärmen. Sie nutzten deshalb die Roten Garden nur als Kader für ihre eher traditionellen militärischen Mustern entsprechende Rote Armee. SammelrezensionenIHK 1993 375Allan Wildman beschäftigt sich mit der Rolle der Generalstabsoffiziere während des Kornilov-Putsches. Er weist darauf hin, daß zwar deren Unterstützung des Umsturzversuchs relativ groß war, sie aber die zumeist indifferent bleibenden Frontoffiziere nicht auf ihre Seite ziehen konnten.John Channons Augenmerk gilt den Bauern zwischen Februar und Oktober 1917. Dabei hebt er hervor, daß ihre Landforderungen in engem Zusammenhang mit der jeweiligen \"regionalen agrarkulturellen Spezialisierung\" standen. Bei der von den Bauern selbst vorgenommenen \"schwarzen Umverteilung\" habe es sich vor allem um eine möglichst gerechte Verteilung des Bodens untereinander gehandelt. Es sei dabei um die Beseitigung allen Privatlandes, nicht nur des Gutsbesitzerlandes gegangen, d.h. letzten Endes auch um eine Revidierung der Stolypinschen Agrarreformen zugunsten der traditionellen bäuerlichen Gleichheitsvorstellungen. Da somit keinerlei Überlegungen im Hinblick auf eine Modernisierung der Landwirtschaft im Vordergrund gestanden haben, war laut Channon frühzeitig der Konflikt mit den Bolschewiki vorprogrammiert, die zunächst aber die Handlungsweise der Bauern sanktionierten.Diane P. Keonker und William G. Rosenberg beschäftigen sich mit Anspruch und Wirklichkeit des Arbeiterprotestes zwischen Februar und Oktober 1917. Sie zeigen in diesem Zusammenhang auf, daß die Arbeiterstreiks sowohl ökonomischen als auch politischen Charakter hatten, in der Hauptsache aber auf Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen ausgerichtet blieben.Das Verhalten der Arbeiterschaft beim bolschewistischen Oktoberumsturz beleuchtet David Mandel am Beispiel der Textilregion Iwanowo-Kineschma. Die dortige starke Radikalisierung innerhalb der Arbeiterschaft arbeitete den Bolschewiki in die Hände und zeigt zugleich auf, daß diese bei den gegenüber den Metallarbeitern wenig spezialisierten Textilarbeitern über eine große Anhängerschaft verfügt haben.Am Beispiel der \"Industriellen Progressisten\" untersucht Ziva Galili die Frage, warum sich nach der Februarrevolution keine kapitalistische Wirtschaft im westlichen Sinne in Rußland durchsetzen konnte. Die besonders von Moskauer Industriellen unterstützte Partei der Progressisten trug dabei mit ihrer betont antisozialistischen Haltung, die mit einem erheblichen Unverständnis für soziale Probleme einherging, für Galili nicht unwesentlich zur Destabilisierung der politischen Verhältnisse und damit auch ungewollt zur Förderung des bolschewistischen Einflusses unter den Arbeitern bei.Ronald Grigor Suny betrachtet das Verhältnis zwischen Klassen- und Nationalbewußtsein. Er kommt zu dem Schluß, daß in Rußland das nationale Phänomen während der Revolutionszeit insbesondere eine Angelegenheit der nichtrussischen Intelligenz in den Randgebieten war. Vor allem innerhalb der bäuerlichen Bevölkerung seien Fragen von Klassen- und Nationalbewußtsein kaum reflektiert worden.Den georgischen Sozialdemokraten, die in der Regel den Menschewiki angehörten, gilt die Aufmerksamkeit von Stephen F. Jones. Ihre großen regionalen Erfolge führt Jones darauf zurück, daß sich bei ihnen zur Abwehr russischer Hegemonialansprüche - wie später in der \"Dritten Welt\" - \"Sozialismus, Nationalismus und Agrarrevolution\" miteinander verbunden haben.Ingeborg Fleischhauer macht in ihrem Beitrag über die Rolle der Deutschen während der Revolution darauf aufmerksam, daß bereits im Krieg das traditionell gute Verhältnis zwischen Autokratie und Deutschen zerbrochen sei. Nach der Februarrevolution kämpften die Deutschen für die Wiederherstellung ihrer alten Rechte und insbesondere für ihre Rückführung in die Gebiete, aus denen sie während des Krieges evakuiert worden waren. Zugleich läßt sich bei ihnen eine Hinwendung zu demokratischen Vorstellungen im Rahmen nationaler Selbstbestimmung feststellen. Den Bolschewiki standen sie später nicht nur als Feinde gegenüber; zumindest solange nicht, wie die Bolschewiki ihre Freiheits- und Gleichheitsforderungen nicht durch ihren Roten Terror völlig desavouierten.Um Lenins Haltung zum Sozialismus und zum Staat im Jahre 1917 geht es Neil Harding. Dabei kommt er zu dem Schluß, daß Lenin keine feste Vorstellung von der \"Diktatur des Proletariats\" für Rußland gehabt habe. Im Verlauf des Jahres 1917 sei es ihm vor allem um die Radikalisierung der Revolution gegan- 376 JHK 1993Sammelrezensionengen, um im Gleichschritt mit der sozialistischen Weltrevolution zu bleiben, deren Ausbruch im Westen von ihm erwartet wurde.Robert Service untersucht die Haltung der Bolschewiki zur Frage des Krieges. Er schlußfolgert, daß Lenin mit seiner ablehnenden Haltung zur Weiterführung des Krieges vor dem Oktober nicht die Frageeines Krieges zu Sicherung der Revolution und vor allem zur Ausweitung der Revolution nach Westen überhaupt ausgeschlossen habe.Mit Lenins Regierungsarbeit in den ersten Monaten nach der Oktoberrevolution beschäftigt sich John Keep. Dabei vermerkt er, daß Terror als Mittel staatlicher Repression frühzeitig eingesetzt wurde.David Longley geht der Frage von Spontaneität oder politischer Führerschaft während der Februarrevolution nach. Er warnt davor, daß eine oder das andere allzu apodiktisch zu betrachten, zumal auch die Memoirenliteratur zu diesem Punkt mit äußerster Skepsis zu lesen sei.Edward Actons Aufmerksamkeit gilt den linksextremistischen Anhängern der Revolution und dabei insbesondere ihrer Behandlung in der neueren westlichen Forschung. Daß sich dort der Blick für die Initiativen \"von unten\" geweitet hat, wird seiner Meinung nach eine bessere Annäherung an die revolutionäre Wirklichkeit in Rußland mit sich bringen.Baruch Knei-Paz versucht schließlich eine unorthodoxe Begegnung mit dem russischen Marxismus und kommt zu dem Schluß, daß bei Lenin das \"jakobinische Element\" am Ende den Sieg über den Marxismus davongetragen habe. Dadurch aber sei erst der Stalinschen Modernisierungsdiktatur der Weg bereitet worden.Zum Schluß noch zwei Bücher: zum einen eine Doktorarbeit, zum anderen die Erinnerungen Vladimir Nabokovs, des Vaters des bekannten Schriftstellers gleichen Namens.Artur Aschmoneits Dissertation hat die Rolle des Revolutionären Militärkomitees und insbesondere die Trotzkis in der Oktoberrevolution zum Gegenstand. Nach seiner Auffassung hat weder die sowjetische Historiographie recht mit ihrer Überbetonung der Führungsrolle der Partei noch die westliche Forschung mit ihrer \"Mystifizierung einzelner Funktionäre, vor allem Trockijs\". Vielmehr müsse der Wirkungszusammenhang zwischen Petrograder Sowjet, Spontaneität \"von unten\" und bolschewistischer Revolutionsstrategie gesehen werden.Nabokov, von Hause aus Jurist und aus altem Adel tatarischer Herkunft, schloß sich frühzeitig der Konstitutionell-Demokratischen Partei (\"Kadetten\") an, war Abgeordneter der Duma und Mitherausgeber der liberalen Tageszeitung \"Retsch\". Nach der Februarrevolution wurde er Chef der Kanzlei der Provisorischen Regierung. Diese Funktion, die er wegen Differenzen mit Kerenskij nach der \"Aprilkrise\" aufgab, verschaffte ihm unmittelbare Einblicke in alle Regierungsgeschäfte des ersten Kabinetts. Sein nüchterner Bericht über diese Zeit, insbesondere seine Charakteristik der handelnden Personen machen seine Memoiren besonders wertvoll. Interessant sind auch die Erinnerungen an den bolschewistischen Oktoberumsturz sowie an seine Mitarbeit bei der Vorbereitung der Wahlen zur Konstituante. SammelrezensionenLutz Häfner (Bielefeld)JHK 1993 377Stalin und der StalinismusBoffa, Giuseppe: The Stalin Phenomenon. Comell University Press, Ithaca, London 1992, XII, 205 S.Conquest, Robert: Stalin. Der totale Wille zur Macht. List Verlag, München, Leipzig 1991, 430 S.Ruge, Wolfgang: Stalinismus - eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1991, 136 S.Wolkogonow, Dimitri: Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt. Econ Taschenbuch Verlag, Düsseldorf, Wien 1993, 832 S.Selbst vier Dezennien nach dem Tode J.W. Stalins ist das Interesse an dem von ihm entscheidend geprägten Vierteljahrhundert keineswegs erlahmt. Vielmehr hat die historische Forschung - nicht zuletzt infolge des politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesses in Osteuropa, der dort zu einer Öffnung der Archive führte - eine beträchtliche Intensivierung erfahren. Aus der Literaturflut zum Thema \"Stalin/ Stalinismus\" sollen im folgenden vier Titel, zwei Biographien und zwei systemanalytische Werke, vorgestellt werden, von denen je eines aus der Feder - fällt man in die nun anachronistischen Kategorien des \"Blockdenkens\" zurück- eines aus dem Westen bzw. aus dem \"Ostblock\" kommenden Autoren stammt.Robert Conquest - tätig an der renommierten kalifornischen Stanford University - zählt international zu den intimsten Kennern des Stalinismus. Seine Reputation als ausgewiesener Spezialist der Stalin-Ära gründet sich auf zahlreiche einschlägige Veröffentlichungen wie z.B. \"The Great Terror\", \"Stalin and the Kirov Murder\", \"The Harvest of Sorrow\". Da zu Conquests Oeuvre eine \"V. I. Lenin\" betitelte biographische Skizze gehört, war es naheliegend, daß ein umfangreiches Werk über die Person folgen würde, die im Verständnis Conquests ein Pivot bei der Etablierung des Terrors war und einer ganzen Epoche ihren Stempel aufgedrückte.Biographien über Stalin sind Legion.1 In einem diametral entgegengesetzten Verhältnis zu ihrer Zahl stand jedoch bislang die verfügbare Quellenbasis, verbargen sich doch authentische Informationen hinter einem Dickicht von Legenden, Mythen und kaum verhohlenen Propagandalügen. Da der Zugriff auf russische Archive - sieht man einmal von dem Sonderfall der materialgesättigten Darstellung Wolkogonows ab - bis zum Erscheinen der Arbeit Conquests restriktiv gehandhabt wurde, reduziert sich eine seriöse Biographie auf eine präzise Präsentation des zugänglichen Materials, auf der dann eine Interpretation aufbaut. Dies alles leistet Conquests biographische Studie, die vom methodischen Zugriff her konventionell zu nennen ist. Was allerdings unterbleibt, ist die Analyse der Interaktion von konkurrierenden Bürokratien einerseits und Führerfigur andererseits, die ein wesentliches Element einer politischen Biographie Stalins sein sollte. Insofern kann Conquests Arbeit als ein konzeptioneller Antipode zur \"revisionistischen Schule\" verstanden werden, die - wie J. Arch Getty dies paradigmatisch praktiziert hat - strukturelle, institutionelle und ideologische Faktoren in den Mittelpunkt ihrer Analyse stellt und dabei vor allem den voluntaristi-Ulam, A.B.: Stalin. The Man and His Era. New York, London 1973; Tucker, R.C.: Stalin as a Revolutionary, 1879-1929. A Study in History and Personality. Bd. 2: Stalin in Power, 1929-1941, New York 1974 u. 1990; Souvarine, B.: Staline. Apercu historique du bolchevisme. Paris 1977; Antonow-Owssejenko, A.: Stalin. Porträt einer Tyrannei. Berlin 1986; McNeal, RH.: Stalin. Man and Ruler. Basingstoke, London 1988; Rancour-Laferriere, D.: The Mind of Stalin: A Psychoanalytical Study. Ann Arbor, Mich. 1988. Rancour erhebt allerdings nicht den Anspruch, eine historische Untersuchung respektive Biographie verfaßt zu haben. 378 JHK 1993Sammelrezensionensehen Gestus sowie den inkonsequenten und häufig widersprüchlichen Charakter vieler Entscheidungen Stalins in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre betont.Trotz seiner in der Einleitung geäußerten Absicht, \"Material, das eher zur Länge als zum Gehalt der Studie beitrug, wieder herauszunehmen\" (12), ufert Conquests Geschichtsnarration teilweise in eine Detailflut aus, die ihrerseits verantwortlich für manche Wiederholungen und Redundanzen ist (37f., 78). Auch die Diktion ist nicht immer präzise: Die Februarrevolution 1917 wird auf einige \"wenige Tage der Hungeraufstände\" reduziert (88), die vorrevolutionäre bolschewistische Partei verkommt zu einer \"kleinen sendungsbewußten Sekte\" (128) - eine Terminologie, die an Richard Pipes erinnert. Weitere Gravamina sind der Verzicht auf Anmerkungen und das Fehlen eines Literaturverzeichnisses, das durch die räsonierende bibliographische Notiz nicht kompensiert werden kann.Bei der von Wolkogonow verfaßten Biographie handelt es sich um die Taschenbuchversion der 1989 im Claassen-Verlag publizierten deutschen Ausgabe. Bei ihrem Erscheinen in der damaligen Sowjetunion löste diese auf umfangreichen Archivstudien basierende Arbeit noch eine Sensation aus, handelte es sich doch um die erste umfangreiche kritische Auseinandersetzung mit Stalin und seiner Zeit. Vieles von dem, was für russische Augen neu war, gehörte aufgrund der intensiven Auseinandersetzung der westlichen Historiographie bereits zum Basiswissen, dem Wolkogonow zwar einige Details hinzufügen, es aber nicht grundsätzlich zu revidieren vermochte.Dem Verfasser gelang es nicht immer, sich der Orthodoxie sowjetischer Historiographie zu entziehen, wie folgende Textpassagen verdeutlichen: Der Molotow-Ribbentrop-Pakt wird gerechtfertigt, weil dadurch - wie Wolkogonow suggeriert - eine Antikomintern-Koalition unter Einschluß Frankreichs und Großbritanniens verhindert worden sei! Der Einmarsch der Roten Armee in die Ostgebiete Polens erscheint als Befreiungsaktion, die Annexion der baltischen Staaten wird mit dem Satz abgetan, \"die Völker des Baltikums stellten die Sowjetmacht [...] wieder her\" (530). Obgleich die Biographie in Zeiten von \"glastnost\"\' und \"perestrojka\" erschien, blieb Wolkogonow zu einem Gutteil in anachronistischen und verkrusteten Denkschemata verhaftet, wie z.B. die Darstellung der Person Trotzkis belegt, den der Autor als \"naiven Propheten und[...] Möchtegerndiktator\" bezeichnet (143). Mehr noch, der Verfasser geht sogar so weit zu behaupten, daß Trotzki durch seine unablässige Kritik an Stalin dessen Autorität gesteigert und damit erst seinen Aufstieg zum Diktator ermöglicht habe (208). Dahinter steht als Quintessenz letztlich, daß Trotzki die Quelle allen Übels gewesen sei, das unter Stalin zur grausamen Realität wurde. Es handelt sich um einen Versuch, die historische Schuld von Stalin abzuwälzen und seinem unterlegenen Kontrahenten aufzubürden. Wenn Wolkogonow die Kollektivierung der Landwirtschaft partiell rechtfertigt, weil sie notwendig gewesen sei, um ein rückständiges und von kapitalistischen bzw. aggressiven Staaten eingekreistes Land in einen Industriestaat zu transformieren, befindet er sich in der Gesellschaft prominenter westlicher Autoren wie z.B. Alec Nove und Theodore von Laue, die Stalins Entwicklungsdiktatur in sozialer und menschlicher Hinsicht als ebenso kostspielig wie katastrophal charakterisierten, aber dennoch ihre Effektivität bei der Transformation einer rückständigen agrarisch strukturierten Gesellschaft in einen modernen Industriestaat betonten.Noch radikaler als bei Wolkogonow fiel das Verdikt gegen den Stalinismus bei Wolfgang Ruge aus. Ruge, bis zu seiner Emeritierung 1983 Abteilungsleiter im Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, hat in seinem Spätwerk, das unmittelbar nach dem Zusammenbruch der DDR erschien, rigiros mit dem Stalinismus, unter dem er mehrere Jahre in Arbeitslagern verbrachte, abgerechnet, ohne jedoch nachdrücklich mit der sozialistischen Ideologie marxistischer Prägung zu brechen.In seiner Monographie versucht Ruge, soziale Strukturen und Denkansätze, die den Stalinismus in Sowjetrußland prädisponierten, aufzuzeigen. Zu diesem Zweck greift er bis auf das 19. Jahrhundert zurück, hebt aber besonders auf die Leninsche Konzeption der Elitepartei ab, die der Ausprägung einer umfassenden innerparteilichen Demokratie, gleichsam eines Systems der \"checks and balances\" zuwiderlief. SammelrezensionenJHK 1993 379Dieser Parteiaufbau, von Trotzki bereits 1904 und später von Rosa Luxemburg als zutiefst undemokratisch kritisiert, begünstigte die Errichtung einer Parteidiktatur im Namen der Sowjets, wie sie bereits im Sommer 1918 mit der Ausschaltung der politischen Opposition etabliert wurde. Bemerkenswert dabei war, daß sich die Gewaltanwendung nicht allein auf einen \"ökonomisch\" definierten \"Klassenfeind\", die \"Bourgeoisie\", beschränkte, sondern letztlich politisch motiviert war und sich auf alle Individuen und Organisationen erstreckte, die nicht zumindest mit den Bolschewiki eng kooperierten. Hinzu kam ferner, daß in der Rätetheorie der Gedanke der Gewaltenteilung nicht vorgesehen war, so daß auch hier - erst recht vor dem Hintergrund der extremen Zentralisierung des Staatsaufbaus in Rußland - eine Kontrolle der exekutiven Gewalt nur marginal ausgeprägt war.Von den knapp 140 Seiten sind weniger als die Hälfte der Zeit nach Lenins Tod gewidmet, die Ruge in zwei Stadien unterteilt, nämlich den \"Beginn der Stalin-Ära\" mit dem Jahr 1924 und den \"klassischen Stalinismus\" seit 1929. Diese zweite Periode versieht Ruge, seit dem Attentat auf S.M. Kirow am 1. Dezember 1934, mit dem Adjektiv \"ausgereift\".Ruges Darstellung unterscheidet sich zwar fundamental von früheren in der DDR zur sowjetischen Geschichte der Jahre 1924 bis 1953 erschienenen Veröffentlichungen; für den westlichen Leser bleibt der Erkenntnisgewinn jedoch gering. Völlig unzureichend ist Ruges Definition von Stalinismus, als eine \"extreme Ausartung der vorrangig auf Gewalt gegründeten Herrschaftsmethode [...], die es in weniger oder mehr ausgeprägter Form in allen Gesellschaftsordnungen nach der Urgesellschaft gegeben hat\" (113). Mit dieser undifferenzierten Definition verliert der \"Stalinismus\" als analytisches Instrument jeden Nutzen und verkommt zu einer inoperablen Kategorie.Hierauf weist Giuseppe Boffa, Senator und ehemaliges ZK-Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens, hin. Bei aller Kontroversität seiner inhaltlichen Füllung betont Boffa die spezifische Bedeutung des \"Stalinismus\" als Terminus zur Unterscheidung und Abgrenzung von anderen geschichtlichen Phänomenen des 20. Jahrhunderts, die im Kontext der Ereignisse des Jahres 1917 in Rußland zu sehen sind: So hebt sich der Stalinismus 1. vom Bolschewismus, aus dem er hervorging, 2. von der kommunistischen Weltbewegung und 3. von autoritären Regierungen und Bewegungen ab (190).In seiner 13 Kapitel umfassenden Studie stellt Boffa neun Stalinismustheorien - so z.B. die Kontinuitäts-, die Totalitarismus-, die Entwicklungsdiktaturtheorie - vor und überprüft sie auf ihre Validität. Gegenüber denen, die eine ungebrochene Kontinuität vom Leninismus zum Stalinismus konstatierten, führt Boffa ins Feld, daß unter Stalin ein unverhohlener Angriff auf fundamentale Züge der Revolution des Jahres 1917, ihrer Ideen, Ideale und politischen Orientierungen stattgefunden habe, an deren Stelle neue soziale, politische und institutionelle Normen getreten seien.Als wesentliche Elemente des Stalinschen Ideenguts nennt Boffa die maximale Stärkung des Staates (als letztlich einziger Ausdruck der Gesellschaft), die planwirtschaftliche Organisation der gesamten Wirtschaft, die zu einem Mangel an Dynamik in allen mit ihr verbundenen Bereichen des menschlichen Lebens führte, die Organisation der Partei in der Form eines militärischen Ordens sowie ihre Identifikation mit dem Staat, schließlich die Vereinnahmung aller Institutionen - von der staatlichen Administration, über Massenorganisationen bis hin zu den Medien als Transmissionsriemen zur Ausführung \"von oben\" kommender Direktiven.Boffa sieht den Stalinismus nicht als typisch russisches Phänomen, sondern betont seine internationale Bedeutung, so z.B. für die Länder der Dritten Welt, die für den Stalinismus typische Elemente wie die Betonung 1. des Nationalismus über den Internationalismus, 2. der Notwendigkeit einer forcierten industriellen Entwicklung gegenüber sozialistischen Idealen und 3. des autoritären Führerprinzips gegenüber demokratischer Partizipation übernommen haben.Trotz kleinerer Wiederholungen ist der systematische Aufbau der Monographie zu begrüßen, weil sie dem Leser so einen schnellen Zugriff auf die einzelnen theoretischen Ansätze erlaubt. Zu beklagen ist ne- 380 JHK 1993Sammelrezensionenben dem Fehlen eines Literaturverzeichnisses indes, daß lediglich das vorletzte, aus dem Jahr 1992 stammende Kapitel, das sich mit der innerrussischen Debatte des Stalinismus seit 1985 beschäftigt, den augenblicklichen Forschungsstand widerspiegelt. Ansonsten liegt der Übersetzung die nicht aktualisierte 1982 erschienene italienische Originalfassung zugrunde. Folglich unterbleibt z.B. eine kritische Auseinandersetzung mit der Stalinismusdefinition von Graeme Gill.2 Nichtsdestoweniger ist die Übersetzung von Boffas Buch zu begrüßen. Als einführende konzise Orientierungshilfe über die verschiedenen Stalinismustheorien ist es gut geeignet.Rüdiger Kipke (Siegen)N ationalitätenkonflikteBib6, 1stvdn: Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei. Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1992,117 s.Meyer, Gert (Hrsg.): Nationalitätenkonflikte in der Sowjetunion. PapyRossa Verlag, Köln 1990, 310 S.Grotzky, Johannes: Konflikt im Vielvölkerstaat. Die Nationen der Sowjetunion im Aufbruch. Verlag Piper, München 1991, 201 S.Die kleine Schrift von Istvan Bib6 - ein ungarischer Jurist und Historiker (1911 bis 1979), während des Volksaufstandes 1956 Minister in der Regierung Imre Nagy - ist 1946 auf ungarisch erschienen und liegt jetzt in deutscher Übersetzung vor.Der Autor beschreibt zunächst aus seiner Sicht die territorialen Konflikte, nationalistische Aggressivität, den Mangel an demokratischer Kultur, Anspruchsdenken und wechselseitigen Haß der Völker in Mittel- und Osteuropa, in jenem Gebiet, \"das sich östlich des Rheins zwischen Frankreich und Rußland erstreckt\" (42). Im Kern beziehen sich seine Aussagen aber auf die Länder Ungarn, Polen und Tschechoslowakei. Die spezifische Lage dieses Raumes sieht er dadurch gekennzeichnet, daß sich die Nationen nicht durch historische Gegebenheiten, sondern ethnisch und sprachlich voneinander abgrenzen. Eine Konsolidierung der Region kann daher nur erreicht werden durch Grenzziehung zwischen Nationen, die von diesen Kriterien geleitet wird. Diese Erkenntnis \"hat auch eine neue und in seinen Auswirkungen erschrekkende Lösung ins Spiel gebracht: \"die Aussiedlung und den Bevölkerungstausch\" (96).Bib6 schreibt aus politischer Überzeugung; vieles von seinen Positionen lag im Jahre 1946 und liegt erst recht heute fern der politischen Wirklichkeit. Anderes wiederum ist angesichts der Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien und in der früheren Sowjetunion - für beide kommunistischen Vielvölkerstaaten findet er ausgesprochen positive Worte - von hoher Aktualität.2 Gill, G.: The Origins of the Stalinist Political System. Cambridge 1990 (Soviet and East European Studies, 74). Gill begreift den Stalinismus als ein System personaler Diktatur bei gleichzeitig mit ihr korrespondierender Insuffizienz und Schwäche politischer Institutionen, das sich sukzessive und nicht parallel in den Bereichen von Politik, Ökonomie, Gesellschaft und Kultur herausgebildet habe. Der Prozeß der Stalinisierung des gesamten Lebens war erst mit der Konsolidierung der stalinistischen politischen Ordnung im Jahr 1937 abgeschlossen. Als konstitutiv für den Stalinismus und zugleich Spezifikum differentia von nichtstalinistischen Regimen habe die Transformation des Terrors von einem Instrument der Politik zum Regierungsstil zu gelten. Sammelrezensione11JHK 1993 381In dem Band Nationalitätenkonflikte in der Sowjetunion leitet der Herausgeber Gert Meyer mit einem eigenen Beitrag ein, in dem er kurz den ambivalenten Entwicklungsweg der sowjetischen Völker umreißt, der zu sozialer Vereinheitlichung und gleichzeitig zu ihrer Differenzierung führte. Er geht auf zahlreiche Faktoren ein, die nach seiner Auffassung die Zuspitzung der Nationalitätenkonflikte verursacht haben, und diskutiert schließlich Lösungsmöglichkeiten: \"Fortschritte im Prozeß der Umgestaltung helfen bei einer möglichst gewaltlosen Auflösung des vielfältig verschlungenen Knotens der Nationalitätenprobleme\" (39). Die Perestrojka ist ein Schlüsselbegriff des ganzen Bandes; sie steht für die Überwindung der Schwierigkeiten und für eine sozialistische Zukunftsperspektive. Es bleibt hier aber zu fragen, ob sie zu diesem Zeitpunkt, also 1990, überhaupt noch eine realitätsbczogene Strategie der Politik war? Denn die Perestrojka war angesichts der schweren Wirtschaftskrise ab 1989 gescheitert und daher mit ihren politischen und gesellschaftlichen Reformansprüchen erst recht nicht mehr durchsetzbar.Im wesentlichen besteht das Buch aus einer Zusammenstellung von sowjetischen Beiträgen zur Nationalitätenproblematik in der Sowjetunion aus den Jahren 1988 bis 1990. Ein eigenes Kapitel wird den Sowjetdeutschen gewidmet, in dem auch Stalins Erlaß von 1941 zur Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Wolgarayons und dessen Revision im Jahre 1964 dokumentiert ist (180ff.). Das Schlußkapitel befaßt sich mit der Nationalitätenpolitik der KPdSU.Das Buch vermittelt einen Einblick in die Diskussionen dieser Jahre innerhalb der Partei, ihr nahestehender Organisationen und in den Medien, die im übrigen deutlich machen, mit welcher Offenheit - im Vergleich zu früheren Zeiten - in der Sowjetunion am Vorabend ihres Zusammenbruchs die politische Debatte geführt und die Probleme angesprochen wurden.Johannes Grotzky, ein langjähriger Beobachter und Kenner der Sowjetunion als Hörfunkkorrespondent in Moskau, legt mit seinem Buch eine einführende Darstellung zur Nationalitätenproblematik vor. Es enthält einen historischen Teil, der von der Entstehung des zaristischen Vielvölkerstaates über die Sowjetisierung der Völker bis zum Ende des Jahres 1990 reicht. Der Abschnitt über die Regionalkonflikte gibt einen Überblick zu den Problempotentialen im ganzen Land. Teilweise überholt ist naturgemäß die Darstellung der staatlichen Gliederung, die von der Sowjetunion zum Jahresende 1990 ausgeht. Eine sinnvolle Ergänzung sind die kurze Vorstellung der einzelnen Völker und die Zeittafel zur nationalen Frage.Die nationale Problematik wird als Existenzfrage der Sowjetunion gesehen, die bereits beantwortet ist (März 1991): Es gibt keine Überlebenschance mehr (7) - jedenfalls nicht in der bisherigen Form, so muß es ergänzend heißen, wenn man die Perspektiven einer Neuordnung liest, die der Autor entwickelt: Umwandlung der territorial-administrativen Struktur, diktatorischer Neo-Zentralismus oder das Land \"zerfällt in Eim:elstaaten, die sich in mehreren Unionen locker zusammenschließen\" ( 122). Seiner These, daß soziale und wirtschaftliche Mißstände nur vordergründige Auslöser für die Konflikte sein können, bleibt er nicht ganz treu, wenn es etwa heißt: \"Bis heute leiden die nicht-russischen Völker darunter, daß zahlreiche Führungspositionen in der Zeit der Industrialisierung und der politischen Säuberungen mit Russen besetzt wurden\" (38).Insgesamt bleibt der Eindruck eines gediegenen Sachbuches, geprägt von der Handschrift eines Journalisten, das sich als Basislektüre für den Interessierten gut eignet, auch wenn die summarisch verkürzende Darstellung manche Lücke klaffen läßt (dessen ist sich der Autor auch bewußt). Es wird eine Fülle von Informationen verarbeitet, die allerdings nur ungenügend belegt sind. Unzureichend ist weiterhin der bibliographische Anhang; wünschenswert wäre es gewesen, dem Leser mehr Hinweise, vor allem für weiterführende Literatur zu geben. 382 JHK 1993 Jutta Petersdorf (Berlin)SammelrezensionenFrauen in der SowjetunionPerestroika and Soviet Women. Hrsg. von Mary Buckley. Cambridge University Press, 1992, 183 S.Rosenbaum, Monika: Frauenarbeit und Frauenalltag in der Sowjetunion. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 1991, 130 S.Schon die Cover beider Publikationen mit den abgebildeten Momentaufnahmen aus dem Lebensalltag sowjetischer Frauen signalisieren, welcher Anspruch und welche Trostlosigkeit dem von den Autorinnen beschriebenen Thema innewohnt.Die vornehmlich soziologischen Untersuchungen wurden zu einem Zeitpunkt abgeschlossen, als die westliche Welt noch in den verklärten Vorstellungen über die Allmacht der antistaatssozialistischen Perestroika-Bewegung lebte und das öffentliche Interesse an einer Diskussion über die Modernisierung der sozio-ökonomischen Verhältnisse und einer umfassenden Demokratisierung in der Sowjetunion hellwach war.Seither ist zwar viel Zeit ins Land gegangen, aber der Gegenstand, von dem die angezeigten Veröffentlichungen als zwei von inzwischen zahllosen handeln, blieb davon unberührt. Und das nicht nur, weil das Gorbatschowsche Konzept außerstande war, ein neues Gesellschaftsmodell zu kreieren, sondern eben deshalb, weil es noch nicht einmal ansatzweise, die im Verlaufe der sowjetischen Entwicklung festgeschriebenen sozialen Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis in Frage stellte. Jelzin und seine Intentionen in puncto Slawophilentum und freie Marktwirtschaft lassen nun noch viel weniger auf glückhafte Veränderungen hoffen. Summa summarum: Die dargestellten Probleme sind aktuell wie eh und je.In Mary Buckleys von Frauen für Frauen geschriebenem Sammelband kommen Wissenschaftlerinnen verschiedener Fachdisziplinen aus Großbritannien, Kanada, Australien, Rußland und der Ukraine zu Wort. Die seit 1987 in der Sowjetunion eingeleiteten ökonomischen, politischen und sozialen Reformen stehen in unmittelbarem Bezug zu den Darlegungen über die Frauenarbeit in Industrie und Landwirtschaft, den sinkenden Frauenanteil in den politischen Vertretungskörperschaften, die Rolle der neuen Frauengruppen, den sich verändernden Status der Frauenräte und über die Stellung der Frauen zwischen Feminismus und Nationalismus in der Ukraine. Mit ihren Analysen veranschaulichen die Autorinnen Größenordnung und Problematik der Veränderungen, denen die sowjetischen Frauen als Arbeiterinnen, Konsumentinnen und politische Akteurinnen angesichts der Gleichzeitigkeit von Perestroika, Demokratisierung und Glasnost ausgesetzt sind.So stellt z.B. Judith Shapiro die \"chozrascet-Vorgänge\" der Perestroika (d.h. die Gewinn und Verlust bilanzierende Betriebsführung im industriellen Bereich) in Zusammenhang mit der hohen Frauenrate bei gering qualifizierten, schlecht bezahlten und durch Extensivität charakterisierten Arbeitsplätzen in der Industrie. Das schließt zwar nicht aus, über die in der Vergangenheit auch mit Hilfe der Frauen an Frauen begangenen Sünden nachzudenken, aber das Anliegen des Beitrages zielt in eine andere Richtung. Der zivilisatorische Anspruch der sich modernisierenden fast-postsowjetischen Reformgesellschaft wird untersucht. Folgerichtig erschöpfen sich Shapiros Aussagen deshalb nicht in Prognosen über die mit Rationalisierung und Privatisierung einhergehende absehbare Massenarbeitslosigkeit von Frauen. Sie hinterfragen das Konzept, messen den diktierten Rückzug der Frauen aus der Industriearbeiterschaft an den Chancen, die ihnen noch verbleiben, und reflektieren Meinungen der Betroffenen.Ähnlich aufgebaut sind auch die anderen Aufsätze im Sammelband. Daß die Autorinnen, wie nachdrücklich betont wird, keinen gemeinsamen Standpunkt zu den Reformen der Übergangsperiode im Hin- SammelrezensionenJHK 1993 383blick auf Staat, Wirtschaft, Politik, Nationalitätenproblematik, Geschlechter- und Generationsfrage, die Gesellschaft generell wie auf den abgehobenen Bereich des literarischen Schaffens haben, ändert daran wenig. Allerdings sei die Feststellung erlaubt, daß sich die Ambivalenz der Glasnost-Inhalte mit ihren teils befreienden, teils diskriminierenden Auswirkungen auf die Frauen wie ein verbindender roter Faden durch die meisten Beiträge zieht.Monika Rosenbaums Arbeit hat den Vorzug, daß sie stärker als die erstgenannte Publikation bemüht ist, das Thema im geschichtlichen Kontext zu behandeln. Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der \"Frauenfrage\" untersucht die Autorin die Russische Republik und das Baltikum in den Hauptkapiteln Fragen der Frauenerwerbstätigkeit, die Beziehung zwischen Erwerbsarbeit und Mutterschaft sowie den gegenwärtigen Diskussionsstand in der Frauenfrage.Sie betont eingangs völlig zu Recht, daß bislang der Gegenstand \"Lebenssituationen der Frauen in der Sowjetunion\" von der deutschen Osteuropaforschung sträflich vernachlässigt wurde; ihrer Argumentation hinsichtlich der fehlenden Ausarbeitungen durch die Frauenforschung vermag man aber weniger zu folgen. Auch an anderen Stellen des Textes finden sich ähnlich verkürzte, mitunter apodiktische Behauptungen, die das insgesamt bereitete Lesevergnügen leicht einschränken.Dazu gehört Rosenbaums These, daß die nach der Oktoberrevolution eingeleitete Frauenpolitik der Bolschewiki nicht über den Rang von Reformmaßnahmen hinausging und die Ungleichheit der Geschlechter nie ernsthaft untersucht und in Frage gestellt wurde (15). Sie läßt aber außer Acht, daß die politische Zielstellung der Bolschewiki, Frauen aus ihrer Unterdrückung in Gesellschaft und Familie durch die Einbeziehung in die Berufswelt sowie durch die Vergesellschaftung von Hausarbeit und Kindererziehung zu befreien, für die damalige Zeit nahezu sensationell war. Ebenso bleibt unberücksichtigt, daß Denkprozesse und Diskussionsstand zum Problem der Abschaffung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der gesamten Arbeiterbewegung noch längst nicht so weit gediehen waren, um selbst eine Feministin wie Alexandra Kollontai zu größerer Konsequenz in ihren politischen Forderungen zu veranlassen.Rosenbaum streift Fragen der juristischen Gleichstellung, der Bemühungen um die Vergesellschaftung der Hausarbeit und die Einbeziehung der Frauen in die gesellschaftliche Produktion, vereinfacht in der Beurteilung aber insofern, als sie die wirklich spannenden Diskussionen und Forschungsergebnisse über das Geschlechterverhältnis, wie sie in den zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre im Rahmen der medizinsoziologisch und sexualwissenschaftlich orientierten \"Sozialhygiene\" erfolgten, ausspart.Des weiteren verweist die Autorin auf die \"Lösung der Frauenfrage\" im Stalinismus, die sowohl mit der Forcierung weiblicher Erwerbstätigkeit (der Frauenanteil an der Gesamtbeschäftigung erreichte ausgangs des Großen Vaterländischen Krieges mit 56 Prozent seinen Höhepunkt, in den letzten Jahren lag er bei 51 Prozent) als auch mit der Festschreibung der gesellschaftlichen Rollenzuweisung an die Frauen einherging. Diesen auch für die Perestroika-Zeit gültigen Sachverhalt belegt sie mit interessanten Strukturanalysen zur Qualifikation weiblicher Arbeitskräfte, des Arbeitsmarktes und der Arbeitsbedingungen sowie des Einkommens.Die gegenwärtig laufende frauenpolitische Diskussion untergliedert die Verfasserin in vier aktuelle Richtungen, die sie abschließend genauer vorstellt: die patriarchalische, die ökonomische, die demographische und die egalitäre Richtung. Die letztgenannte ist für sie am ehesten die feministische Alternative, weil sie von dem Ansatz ausgeht, daß die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern keine natürliche, sondern durch die überkommenen sozialen Verhältnisse bedingt ist. 384 JHK 1993 Wolfgang Ruge (Potsdam)SammelrezensionenDer sowjetische Geheimdienst in der Geschichte der UdSSRWaksberg, Arkadi: Gnadenlos. Andrei Wyschinski - Mörder im Dienste Stalins. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1991, 495 S.Nekrassow, Vladimir F. (Hrsg.): Berija. Henker in Stalins Diensten. Ende einer Karriere. Edition q, Berlin1992, 511 s.Albaz, Jewgenija: Geheimimperium KGB. Totengräber der Sowjetunion. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1992, 280 S.Geworkjan, Natalija: Der KGB lebt. Fakten, Personen und Schicksale aus der Geschichte des sowjetischen Geheimdienstes. Edition q, Berlin 1992, 287 S. (Ausgabe mit Videokassette von Nina Sobolewa: Auf den Spuren des KGB. Die Geschichte des sowjetischen Geheimdienstes 1917-1991.)Die anzuzeigenden Bücher, alle aus dem Russischen übersetzt und populär angelegt, tragen dem brennenden Bedürfnis der Öffentlichkeit in den heutigen GUS-Staaten nach Aufhellung der die Gegenwart schwer belastenden Vergangenheit Rechnung. Im Mittelpunkt der beiden erstgenannten Werke, die in den letzten Monaten der Sowjetmacht in Moskau erschienen sind, steht der Stalinsche Terror (1935-1953) gegen Partei- und Staatsfunktionäre, Militärs und Angehörige der Intelligenz, zu dessen einziger Triebkraft der Diktator selbst erklärt wird. Obwohl beiläufig (Nekrassow, 89) von 7 Millionen Ermordeten zwischen 1935 und 1940 gesprochen wird (Albaz gibt die Zahl der Terrortoten zwischen 1917 und 1959 mit 66 Millionen an, 80) bleiben die Leiden und Opfer breiter Bevölkerungsschichten, die zweifellos den größten Blutzoll zahlten, unerwähnt, so daß die Massenverfolgungen weitgehend als interne Auseinandersetzungen zwischen den Eliten des Regimes erscheinen.Die anderen beiden Arbeiten, die nach dem (von Albaz auch beschriebenen) August-Putsch 1991 abgeschlossen wurden, beschäftigen sich vorwiegend - obwohl sie kurz auf den vorstalinistischen Terror sowie auf die Schreckensjahre von 1935 bis 1953 eingehen und Geworkjan ungeheuerliche Dokumente über die \"Vemichtungskampagne gegen das eigene Volk\" 1937/38 unterbreitet - mit dem Platz des überkommenen Repressionsapparates in der heutigen Gesellschaft.Waksberg, von Haus aus Jurist und auch als Dramatiker bekannt geworden, verdankt seinen publizistischen Ruf den auf profunden Aktenkenntnissen fußenden Artikeln über Rechtswidrigkeiten in der sowjetischen Justiz, die er über Jahre hinweg in der \"Literaturnaja gaseta\" veröffentlicht hat. Seine exzellent geschriebene, auch mit Sarkasmus gewürzte Wyschinski-Biographie, die sich auf eine Vielzahl von Dokumenten aus dem KGB-Archiv, dem Spezialarchiv des Innenministeriums, dem Privatarchiv seines \"Helden\" und andere bisher unzugängliche Materialien stützt, geht weit über die Vita eines sowjetischen Spitzenpolitiker hinaus und kann mit gewissen Einschränkungen als eine erste knappe Gesamtdarstellung des Stalinschen Terrors betrachtet werden. Bedauerlich ist allerdings, daß Quellennachweise in dem ansonsten (z.B. hinsichtlich vieler Lebensläufe und Daten) sehr informativen Anmerkungsapparat fehlen.Der Jurastudent und exponierte Menschewik Wyschinski war Stalin bereits 1907 im Gefängnis von Baku als fähiger Kopf aufgefallen. Nach ihrer zweiten Begegnung 1920 ebnete der auf den Aufbau einer Hausmacht bedachte nunmehrige Organisationssekretär des ZK dem einstigen Zellengenossen, der wegen seines (auch nach der Oktoberrevolution vehementen) antibolschewistischen Engagements erpressbar bleiben würde, den Karriere verheißenden Weg in die Kommunistische Partei. Wyschinski arbeitete erst im Versorgungswesen, wurde 1922 Vorsitzender des Moskauer Anwaltskollegiums, 1925 Rektor der haupt- SammelrezensionenJHK 1993 385städtischen Universität und erwies sich als Vorsitzender im Schachty-Prozeß (1928) sowie im Prozeß gegen die sogenannte Industriepartei (1930) als geschickter Handlanger des sich etablierenden Alleinherrschers. Ein meisterhaftes Psychogramm zeichnend, macht Waksberg deutlich, warum ausgerechnet dieser 1931 zum Stellvertretenden Generalstaatsanwalt der RSFSR und vier Jahre später zum Generalstaatsanwalt der UdSSR emporgehievte \"schöpferische Willensvollstrecker\" des Diktators von Stalin zum Regisseur des anvisierten spektakulären Justizterrors auserkoren wurde. Ausschlaggebend waren seine mit Zynismus und sklavischer Ergebenheit gegenüber dem Machthaber gepaarte gediegene Bildung, Flexibilitat und Leistungsfähigkeit sowie seine Rhetorik und Eitelkeit, die ihn für öffentliche Auftritte prädestinierten. Waksbergs Hauptaufmerksamkeit gilt der Zeit, in der sich der Ankläger Wyschinski als an gestrenge Vorgaben gebundener, gleichwohl zu Eigeninitiative angespornter Organisator der Schauprozesse gegen Sinowjew/Kamenew (1936), Pjatakow/Radek (1937) sowie Bucharin/Rykow (1938) bewährte und maßgeblich zur pseudotheoretischen Begründung und weiteren Durchsetzung verbrecherischer Praktiken im sowjetischen Untersuchungswesen und in der Gerichtsbarkeit beitrug. Stalin, so meint der Autor, habe in Bucharin seinen Hauptgegner gesehen und auch mit den Prozessen von 1936 und 1937 dessen Vernichtung vorbereitet. Nach Bucharins Ermordung sei er aus massenpsychologischen und anderen Erwägungen auf weniger spektakuläre (doch ebenso blutige) Terror- und Einschüchterungsmethoden ausgewichen.In dieser zweiten, von Waksberg ebenfalls ausführlich beleuchteten Terrorperiode wurde Wyschinski, der allerdings als Akademiemitglied (seit 1939) weiterhin \"theoretische\" Rechtfertigungen für die Rechtsbeugungen lieferte, nicht mehr als Vorzeige-Jurist gebraucht und im auswärtigen Dienst (unter anderem als Außenminister und UdSSR-Vertreter in der UNO) eingesetzt. Er erledigte zahlreiche Sonderaufträge und gelangte 1952 sogar als Kandidat ins Parteiprasidium.Immer das Schicksal solcher von Stalin berufener und später beseitigter Einpeitscher des Terrors wie Jagoda und Jeschow vor Augen, lebte Wyschynski in ständiger Angst vor der Ungnade des Herrschers. In seinem letzten Lebensjahr (er starb 20 Monate nach Stalin) fürchtete er sich vor Berija, der (seit 1938 Stellvertreter des Volkskommissars des Inneren, seit 1939 NKWD-Chef) zur Spitzenfigur des Repressionsapparates aufgestiegen war und sich nun, seine Position als Vollmitglied des Politbüros/Parteiprasidiums (seit 1946) nutzend, anschickte, den Platz des Diktators einzunehmen.Berija, der die makabren Eigenschaften eines Stalinschen \"Hauptvollstreckers\" noch markanter als seine Vorgänger verkörperte und auch mehr Macht als diese besaß, wird in den zumeist subjektiv gefärbten 22 Beiträgen des von Nekrassow herausgegebenen Sammelbandes vorgestellt. Am umfangreichsten sind hier die streckenweise recht simplen \"Skizzen zu einem Berija-Porträt\" von A.W. Antonow-Owsejenko, in dem vor allem vom NKWD-Chef inszenierte Morde an bekannten Persönlichkeiten aufgelistet werden. Wie bei diesem Abriß handelt es sich auch bei elf Berichten über Einzelepisoden sowie bei fünf Abschnitten aus bisher nur partiell veröffentlichten Memoiren um Nachdrucke von zum Teil \"enthüllungsjournalistisch\" geprägten Zeitschriftenartikeln aus den Jahren 1988 bis 1990. Drei weitere Beiträge sind bereits erschienenen Büchern (Wolkogonows Stalin-Biographie, Erinnerungen Gromykos und Marschall Schukows) entnommen. Speziell für den vorliegenden Band wurden nur zwei Artikel verfaßt: Über einen auf Fürsprache Mikojans von Stalin aufgehobenen Haftbefehl der Tscheka gegen Berija 1921 und, relativ gut dokumentiert, über Berijas Rolle bei den Erschießungen von Katyn. Erstmals publiziert werden auch gekürzte, insgesamt unergiebige Tagebuchaufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkollegiums, das Berija am 23.12.1953 zum Tode verurteilte.Ein Drittel der Beiträge beschäftigt sich mit der Verhaftung Berijas und seinem Prozeß. Obwohl auch Berichte \"nach Unterlagen der Beweisaufnahme\" beziehungsweise \"nach Akten des Gerichtsprozesses\" vorgelegt werden, kann von Erschließung neuer Quellen keine Rede sein. Die Berichterstatter, die die Auszüge aus Dokumenten mit einfältigen Sentenzen kommentieren, haben vorrangig Unterlagen und Protokolle ausgewählt, die Nebensächlichkeiten oder lange verjährte Ereignisse betreffen (Berijas dubiose 386 JHK 1993SammelrezensionenVerbindungen vor 1920, seine - vorher (Nekrassow, 67 ff.) völlig anders dargestellte - Plagiierung des Buches \"Zur Geschichte der bolschewistischen Organisationen in Transkaukasien\" 1934 und anderen). Erkennbar ist ihre Absicht, die in Wirklichkeit systembedingte Erhebung der \"Ungesetzlichkeit und Willkür zur Regel\" als isolierte Tat der \"kriminellen Gruppe unter Berija\" (Nekrassow, 387) hinzustellen. Siebewegen sich damit im Fahrwasser der Veranstalter des Prozesses, die selbst mit Verbrechen des Systems belastet waren. Beispielsweise hatte einer der Richter, Schwernik, schon 1931 den von der Geheimpolizei inszenierten Prozeß gegen das nicht existierende \"menschewistische Zentrum\" geleitet. Auch andere Beteiligte an der Entmachtung Berijas, nicht zuletzt Chruschtschow, der sich zum Beispiel 1937 um die Aufnahme in ein Verurteilungskommando für 2000 Todeskandidaten beworben hatte (dokumentarisch belegt bei Geworkjan, 227), waren zutiefst in diesem System verwurzelt, ließen sich bei der Ausschaltung des Henkers - ganz wie dieser - in erster Linie von Furcht um die eigene Machtposition leiten und bedienten sich dabei aus dem NKWD-Arsenal entlehnter frei erfundener Beschuldigungen (\"Agent des Imperialismus!\").Wenngleich der Herausgeber des Bandes im Geleitwort zutreffend bemerkt, daß es bei der Beurteilung Berijas nicht nur um diesen einzelnen Herrschsüchtigen gehe, sondern \"zugleich um das System und die Umstände, die diesen Menschen hervorbrachten, ihn aufsteigen, seine karrieristischen Ambitionen wie seinen Machthunger befriedigen ließen\" (Nekrassow, 7), werden doch die Beiträge in ihrer Gesamtheit nicht der daraus abzuleitenden Aufgabe gerecht. Gleichwohl bereichern viele der angeführten Details unsere Kenntnisse und lassen Rückschlüsse auf die Funktionsweise des stalinistischen Herrschaftsapparates zu. Das gilt zum Beispiel für die Angaben über die - auch von Geworkjan für 1937 nachgewiesene - zentrale Planung von Erschießungen (allein für Georgien 1936 1.500) oder für die außergerichtlichen (Troika-)Verfahren (1937/38 in Georgien 30.000, von denen ein Drittel mit Todesurteilen abgeschlossen wurde).Die mutigen Journalistinnen Albaz und Geworkjan, beide Mitarbeiterinnen der \"Moskowskije nowosti\" (\'\'Moscow News\"), für die der oftmals umbenannte (Tscheka-OGPU-NKWD-MGB-KGB, jetzt Ministerium für Sicherheit der Russischen Föderation) Geheimdienst nach einem Wort des Menschenrechtlers Timofejew \"den Zustand der Gesellschaft, die Krankheit des gesellschaftlichen Gewissens\" verkörpert (Geworkjan, 10), haben dagegen stets das Gesamtsystem im Blickfeld. Folgerichtig versuchen sie auch zu erklären, wie die aus dem System erwachsenen Methoden (Denunziation, erzwungene Selbstbezichtigungen, die seit 1937 offiziell erlaubte Folter, die \"normale\" Mordpraxis, psychiatrische Zwangsbehandlungen und anderes) psychisch gesunde Durchschnittsmenschen in Sowjetbürger des \"KGB-Typs\" verwandelten.Die faktenreichen Untersuchungen der beiden Journalistinnen stützen sich auf Gespräche mit hohen (zum Teil nicht mehr aktiven) KGB-Offizieren, auf kürzlich bekannt gewordene Geheimakten (unter anderem auch neue Lenin-Dokumente) und Erlebnisberichte Betroffener, darüber hinaus - nach Albaz\' Worten - \"auf alle Realien und Nuancen unseres Lebens, die ein Ausländer in der Regel nicht sieht\" (Albaz, 14). Was mit \"Realien\" gemeint ist, illustiert sie mit einer eindringlichen Schilderung des erniedrigenden Alltags von Rika Rasgon, die mit ihrem Mann Lew, dem Autor des Buches \"Nichtausgedachte Geschichten\", zusammengerechnet 31 Jahre in Straflagern verbracht hat.Albaz und Geworkjan, die auch der Korruption, der Günstlingswirtschaft und den Rivalitätskämpfen innerhalb des vom Korpsgeist zusammengehaltenen KGB große Aufmerksamkeit widmen, legen die Strukturen des geheimen Apparates offen und unterbreiten beachtliche Schätzungen über die Anzahl der Mitarbeiter (bis zu 700.000) sowie über das KGB-Budget. Breiten Raum nehmen auch ihre Entlarvungen der Auslandsdienste des KGB ein, die sich nicht nur mit Spionage und Gegenspionage, sondern auch mit der Schulung und \"Beratung\" von Staatsterroristen in den osteuropäischen Ländern, mit der Ermordung von Überläufern und Dissidenten, mit gezielter Desinformation sowie dem Devisentransfer für ausländische Parteien beschäftigen. SammelrezensionenJHK 1993 387Die beiden Autorinnen weisen nach, daß der KGB, jetzt seine Macht allerdings auf \"zivilisiertere Weise\" (Albaz, 80), (mit Hilfe eines \"geistigen Sadismus\" Geworkjan, 105) ausübend, auch heute in den GUS-Staaten allgegenwärtig ist. War er unter Stalin noch \"Erfüllungsgehilfe\" des Diktators (Albaz, 84), so habe er seither die Linie aller Generalsekretäre (auch und gerade Gorbatschows) mitbestimmt und kontrolliert. Zunehmend mit anderen Gliedern des Staatsapparates, mit der Parteispitze und dem militärisch-industriellen Komplex verwachsen, habe er in der von ihm mitinitiierten Perestroika seinen Einfluß auf die Gesellschaft noch ausgeweitet. Als ursprünglich \"zweite Säule der Oligarchie\" sei er, obwohl \"unheilbar krank\" (Albaz, 231), infolge der Auflösung der KPdSU (der \"ersten Säule\") sogar zum dominierenden Faktor im Staate aufgestiegen. Für die Autorinnen steht demnach fest, daß der Geheimdienst, der auch die Folgen des gescheiterten August-Putsches überstanden hat, unreformierbar ist und sein Fortbestehen eine wirkliche Demokratisierung der Gesellschaft ausschließt. So äußert Geworkjan am Schluß ihres Buches die Befürchtung, daß die von dem inzwischen schon wieder entlassenen Sicherheitsminister Bakanin nach dem Putsch eingeleitete Zergliederung des KGB rückgängig gemacht und eines Tages das Dzierzynski-Denkmal auf dem Moskauer Lubjanka-Platz wiedererrichtet werden könne.Die Benutzung der beiden letztgenannten Bücher wird leider durch das Fehlen von Personenregistern erschwert.Das erschütternde, in Deutschland weitgehend unbekannte Bildmaterial der Videokassette von Nina Sobolewa ergänzt die Texte von Albaz und Geworkjan auf eindrucksvolle Weise.Jan Foitzik (Mannheim)Osteuropa im Umbruch - 1945 und 1989Sowjetisches Modell und nationale Prägung. Kontinuität und Wandel in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Herausgegeben im Auftrag der Fachkommission Zeitgeschichte im J.-G.-Herder-Forschungsrat von Hans Lemberg unter Mitwirkung von Karl von Delhaes, Hans-Jürgen Karp und Heinrich Mrowka. J.G.Herder-Institut, Marburg/Lahn 1991 (Historische und Landeskundliche OstmitteleuropaStudien 7), 426 S. Simecka Milan: Das Ende der Unbeweglichkeit. Ein politisches Tagebuch. Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M., 1992, 170 S. Wagner, Richard: Völker ohne Signale. Zum Epochenbruch in Osteuropa. Rotbuch Verlag, Berlin 1992, 131 S. Die wiedergefundene Erinnerung. Verdrängte Geschichte in Osteuropa. Hg. und mit einem Vorwortversehen von Annette Leo. BasisDruck, Berlin 1992, 263 S. Beckherrn, Eberhard: Tal der Wende. Wohin steuert Osteuropa? Knaur, München 1991, 368 S. Druwe, Ulrich: Osteuropa im Wandel. Szenarien einer ungewissen Zukunft. Beltz Quadriga, Weinheim, Basel 1992, 175 S. Demokratischer Umbruch in Osteuropa. Hg. von Rainer Deppe, Helmut Dubiel und Ulrich Rödel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1991, 349 S. Das Ende der \"sozialistischen Staaten\" löste beim Herausgeber Zweifel aus, ob die Veröffentlichung der auf einer Tagung im September 1987 gehaltenen Referate (Sowjetisches Modell und nationale Prägung) 388 JHK 1993Sammelrezensionenüberhaupt noch Sinn mache. Die positive Entscheidung war aus verschiedenen Gründen richtig, denn es wurde zunächst erfolgreich dokumentiert, aus welchen heterogenen Vorstellungen sich das nach dem Prinzip des \"ersten Scheins\" prägnant wirkende Bild von der \"Sowjetisierung\" Osteuropas zusammensetzt. Schließlich wird auch der Prozeß der Modernisierung nach 1989 in diesem Raum vielfach Formen einer \"De-Sowjetisierung\" annehmen, d.h. es werden nicht nur Kontinuitätslinien aus der Zeit vor der \"Ära der Deformation\" freigelegt, sondern der gesellschaftliche Transformationsprozeß wird weiterhin auch von Verwerfungen und Verformungen begleitet, die in jener Deformationsperiode zwar ihren Ursprung haben, aber nicht zuletzt auch identitätsstiftende \"gelebte Geschichte\" sind. Hans Lemberg spricht die begrifflichen Schwierigkeiten im Vorwort an, wenn er feststellt, daß Modelle selbst nicht als statisch betrachtet werden können, und dann noch rhetorisch fragt, ob denn Modernisierung in den postsozialistischen Ländern einfach nur die Übernahme westlicher Modelle bedeute.\"Sowjetisierung\" wird meistens im Sinne einer Überfremdung, als Oktroy des sowjetischen Modells verstanden, obwohl Einzeluntersuchungen ergeben haben, daß nationale und sektorale historische Prädispositionen, also die \"nationale Prägung\", diesen Vorgang behindert oder gefördert, jedenfalls zu dessen Ausformung beigetragen hatten.Im Tagungsband werden 23 Referate präsentiert, ergänzt um ein Resümee der Diskussion von Hans Lemberg und ein umfangreiches Literaturverzeichnis. In den Referaten beschäftigen sich Zeithistoriker, Ökonomen, Politikwissenschaftler, Slawisten mit den Voraussetzungen, dem Verlauf und den Ergebnissen der \"Sowjetisierung\" in einzelnen Bereichen des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Im Einführungsreferat weist Michal Reiman auf die politische Instrumentalisierung des Begriffs hin, den er auf Entwicklungsprozesse im Zeitraum 1947/48-1953 reduziert wissen möchte. Im Osten hat er eine andere semantische Bedeutung. Dort wird er weniger politisch-instrumentell, als vielmehr im Sinne einer substantiellen Ver- und Entfremdung mit vielfältigen psychologischen Komponenten, wie Einstellung zur geschichtlichen Tradition einschließlich der Veränderung des gesellschaftlichen Selbstverständnisses und Verhaltens, als Bruch in der Entwicklungskontinuität, verstanden. Reiman reflektiert in seiner \"allumfassenden\" Auslegung des Begriffs ebenfalls, daß nicht erst die \"Sowjetisierung\" die jungen Systeme zerstört habe, vielmehr hätten sie schon vor dem Einmarsch der Sowjettruppen vor dem Problem des Neuaufbaus gestanden.Obwohl diese Hinweise auf die Vielschichtigkeit des Phänomens nicht durchgehend berücksichtigt werden, ordnet Gerhard Simon plausibel die Instrumente und die Stufen der äußeren \"Sowjetisierung\" in den annektierten westlichen Gebieten der Sowjetunion 1939-50 in Kategorien ein, welche auch in den Volksdemokratien Gültigkeit besaßen. Detlef Brandes und Vilem Precan weisen speziell auf die außenpolitischen Determinanten dieser Prozesse hin.Innenpolitischen Aspekten widmet Christoph Kleßmann ein Referat über Programme des polnischen Widerstands. Peter Heumos bestätigt der osteuropäischen Sozialdemokratie, daß sie im Zeitraum 1945-48 infolge ihrer Beteiligung an Einheitsgewerkschaften und \"Nationalen Fronten\" die Rückkoppelung zur politischen Basis verlor und deshalb um so leichter durch die Kommunisten als politischer Faktor ausgeschaltet werden konnte. Zu ähnlichen Schlußfolgerungen kommt auch Jörg K. Hoensch, der die Ausschaltung der nichtkommunistischen Parteien in Polen, der CSR und in Ungarn insbesondere auf die Zersplitterung des Parteiensystems und die sozial heterogene Zusammensetzung ihrer Mitgliederschaft zurückführt. Thomas Weisers komparatistische Untersuchung über die kommunistischen Führungseliten weist indirekt stärker auf begriffliche Probleme hin. Es habe weniger eine direkte personalpolitische Steuerung, sondern die Struktur der kommunistischen Parteien als Instrument im Prozeß der \"Sowjetisierung\" gewirkt, der im untersuchten Bereich widersprüchlich verlief und starke nationale Besonderheiten aufwies. Peter Strunks Beitrag über die \"Sowjetische Militäradministration in Deutschland\" konzentriert sich ebenfalls auf unter- Sammelrezensionen]HK 1993 389schiedliche Zielstrategien bei der \"Sowjetisierung\" der SBZ, die diesmal allerdings unmittelbar auf innersowjetische Zielkonflikte zurückgeführt werden.ln den Referaten über Methoden und Folgen der \"Sowjetisierung\" der Volkswirtschaft benennen Jiri Kosta und Karl von Delhaes konkrete interne Faktoren, die die Übernahme des sowjetischen Wirtschaftsmodells förderten: Kosta akzentuiert dabei stärker die Rahmenbedingungen (\"Ostorientierung\", Änderung der Eigentumsverhältnisse und der Binnenstruktur der Volkswirtschaft). während von Delhaes auch auf die spezifisch nationalen Faktoren hinweist. Oskar Anweilers Beitrag über c!ie \"Sowjetisierung\" c!es Bildungswesens und seine These. daß im Bildungsbereich lediglich von einer \"sowjetischen Überlagerung\", keineswegs von einer tiefgreifenden \"Sowjetisierung\" der Schulorganis,1tion, der Lernziele und Lerninhalte gesprochen werden könne löste bei den meisten Tagungsteilnehmern \\Viderspruch aus. Als ein vielschichtiges und in sich komplexes Phänomen. das zwischen ideologisch vorgegebenen Zielperspektiven, Verfahrensweisen und objektiven Resultaten nicht analytisch differenziert, behielt der Begriff der \"Sowjetisierung\" am Ende zwar die Konsistenz des oft zitierten Puddings, den man vergeblich an die Wand zu nageln versucht. Doch ein beträchtlicher Erkenntnisgewinn besteht bereits darin, daß man um diese innere Beschaffenheit des Begriffs weiß und ihn nicht unkritisch im analytischen Sinne benutzt.Seit dem realen Zusammenbruch des Sozialismus versuchen manche, der Öffentlichkeit einzureden, daß die Politologie die Prozesse der Jahre 1989-91 nicht vorausgesehen habe, ohne zu realisieren, daß dies gleich in doppelter Hinsicht verkehrt ist: Erstens gab es im Westen spätestens seit dem Ende der siebziger Jahre sogar veröffentlichte Hinweise auf bevorstehende schwere Erschütterungen des machtpolitischen Gefüges in Osteuropa und eine Diskussion über einen möglichen Kollaps der Sowjetunion (wie man neuerdings hört, war dieses Thema damals auch für \"orthodoxe Betonköpfe\" der kommunistischen Parteien kein Tabu mehr). zweitens ist in der Stellenbeschreibung von Historikern und Politologen nicht von Gesciüchtsproduktion die Rede, sondern von den Formen ihrer Wahrnehmung. Eine Folge der öffentlichen Debatten über den Nutzen und den Nachteil der Geschichte für die deutsche Parteipolitik scheint sich nun auch in einer Inflation düsterer Prognosen über clie Entwicklung des postkommunistischen Osteuropas niederzuschlagen. Zunächst ein heunstischer Hinweis auf den Wert von Negalivprognusen: Aus wahrnehmungspsychologischen Grlinden ist die Negativprognose immer wahr. Denn gesetzt den Fall, daß die düstere Prophczeihung nicht eintritt und sie selbst nicht in Vergessenheit gerät, so hat ja eben die Prognose ihre Selhstverwirklichung verhindert.Geeignet, eventuelle Selbstzweifel prognoseschwacher Sozialwissenschaftler zu heilen, ist das Tagebuch des tschechischen Schriftstellers Milan Simecka (1930-1990). Denn es beginnt mit einer Eintragung vom 31. Dezember 1987 und endet am 28. Februar 1989. Die selbstsichere Gewißheit des Tagebuchschreibers von der Nähe des Endes der Normalisierung war Anlaß diese Notizen zu veröffentlichen. Simecka sollte diesen Sieg nichl mehr erleben. In .seinen Tagebucheintragungen dokumentiert er eindringlich, wie er wie ein Astrologe auf Zeichen wartete und sie auch suchte. Diese Zeichen waren jedoch lediglich Reflexe der inneren moralischen Überzeugung an der Wand\" war nur die soziale und politische Depression der \"normalisierten\" tschechischen/slowakischen Gesellschaft sichtbar, die wie die persöniiche Apathie Demütigungstraumata, instinktive Bewältigungsgesten stark auf den Stil abfärben.Bereits postsozialistische Depression steht im Mil1clp11nkt des Buches von Richard Wagner ühcr \"Völker ohne Signale\". Wagner, ein Banaler Schwabe, zeichnet ein düsteres Szenario: Eine Aufarbeitung der Vergangenheit finde in Osteuropa nicht statt, weil sie nicht möglich und nicht erwünscht sei. Statt dessen entstehe dort ein neues Krisenbewußtsein, wobei die Krise nicht mehr aus der Vergangenheit abgeleitet, sondern durch die aktuelle Lebenslage der Menschen ausgelöst werde, die ihre sozialistische Vergangenheit gleichzeitig als eine \"unheilbare\", \"gestohlene Zeit\" wahrnehmen und als einen alternativen Ort mit neuen Utopien. neuen Mythen und Symbolen besetzen. Die Ursachen sieht der Autor in den Umständen des Umbruchs von 1989, der vor allem durch externe Faktoren ausgelöst worden sei: Mit Ausnahme 390 JHK 1993SammelrezensionenPolens seien die Dissidenten nicht mit den Massen verbunden gewesen, in Ungarn habe sogar eine klassische Revolution von oben stattgefunden. Die Düsternis der Prognose weist als Entstehungsort eher auf die Karpaten als auf die weite Ebene des Banats hin. Möglicherweise geht aber der Blick manchmal zu weit, verzerrt die Details. \"Massen\" gehört zum Wortschatz der \"alten Nomenklatur\", wenig differenziert ist auch der schnelle Rückblick auf den Kommunismus, dessen zwei Erfolgsschübe auf das politische Versagen der Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg und auf Jalta zurückgeführt werden. Den kommunistischen Parteien wird dann auch noch bescheinigt, daß sie in ihre sozialdemokratischen Ursprünge retardierten. So in etwa hätte heute auch Lenin die Lage interpretieren und ebenso die Bankrotterklärung des Kommunismus im Putsch Jaruselskis von 1981 sehen können.Wagners Beschwörung eines basisnahen Ostmitteuropas der Regionen mit lateinischen und byzantinischen Kulturgrenzen, zusätzlich gesichert durch eine \"Aufklärungsgrenze\", ist schön zu lesen, doch sind die horizontalen und vertikalen Bruchstellen und Spalten zu gewaltig, um darauf guten Gewissens folkloristische Operette veranstalten zu können. Eben deshalb, wie der Autor feststellt, weil im 19. Jahrhundert in den meisten Ländern der Region ein künstlicher Nationalmythos entstanden war, ein Amalgam aus rural-atavististischen und feudal-expansionistischen Visionen, gemischt mit politischer Romantik von Schullehrern und nebenberuflichen Literaten, die historisch die Stelle des kulturell \"fremden\", meistens jüdischen und deutschen Bürgertums einnahmen. Nationen entstanden hier infolge des Zerfalls der großen Imperien: des Osmanischen Reiches, Rußlands, Österreichs und Deutschlands, ohne \"innere Logik\" und als konjunkturabhängige Interessensphären der Großmächte. Aber die Nationalidee war und ist in den osteuropäischen Gesellschaften trotz allem das einzige identitätsstiftende Mittel, auch insofern bleibt die Vergangenheit überall real. Der erinnernde Hinweis, daß die postkommunistischen Eliten sich genauso konfliktschürend verhalten würden wie die Führungsschichten in der Zwischenkriegszeit und daß dieses Konfliktpotential durch Integration entschärft werden müsse, legt vielleicht den Schluß nahe, daß der \"Demokratisierungsprozeß nur von außen garantiert werden kann\". Doch ist man mit dieser Feststellung wieder am Ausgangspunkt der modernen Geschichte des osteuropäischen Raumes angelangt, die schon zweimal ergebnislos wiederholt wurde.Vielleicht kann die Demokratisierung also nur im Innern geleistet werden, durch \"Die wiedergefundene Erinnerung\" der verdrängten Geschichte, wie ein aus dem Französischen übersetzter Sammelband aus dem Jahr 1990 suggeriert. Vielleicht sollte der im Prager Museum der Staatssicherheit als bewährter \"Kämpfer gegen den Antikommunismus\" ausgestopfte Schäferhund für die Nachwelt erhalten bleiben wie auch die schattenspendenden Ruinen des Leninkults in der ehemaligen Sowjetunion, den Allain Brossat beschreibt. Denn die Vergangenheit hat zwei Seiten: \"Pamjat\" und \"Memorial\" heißen sie in Rußland. Neue Dimensionen werden freigelegt und alle müssen kritisch hinterfragt werden, ob nun auf Litauisch oder Polnisch niedergeschrieben.Der ehemalige Osteuropa-Korrespondent der Deutschen Presseagentur, Eberhard Beckherrn, sieht das \"Tal der Wende\" ebenfalls schwarz. Statt einer Rehabilitierung der Opfer, nur Entschuldigungen auf dem Papier; Osteuropa - eine Büchse der Pandora, aus der politische, ethnische, ökonomische Probleme ohne Ende herauskommen und in eine ungewisse Zukunft weisen.Auch Ulrich Druwe sieht solche Anzeichen in der dualistischen politischen Kultur, in der öffentlich Kommunismus gepredigt und privat etwas anderes praktiziert wurde; in den Umständen des Umbruchs, der in den ersten beiden Phasen in allen Ländern synchron verlief und erst in der dritten Entwicklungsetappe die \"gleichen Ziele\" (Demokratie und Marktwirtschaft) mit \"ungleichen Chancen\" in den einzelnen Ländern konfrontiert. Seine Prognose für die Zukunft: Nationale und religiöse Konflikte sowie ökonomische Probleme werden bis auf Ausnahmen autoritäre Regime und Kriege zur Folge haben.Einige der von Mitarbeitern des Frankfurter Instituts für Sozialforschung herausgegeben, 1990 entstandenen Berichte und Analysen (\"Demokratischer Umbruch in Osteuropa\") erinnern an Erbauungsliteratur: SammelrezensionenJHK 1993 391Es mag sein, daß in der DDR eine Revolte atomisierter Individuen gegen die Macht stattgefunden hat, die eigenen Konjunkturzyklen unterworfen war. Und die \"deutschen\" Intellektuellen - so ist zu lesen - hätten schon wieder aus rigider Moral und als habituelle Nicht-Demokraten das im \"Wir sind das Volk\" endgültig zum Ausdruck geronnene \"Teilvolks-Wir\" gespalten, wodurch sich der evolutionäre Ansatz vom Politischen weg zum Kulturellen verlagert habe und nunmehr lediglich Kommunikation und kultureller Wettbewerb die Evolution antreiben würden. Nun waren \"deutsche Intellektuelle\" schon immer spitzfindige Haarspalter: \"Ich bin Volker\" kommentierte seinerzeit ein Graffiti in West-Berlin das Leipziger Allerlei.Für J6zsef Bayer war das realsozialistische System Ungarns ein Krisenprodukt, das diese Krise perpetuierte. Der Versuch der Modernisierung einer halbfeudalen Gesellschaft wurde in politischen Formen durchgeführt, die vormoderne Herrschaftsverhältnisse reproduzierten, bis diese letzlich zum Haupthindernis der weiteren Entwicklung wurden. Die Perestrojka war insofern nur Auslöser und Katalysator der Umwälzungen, ihre Ursachen lagen in der evolutionären Anhäufung systemfremder, latent pluralistischer Elemente. Die monolithische Partei löste sich schließlich selbst auf, die demokratische Bewegung war ein sekundäres Phänomen, die Opposition hinkte der Systementwicklung hinterher. Aufschlußreich sind auch die Ergebnisse der soziologischen Analyse: Die postsozialistische Gesellschaft sei nicht in \"Unterdrücker\" und \"Unterdrückte\" scheidbar, sondern zeichne sich durch komplexe Formen der sozialen Vernetzung aus.Über die polnische \"civil society\" in den achtziger Jahren resümiert Melanie Tatur, daß erst die \"Solidarnosc\"-Bewegung eine Politisierung des familienzentrierten Lebensstils in einer dichotomischen Gesellschaft erzielt habe, die in ein \"Wir\" und \"Die da oben\" gespalten war - eine Dichotomie mit anarchistischen Elementen als Grundzug des gesamten sozialen und politischen Gefüges infolge der Steuerungsschwäche des zentralen Systems und auf der anderen Seite eine Revolte gegen eine normenlose gesellschaftliche Ordnung, für das Grundrecht, \"in Wahrheit zu leben\", Denken und Handeln in Einklang zu bringen. Nach Verhängung des Kriegsrechts verlor die \"Solidarnosc\" zwar jede Basisbindung, doch zum einen gewährleistete die Kirche den Schutz der polnischen Gesellschaft, zum anderen blieb das politisierte intellektuelle Milieu erhalten, während das alte System nach dem Sturz seiner Symbole immobil geworden war. Die zwei Achsen der sozialen Modernisierung sieht die Autorin in der Ausdifferenzierung von Lebensstilen nach Bildung und Qualifikation (\"neue Mittelklasse\") sowie in einer Polarisierung der politischen Einstellungen auf einer Skala von liberal bis populistisch. Für Ende der achtziger Jahre konstatiert Tatur einen Wandel der \"liberalen\" Auffassungen infolge veränderter Rahmenbedingungen: Korporatistische Vorstellungen gewannen an Wert, und es habe sich herausgestellt, daß Pluralismus nur in einem marktwirtschaftlichen System möglich sei.Mit dem Phänomen der \"neuen Opposition\" in Polen beschäftigt sich auch Helmut Febr. Statt einer Deskription wäre aber stärker zu reflektieren, inwiefern die Hemmnisse bei der Herausbildung einer \"civil society\" in Osteuropa nicht primär die Folgen einer hochgradig differenzierten Begrifflichkeit sind, die wissenssoziologisch von einer vollkommen anderen Welt ist.Mit den Dilemmata der Demokratie in Osteuropa beschäftigt sich ein Beitrag der polnischen Soziologin Jadwiga Staniszkis, für die feststeht, daß nur integrale Ideologien den sich befreienden Gesellschaften die notwendige Identitätsfindung und Selbstbehauptung gegenüber dem neuen Staat ermöglichen. Sie erblickt ein spezifisches Dilemma gerade in der Distanzierung der neuen politischen Eliten von der Übergangsideologie des Nationalismus.Das Schlußwort überließen die Herausgeber Adam Michnik. Unter der Prämisse, daß der Kampf um Freiheit in Osteuropa erst beginne, entwirft Michnik drei Visionen des posttotalitären Europa: 1. den spanischen Königs-Weg, 2. den iranischen und 3. den libanesischen. Das Gerücht, in Osteuropa noch immer das zuverlässigste Kommunikationsmittel, weiß noch von einem griechischen (und manche machen darauf aufmerksam, daß in Spanien ein Obristen-Putsch an ungeklärten Umständen gescheitert ist), und in Mos- 392 JHK 1993Sammelrezensionenkau schließlich will man wieder sein eigener Wegweiser sein, wohl um sich selbst nicht bewegen zu müssen.Am Ausgangspunkt wurde mit westlichem akademischem Eifer über den Begriff der \"Sowjetisierung\" diskutiert und keine Einigung erzielt. Am Ende steht das Babylon einer Bildersprache, die zwar alles in allgemein beifallsträchtige Symbole fassen kann. aber nichts zu erklären weiß. \"Zurück nach Europa\" als suchtverdächtiger Rauschzustand symbolischer Ersatzrituale und intellektuelle Narretei im Glanz der Macht eines \"Kaisers ohne Kleider\". Die Generalisten sehen die Zukunft Osteuropas pessimistisch, Optimismus reden sich die Nischen-Theoretiker ein.Fraglos ist der politische, soziale und kulturell-moralische posttotalitärc Ballast so enorm und in sich derart verwoben und verformt. daß die osteuropäische Modernisierung voraussehbar von schwersten nationalen. sozialen und politischen Kont1ikten und Erschütterungen begleitet, ja geprägt sein wird. Die Autoren sind sich darüber weitgehend einig, daß insbesondere in der hochgradigen ökonomischen, sozialen und kulturell-moralischen Homogenisierung der posttotalitären Gesellschaften ein besonderes Gefahrenpotential verborgen liegt, da diese Homogenität die politische Instrumentalisierung der nationalen Symbolik sowohl politisch unvermeidbar als auch aus Gründen der sozialen Mobilisierung unverzichtbar macht, die mehrfach deformierten, ja fragmentierten ataYistischen Formen des Nationalismus jedoch eine unkontrolunkontrolrleigerbesasrieve Dynamik entwickeln können. Vorstellungen. Westeuropa könnte von außen eine \"Demokratisierung\" Osteuropas leisten. beruhigen lediglich die eigene Vorstellungskraft, Stalin und seinen Nachfolgern gelang nicht einmal die \"Pazifizierung\" des Raumes. Bereits solche historischen Tatsachen wecken Ideologieverdacht Fine Fischsuppe läßt sich nicht in ein Aquarium zurückverwandeln. Sowohl die Euphorie der demokratischen Modernisierung als auch der Katastrophenpessimismus ignorieren die Alternative des Abdrängens weiter Teile Osteuropas an die Peripherie, übersehen den instrumentellen Charakter der geopolitischen Aufwertung der Region infolge von Konjunkturen des globalen Ost-West-Konflikts mit entsprechenden Transferleistungen und mißachten ebenfalls die grundlegend neue politische Geometrie der Region. Osteuropa ein Panoptikum, in dem die letzten fünf Jahrhunderte der westeuropäischenEntwicklung gleichzeitig stattfinden will nicht generell in die Modeme und muß daher nicht notwendigerweise in die Agonie eines verzweifelten Rückzugs geraten. Am Zerfall des ehemaligen JugoslaJugoslkaawninenman zwar die Ergebnisse einer zwanzigjährigen posttotalitären sozialen Differenzierung und politischen Demokratisierung mit westlicher Hilfe studieren. doch es wäre voreilig, dieses Ergebnis soziologischer und politologischer Feldexperimente zu generalisieren. Zu denken gibt nur. daß dort ein Psychiater erfolgreich als Interessenvertreter seiner Patienten agiert. Doch dies entspricht ja einer alten europäischen Tradition. SamnzelrezensionenJHK 1993 393Gabor Szekely (Budapest)Ungarn im UmbruchDalos, György: Ungarn. Vom Roten Stern zur Stephanskrone. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1991, 261 S.Delapina, Franz/Hojhauer/Komlosy, Andrea/Melinz, Gerhard/ Zimmermann. Suscm: Ungarn im Umbruch. Verlag fiir Gesellschaftskritik, Wien 1991, l44 S.Hoensch, Jörg K.: Ungarn Geschichte, Politik, Wirtschaft. Handbuch. Fackelträger Verlag, Hannover 1991, 353 s.Als im Jahre 1991 die drei oben genannten Werke in Deutschland hzw. in Österreich erschienen, hatten sich jene Vorgänge, die die bipolare Weltordnung zum Einsturz gebracht hatten, bereits vollzogen. Im Verlauf dieser kurzen, nicht einmal ein halbes Jahrzehnt dauernden Zeitspanne, spielte Ungarn eine außer­ ordentlich wichtige Rolle.Die drei Bücher, von unterschiedlicher Gattung und Pointienmg, verfolgen das Ziel, die Ereignisse in Ungarn für den deutschsprachigen Leser verständlicher zu machen. Kein ungewöhnliches Unterfangen, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß die Geschichte und Tradition Ungarns eng mit der österreichischen bzw. der deutschsprachigen Kultur verknüpft ist.Die Geschehnisse werden zwar in allen drei Bänden aus einem ungorischen, aber gleichwohl externen Blickwinkel beleuchtet. Dazu trägt offenkundig auch jener Umstand bri, dafl neben György Dalos als Un­ gar auch die meisten Autoren der beiden anderen Bände übrr ungarische Wurzeln verfügen. Allerdings soll weniger die Anatomie des \"Untergangs der kommunistischen Diktatur\" für den deutschen und öster­ reichischen Leser beschrieben, als vielmehr der 1988 begonnrne und mit den Wahlen von 1990 abge­ schlossene \"Umbruch\" �ls solcher skizziert werden, also seine Vorgeschichte, sein konkreter Ablauf und seine Folgen. Die Betonung liegt daher mehr auf dem \"Wie\", nicht aber auf dem \"Weshalb\", obwohl die Verfasser ansatzweise den Versuch einer Analyse unternehmen und dabei eine unYoreingenornmenere Hal­ tung als in unzähligen ungarischen Publikationen einnehmen. Wenn der Le,cr eine Voreingenommenheit spürt, dann entspringt diese stets der dem Land gegenüber empfundenen Besorgnis und Sympathie der Verfasser.Das vom Soziologischen Institut der Budapester Universität und von der Stiftung der Geschichte der Politik gemeinsam veranstaltete Symposium mit dem Titel \"Systemwechsel und Gesellschaft\" kam ein­ stimmig zu dem Schluß, daß zumindest in Ungarn kein \"Systemwechsel\" stattgefunden habe - wie dies sei­ tens der offiziellen ungarischen, wieder parteiischen Geschichtsschreibung betont wird -, sondern höch­ stens eine \"Systemänderung\", wobei man sich mit dem noch bescheideneren Begriff \"Änderung\" durchaus begnügen kann.Es ist jedoch weniger eindeutig, inwieweit den deutschsprachigen Lesern mit diesen Begriffen der Un­ terschied zwischen den einst erwarteten und den sodann tatsLlchlich eingetretenen Ereignissen verdeutlicht werden kann. Zusammenfassend läßt sich foshtellcn: Ein \"Systemwechsel\" setzte voraus, daß das jewei­ lige - also ungarische, tschechoslowakische, jugoslawische, pc,]nische und dann sowjetische - Modell des \"real existierenden Sozialismus\" in eine Demokratie mit (sozialer) Marktwirtschaft übergeht.Von den Autoren beschreibt vielleicht György Dalos am besten diese von Anfang an irrige Erwartung, um dann letzten Endes - seinen Optimismus nicht aufgebend - die ganze Menschheit zu ermahnen: \"Vielleicht erleben wir noch eine gemeinsame Greenwich-Zeit, ein paar ruhige Tage, in denen uns auch noch etwas anderes als das bloße Überleben sinnvoll erscheint. Und Geduld. Denn es geht nicht nur um 394 JHK 1993Sammelrezensionendas Scheitern einiger Ideologien, sondern um das Desaster einer halben Welt, die sich nun langsam von ihrer aufgezwungenen und lang andauernden Zukunft erholen will\" (252).Gegenüber dem Terminus \"Systemwechsel\" bezeichnet der Begriff \"Systemänderung\" einen Prozeß der Anpassung der alten Institutionen an die veränderten politischen Umstände. Innerhalb dieser Institutionen sind die alten \"Akteure\" bestrebt, ihre neue Rolle zu erlernen und sie zu erfüllen. Gleichzeitig möchte der gegenwärtige politische Kurs - und dies wird seitens aller drei Monographien durch Tatsachen veranschaulicht - weniger die frühere \"ständestaatliche\", also nicht \"auf dem Eigentum beruhende\" Gesellschaft liquidieren, sondern im Gegenteil eher stützen. Die Verteilung von Positionen in Politik und Wirtschaft, ja sogar die nur zögerlich vorankommende Privatisierung orientiert sich an der (Vasallen-) Treue zur amtierenden Regierung. Diese Vorgänge liegen nicht nur weit entfernt von den Vorstellungen der Linken, die eine soziale Marktwirtschaft propagieren, sondern auch von den Wünschen der Liberalen, die die Freiheit des Eigentums mit dem sozialen Netz des Wohlstandsstaates gekoppelt sehen. Enttäuscht wurden auch jene, die 1990 der derzeit amtierenden Regierungspartei ihre Stimmen gaben. In seiner in dem Band \"Umbruch in Ungarn\" abgedruckten Studie mit dem Titel \"Die Revolution frißt ihre Kinder\" beschreibt Gerhard Melinz diese Vorgänge am deutlichsten. Die von ihm zusammengetragenen Daten zum sogenannten \"Systemwechsel\" belegen die Verschlechterung der sozialen Lage der Bevölkerung, die sich in der Entstehung von Elendsküchen (Suppenküchen) widerspiegelt (90). Melinz kommt zu dem Schluß, daß sich die Lage seitdem bedeutend verschlimmert hat: \"Das Alltagsleben in Ungarn 1991 [ist] zunehmend durch Aggressivität bestimmt. Die Suche nach Sündenböcken ist im Gange. Die Spannungen in der Gesellschaft nehmen zu\" (92).Dalos, der vor allem bis zum Anfang der siebziger Jahren eine bedeutende Rolle in der ungarischen intellektuellen Oppositionsbewegung spielte, definiert seine Grundeinstellung folgendermaßen: \"Ich bin ein Kind des Sozialismus, sowohl des Systems, als auch des sozialistischen Traums.\" Gleichzeitig gehört Dalos nicht zu jenem Kreis der \"Parteiintelligenz\", der bei den ungarischen Veränderungen eine führende Rolle gespielt hatte. Dieser Umstand könnte ein Grund dafür sein, daß er diesem oppositionellen Kreis bei dem Umbruch in Ungarn eine größere Rolle beimißt, als er tatsächlich hat spielen können. So schreibt er: \"Eine Zeitlang zögerte der kommunistische Parteivorstand immer wieder, dem aktuellen oppositionellen Druck nachzugeben, konnte jedoch die Machtkrise - halb zog sie ihn, halb sank er hin - nur noch verlangsamen.\"Die Bezeichnung \"der kommunistische Parteivorstand\" ist jedoch problematisch. Es ist ja wohlbekannt, daß das Attribut \"kommunistisch\" im Laufe der Zeit zu \"stalinistisch\" umgedeutet wurde. Der ungarische Parteivorstand war aber schon seit Mitte der sechziger Jahre nicht stalinistisch, seit jener Zeit also, zu der Dalos und seine Gefährten oder andere oppositionelle Richtungen mit ihrer Kritik auftraten - ganz gleich ob sie auf einem maoistischen, stalinistischen, sozialdemokratischen oder auch sowjetfeindlichen Standpunkt beruhte.Das Kadar-System hielt sich zu dieser Zeit schon an das Schlagwort \"Wer nicht gegen uns steht, der steht mit uns\". Folglich wollte es auch die Opposition nicht vernichten, sondern \"nur\" isolieren. (Der Verfasser vorliegender Rezension, der sich zwei Jahrzehnte lang mit der Komintern beschäftigte, lernte diesen Unterschied zu schätzen.)Selbstverständlich ist dies auch Dalos bekannt, als er in einer seiner Schriften dagegen protestiert, daß gegenwärtig auch die nach jenen kommunistischer Märtyrern benannten Straßen umbenannt werden, die für Ungarn und seine Kultur viel getan haben und von denen die meisten Opfer des stalinistischen Personenkults wurden- so beispielsweise der Nationalökonom Gyula Lengyel, der Sinologe Lajos Magyar oder der zu Hause ermordete antifaschistische Jugendführer Endre Sagvari (13). Die Pikanterie der Sache besteht übrigens darin - vermutlich ist dies Dalos nicht bekannt -, daß die Gemahlin von Lajos Magyar, die bekannte Schauspielerin Blanka Pechy, kurz vor ihrem Tode erstens dem regierungskritischen Verband SammelrezensionenJHK 1993 395Ungarischer Journalisten einen Lajos-Magyar-Preis stiftete, zweitens eine sich mit den Geschichtswissenschaften beschäftigende Lajos-Magyar-Stiftung einrichtete, die auch heute noch das Jahrbuch \"Geschichte der Internationalen Arbeiterbewegung\" herausgibt, und drittens ein Lehrbuch für Mittelschulen verfaßte, das sich mit der ungarischen Geschichte von 1914 bis 1990 befaßt.Die Rolle der Opposition und der ehemaligen Regierungspartei in der Wende ist heute - ein Jahr vor den nächsten Wahlen - Gegenstand von sonderbaren Diskussionen. In der Zeit als diese drei Bücher erschienen, beanspruchte jede politische Gruppe, die etwas auf sich hielt, die wichtigste Rolle im Umbruchprozeß gespielt zu haben. Damals waren drei oppositionelle Gruppen entstanden: eine sozialistische Gruppe innerhalb der Staatspartei, die sich aus linksgerichteten bzw. zentristischen sozialdemokratischen und antistalinistisch-kommunistischen Gruppen zusammensetzte, zweitens eine liberale Gruppe sowie drittens eine konservative Richtung, die sich ursprünglich auf die größte Partei der Nachkriegszeit, auf die Kleinelandwirtepartei berief, dann aber eine neue Partei mit einem gemäßigten Programm gründete.Jörg K. Hoensch, der auch die Geschichte dieser oppositionellen Gruppen beschreibt, bewertet den Anteil dieser Gruppen bei der Systemveränderung unterschiedlich. Im Gegensatz zu Dalos schreibt er schon im Vorwort seines Buches: \"In einer friedlichen Revolution, die von den reformbereiten Kräften innerhalb der monopolistischen Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei 1988 initiiert[...] wurde, hat Ungarn aus eigener Kraft den Weg in die Richtung einer parlamentarischen Demokratie und sozialen Marktwirtschaft eingeschlagen\" (7).Während Dalos und Hoensch unterschiedlichen Gruppen eine entscheidende Rolle im Spannungsfeld der Systemänderung beimessen, stimmen sie darin überein, daß die oppositionellen Gruppen in ihrer Gesamtheit die treibenden Kräfte in Ungarn gewesen sind, deren Aktivitäten positiv zu bewerten sind.Im Gegensatz dazu betrachten die Verfasser des Bandes \"Umbruch in Ungarn\" deren Rolle bei weitem nicht als eindeutig positiv. Susan Zimmermann schreibt über das Geschehene: \"Die Entfernung der alten, \'monopolistischen\' Staatsmacht als Sündenbock für die schon vor dem \'Systemwechsel\' begonnene und seither fortgesetzte \'Anpassung\' der Wirtschafts- und Sozialpolitik hat die Bevölkerungsmehrheit ohne greifbare wirtschaftliche und politische Alternative zurückgelassen\" (27).Die Grundkonzeption dieses Bandes weicht jedoch nicht eben darin am markantesten von den beiden vorhergehenden ab, weil sowohl Dalos als auch Hoensch andeuten, daß die bisherige Entwicklung nicht die Verwirklichung der Demokratie mit sich brachte. Der wichtigste Unterschied besteht darin, daß die Verfasser des Sammelbandes \"Umbruch in Ungarn\" die Ursache der Systemänderung eindeutig in den veränderten internationalen Bedingungen sehen. Das Hauptaugenmerk liegt dabei weniger auf der Gorbatschow-Politik, sondern vielmehr auf den Vorgängen in der kapitalistischen Weltwirtschaft. Ihre nachdenkliche These formulieren sie im Vorwort folgendermaßen: \"Der \'Ostblock\' war ein nützliches Instrument, das die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der osteuropäischen Peripherie vom Westen fernhielt. Als die Weltwirtschaft Anfang der siebziger Jahre - wieder einmal - in eine tiefe Krise geriet, war es mit der westlichen Duldung des \'realen Sozialismus\' vorbei [... ]. Der Osten wurde als Abnehmer von Waren und Krediten sowie als billiger Produktionsstandort interessant\" (78).Das Bild Ungarns, das Franz Delapina und Andrea Komlosy in ihrem Beitrag als Antwort auf den Wunsch und die Hoffnung der Ungarn zeichnen, nach Europa \"heimzukehren\", verdüstert sich noch mehr durch ihre Formulierung: Ungarn ist heute zurückkehrt \"in ein imperialistisches, kriegerisches, von Nationalismen und sozialen Gegensätzen gebeuteltes Europa\" (131).Diese Sicht der Dinge teilt Jörg K. Hoenschs nicht. Sein Buch, das die Geschichte Ungarns seit der Staatsgründung im Herbst des Jahres 895 behandelt, ist sehr empfehlenswert, da es eine sehr gut zusammengestellte Zeittafel, Kurzbiographien und eine ausgewählte Bibliographie der westlichen Neuerscheinungen der achtziger Jahre enthält. 396 IHK 1993SammelrezensionenDagegen ist die Studie von Dalos mit dem Untertitel \"Eine Utopie\", die im Frühjahr 1985, also noch vor den Ereignissen geschrieben wurde, in seiner Aussage zu den Zukunftsperspektiven Ungarns nahezu identisch mit den Thesen der wirtschafts- und sozialgeschichtlich orientierten Verfasser des Bandes \"Umbruch in Ungarn\". Dalos beschreibt sein Bild eines zukünftigen Ungarns im Jahre 1985 wie folgt: \"Durch freie Wahlen, an denen mehrere Parteien teilnehmen dürfen, schaffen sie ihre parlamentarischen Institutionen, sie öffnen die Grenzen und garantieren die Freiheitsrechte, einschließlich eines vernünftig beschränkten Privatbesitzes. Alles andere - das McDonald\'s Netz, die Arbeitslosigkeit, die Peep-Shows kommen von selbst\" ( l l 1).Die Wirklichkeit übertraf freilich jede Phantasie. Wer hätte wohl 1985 gedacht, daß das Kadar-System sehr zum Mißfallen Honeckers, Ungarn zu einem Treffpunkt der Deutschen beider Staaten machte oder den tschechoslowakischen Emigranten gegen Husak helfen würde? Ja mehr noch, daß es auch seine Grenzen öffnen und damit die Berliner Mauer sinnlos machen würde, jene Mauer, die dann alsbald von selbst zusammenstürzte. Und wer hätte gedacht, daß mit diesem Schritt binnen sehr kurzer Zeit das Ende einer Weltordnung eingeleitet werden würde: Mit dem Untergang der Sowjetunion entwickelte sich die bipolare Weltordnung nicht durch den erwarteten Eintritt einer dritten (Japan) oder einer vierten Macht (Vereinigtes Europa) in Richtung einer Tri- oder Quadripolarität, sondern die Welt ist unipolar geworden. Noch weniger konnte man sich vorstellen, daß sich Völker verschiedener Nationalitäten, die bislang friedlich zusammengelebt hatten, in grausamen Kriegen bekämpfen, egal ob dies an den Grenzen Ungarns, in Asien, auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion geschieht.Und wer hätte gedacht, daß der in der Soziologie als \"Transformation\" bezeichnete Vorgang wieder das Erscheinen des von seinen Produktionsmitteln und von seinem Eigentum beraubten Proletariats mit sich bringen würde? Oder gar, daß das Ende der staatlichen Redistribution eine noch nie dagewesene Krise der ungarischen Industrie und der gut funktionierenden Landwirtschaft herbeiführen würde, daß das vorher völlig unbekannte Phänomen der Arbeitslosigkeit etwa 15 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung Ungarns betreffen würde?Diese Entwicklung konnten weder Wissenschaftler noch jene Wähler vorhersehen, die nicht für bestimmte Parteien - die sie ja noch nicht kennen konnten -, sondern für die Veränderung und gegen die \"Staatspartei\" gestimmt hatten. Sie stimmten dafür, daß nach den Wahlen der bescheidene \"Gulaschkommunismus\" durch das reiche Warenangebot der Kärntnerstraße abgelöst wird und dieses Angebot auch bezahlbar sein möge. Sie tragen keine Schuld daran, daß dies nicht so eintraf. Bei der nächsten Wahl 1994 werden sie erneut ihre Stimme vergeben können, dann aber mit einer besseren Kenntnis der Parteien.Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die drei besprochenen Werke wesentlich zum Verständnis des Beginns und der ersten Phase des Umbruchprozesses in Ungarn seit 1989 beitragen können. Sie sind daher sowohl für deutsche und als auch ungarische Leser empfehlenswert. SammelrezensionenJHK 1993 397Heinrich Bortfeldt (Berlin)Auf der Suche nach Vergangenheit und ZukunftBrie, Michael/Klein, Dieter (Hrsg.): Zwischen den Zeiten. Ein Jahrhundert verabschiedet sich. VSA-Verlag, Hamburg 1992, 239 S.Gysi, Gregor: Einspruch! Gespräche, Briefe, Reden. Hrsg. von Hanno Harnisch und Hannelore Heider. 2. erw. Aufl., Alexander Verlag, Berlin 1992, 435 S.Gysi, Gregor/Heuer, Uwe-Jens/Schumann, Michael (Hrsg.): Zweigeteilt. Über den Umgang mit der SEDVergangenheit. VSA-Verlag, Hamburg 1992, 255 S.Modrow, Hans: Aufbruch und Ende. Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1991, 188 S.Der Untergang der DDR vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des osteuropäischen Kommunismus hat eine Flut an Publikationen hervorgebracht. Akteure, Zeitzeugen, Publizisten und Wissenschaftler werden noch lange damit beschäftigt sein, dieses Phänomen aufzuarbeiten und zu erklären. Dabei reduziert sich das Nachdenken über Wurzeln, Mechanismen und Folgen des Staatssozialismus noch vielfach auf eine Dämonisierung des Staatssicherheitsapparates, und dabei bleibt dessen Verzahnung mit der machttragenden SED mitunter unterbelichtet. Demgegenüber steht eine in der Rückblende oftmals idealisierte Demokratie- und Bürgerbewegung in der sogenannten Wendezeit. Bei der Aufarbeitung der kartenhausartigen Implosion der DDR mit ihrem staatssozialistischen System sind Erinnerungsberichte von damaligen Machthabern unerläßlich. Ihre biographischen Zeugnisse ermöglichen tiefere Einblicke in Mechanismen des Herrschaftsapparates und in psychologische Strukturen der Machtausübung. Auch greifen jene verstärkt wieder bei zeitweise gelähmten (linken) Theoretiker in die \"Sozialismusdiskussion\" ein, die damals in ihren Prognosen für eine demokratisierte DDR oder eine nachholende Modernisierung im Ostblock von der rasanten Entwicklung und den ernüchternden (ökonomischen) Tatsachen überholt worden waren.Zu den Versuchen, sich zu erinnern und die Vergangenheit zu befragen, auch um Fragen an Gegenwart und Zukunft zu stellen, gehören die vorgestellten Bücher. Ihre Autoren erheben den Anspruch, einen Beitrag zur Aufarbeitung von DDR-, SED- und MfS-Geschichte zu leisten, wollen zuzüglich ihre Reflexionen zum gegenwärtigen deutschen Einheitsprozeß einbringen und sich zu den Chancen sozialistischer Ideen in der Zukunft äußern.Mit Hans Modrow meldet sich der letzte Ministerpräsident der DDR aus der Zeit vor der ersten demokratischen Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990 zu Wort. Seine Regierungszeit begann vier Tage nach Maueröffnung und betrug nur 150 Tage. Modrow trug Verantwortung in einer Zeit sich überstürzender Ereignisse. Er trat an für demokratische Korrekturen am Staatssozialismus, nicht aber für einen Systemwechsel in der DDR; seine Amtszeit mündete in der Aussicht auf die schnelle deutsche Wiedervereinigung und der endgültigen Verdrängung der SED von der Macht. Dieser Zusammenbruch der DDR und ihrer staatstragenden Partei wird in Modrows Buch leider nur wenig spannungsgeladen widergespiegelt. Hinzu kommt eine gehörige Portion Wunschdenken.Der chronologisch gegliederte Band reflektiert das persönliche Erleben Modrows. Er stützt sich aber leider nicht auf Quellen. Modrow beginnt in seiner Darstellung mit den Umständen seines Amtsantrittes, beschreibt die Arbeit mit dem \"Runden Tisch\", die Einbindung der Opposition in die \"Regierung der nationalen Verantwortung\" und die deutsch-deutsche Annäherung. Seine Darstellung gewinnt immer dann, wenn er Politiker oder konkrete Gesprächssituationen beschreibt. Die Bonner Haltung - insbesondere die Kanzler Kohls - im deutschen Einigungsprozeß begleitet er kritisch und nicht ohne innere Verletztheit. 398 JHK 1993SammelrezensionenZweifellos war die Modrow-Regierung und insbesondere die Autorität des Ministerpräsidenten ein Garant für den friedlichen Charakter des Zusammenbruchs der DDR. Die eigene Regierungsarbeit überhöhend ist er bestrebt, sich von der, seiner Meinung nach, \"Übergabe-Regierung\" de Maiziere positiv abzuheben. Bei der Bewertung seiner Regierungszeit spielt die Staatssicherheit nur eine Nebenrolle. Insgesamt finden sich nur wenige selbstkritische Passagen. Eine Ausnahme ist sein Eingeständnis, erst sehr spät die \"Notwendigkeit\" erkannt zu haben, daß der Zwangs- und Unterdrückungsapparat der Stasi aufzulösen sei. Zwar will er nicht zurück zum Realsozialismus, aber eine frühere Kurskorrektur \"spätestens Mitte der siebziger Jahre\" (143) hätte seiner Meinung nach möglicherweise zum Erhalt des Sozialismus beigetragen. Mit dem Scheitern des Realsozialismus sei nicht der \"Traum vom Sozialismus ausgeträumt\" (155).Mit Gysis Buch \"Einspruch!\" liegen erstmals in Buchform Texte des damaligen PDS-Chefs aus der Zeit vom Spätherbst 1989 bis zum Sommer 1992 vor. Auch dieser Band ist chronologisch gegliedert und enthält u.a. Streitgespräche mit Wolfgang Thierse, Wolfgang Ullmann, Günter Gaus, Rudolf Bahro und Reiner Müller sowie Reden auf wichtigen PDS-Veranstaltungen, vor der Volkskammer und dem Bundestag. Der Band schließt mit dem Aufruf zur Gründung der \"Komitees für Gerechtigkeit\".Wer sich einen Überblick über die Entwicklung der politischen Argumentation des wohl originellsten politischen Talents der \"Wendezeit\" verschaffen will, findet hier in gedrängter Form eine nützliche und kurzweilige Lektüre. Wie ein roter Faden zieht sich der Gedanke durch das Buch, der Zusammenbruch des Realsozialismus sei nicht das Ende eines Traumes von einer sozial gerechten Welt, sondern die Chance, \"über vieles ganz neu nachzudenken\" (7). Dabei kommen die gegenwärtigen Industriegesellschaften in Gysis (oftmals einseitigem) Kapitalismusbild schlecht weg.Jan Osers (Mannheim)Der Zusammenbruch der SowjetsystemeMoulis, Vladislav/Valenta, Jaroslav/Vykoukal, Jiri P. (Hrsg.): Vznik, krize a rozpad sovetskeho bloku v Evropi 1944-1989 (Entstehung, Krise und Zerfall des Sowjetblocks in Europa 1944-1989). Amosium Servis, Ostrava 1991, 372 S. Mlynar Zdenek Krize v sovetskych systemech od Stalina k Gorbacovovi (Krisen in den Sowjetsystemen von Stalin bis Gorbatschow). Prospektum, Praha 1991, 150 S.Es ist nicht verwunderlich, daß nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus in den mittel- und osteuropäischen Staaten historische Studien erscheinen, die bemüht sind, die Problematik des erst kürzlich verschwundenen Gesellschaftssystems zu ergründen.Zu diesen Arbeiten gehört u.a. eine Studie, die ein Team von 17 Historikern des Instituts für die Geschichte Mittel- und Osteuropas der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften erstellt hat. In geraffter und recht übersichtlicher Form wird in dem Band die gesamte Entwicklung des Ostblocks nachgezeichnet.Begreiflicherweise stellen die Autoren die Frage nach den Gründen des Systemzusammenbruchs, den sie im sog. \"sozialistischen Konservatismus\" sehen, d.h. in der Tatsache, daß das System alle Bürgeraktivitäten eliminierte, die die führende Rolle der Kommunistischen Partei oder die Existenz der vertikalen Machtstrukturen hätten in Frage stellen können. Vielmehr ging es darum, die materielle Abhängigkeit der SammelrezensionenJHK 1993 399Menschen vom Regime zu erhalten und so ein loyales, mindestens indifferentes Verhalten des Bürgers zu erreichen.Mit der Problematik des Systemzusammenbruchs beschäftigt sich wesentlich ausführlicher der ehemalige Dubcek-Berater und führende Theoretiker des Prager Frühlings, Zdenek Mlynar heute Professor für Politikwissenschaft in Innsbruck, der eine sehr fundierte theoretische Analyse des Sowjetsystems vorlegt.Seine Schlußfolgerungen sind z.T. ähnlich: Für das Sowjetsystem sei u.a. charakteristisch, daß es sich seit den dreißiger Jahren kaum verändert habe. Oberstes Ziel sei stets die Erhaltung der bestehenden Machtstrukturen gewesen, der alle sozialen Bedürfnisse der Bürger hätten untergeordnet werden müssen. Die Menschen hätten daher nie die Möglichkeit gehabt, ihre Geschicke selbst zu lenken, was sich besonders negativ im ökonomischen Bereich ausgewirkt habe. Den sozialistischen Betrieben habe nämlich jegliche Autonomie, die Voraussetzung für ökonomisch effiziente Entscheidungen, gefehlt.Interessant ist Mlynar Bewertung der Reformfähigkeit des Systems. Wahrscheinlich bedingt durch sein Engagement im und für den Prager Frühling hält er - anders als die Autoren des eingangs besprochenen Bandes, die eine grundlegende und erfolgreiche Systemveränderung als \"Reformversuch des Nichtreformierbaren\" beurteilen - den Zusammenbruch des Realsozialismus keineswegs für das Indiz einer prinzipiellen Reformunfähigkeit. Lediglich der richtige Zeitpunkt für eine umfassende und qualitative Veränderung sei versäumt worden. Wären - so Mlynar - auf Chruschtschows Reformversuche unmittelbar diejenigen Gorbatschows gefolgt, hätten sie durchaus erfolgreich sein können. Erst die zwischen ihnen liegenden zwanzig Jahre der Stagnation hätten eine Situation entstehen lassen, in der der Zusammenbruch sowohl aus objektiven als auch aus subjektiven Gründen unausweichlich wurde.Reiner Tosstorff (Frankfurt/M.)Britischer KommunismusThompson, Willie: The Good Old Cause. British Communism 1920-1991. Pluto Press, London 1992,258 s.About Turn. The British Communist Party and the Second World War. The Verbatim Record of the Central Committee Meetings of 25 September and 2-3 October 1939. Hrsg. von King, Francis/Matthews, George. Lawrence & Wishart, London 1990, 318 S. Tsuzuki, Chushishi: Tom Mann, 1856-1941. The Challenges o.f Labour. Clarendon Press, Oxford 1991, 288 S. Wicks, Harry: Keeping My Head. The Memoirs of a British Bolshevik. Socialist Platform, London 1992, 226S.Wie Willie Thompson in seiner Einleitung zu Recht betont, spielte die britische KP zwar immer eine marginale, aber niemals gänzlich unbedeutende Rolle. Geprägt war sie dadurch, daß sie im Unterschied zu den meisten KPs nicht aus Abspaltungen der Sozialdemokratie entstanden war, sondern aus der Fusion minoritärer Organisationen, die sich, z.T. vom Syndikalismus geprägt, im \"Labour Unrest\" in den Jahren vor 1914 in Opposition zur etablierten Führung der Trade Unions und zur neugegründeten Labour Party gebildet hatten. Dies verschaffte dem britischen Kommunismus zwar in seinen ersten Jahrzehnten einen stark proletarischen Charakter, prägte aber sicherlich ebenso sein Selbstverständnis als Minderheitsorgani- 400 JHK 1993Sammelrezensionensation. Doch lag seine Bedeutung auch darin, in der bis zum Ersten Weltkrieg stärksten Industriemacht und dem \"Mutterland\" des Empire zu agieren. Dadurch bekam er in der internationalen Bewegung einen unverhältnismäßigen Stellenwert.Demgegenüber war sein Erscheinungsbild in den letzten Jahrzehnten vor allem durch die Vorreiterrolle als Partei des entschiedenen Eurokommunismus geprägt, bestimmt etwa durch international bekannte Intellektuelle wie den Historiker Eric Hobsbawm oder durch die Zeitschrift Marxism Today, was andererseits einen endemischen Fraktionskampf und eine Reihe von Abspaltungen hervorrief. Sie gehörte dann Ende 1991 zu den wenigen westlichen KPs, die sich - nach dem Zusammenbruch des \"sozialistischen Lagers\" - in ihrer bisherigen Form auflösten und in anderer Gestalt und unter anderem Namen - hier als \"Democratic Left\" - neu konstituierten.Thompson, Historiker am Glasgow Polytechnic und seit Jahren der \"Historians\' Group\" der Partei zugehörig, hat eine angesichts des knappen Umfangs notwendigerweise extrem gedrängte Tour de force durch die 71 Jahre des britischen Kommunismus vorgelegt. Die Darstellung basiert, vor allem für die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg, im wesentlichen auf der Auswertung der Sekundärliteratur, läßt dann aber für die letzte Zeit die eigenen Erfahrungen einfließen, zudem auch viele informelle Interviews mit langjährigen Mitgliedern. Auf die Auswertung des Parteiarchivs hat er mit dem etwas merkwürdigen Argument verzichtet, die Bemühungen der Partei um die Fortsetzung ihrer offiziellen Parteigeschichte (von der bereits drei, den Zeitraum bis 1941 abdeckende Bände erschienen sind) nicht behindern zu wollen.Das auf diese Weise zustandegekommene Buch liefert so zwar einen knappen Gesamtüberblick, ist jedoch in mancherlei Hinsicht unbefriedigend. So werden die ersten Jahrzehnte allzu dürftig abgehandelt. Etwas zugespitzt gesagt, werden hier nur Stichworte geliefert, denen man dann mit Hilfe seiner Verweise in der Sekundärliteratur nachgehen kann. Der Schwerpunkt liegt auf der Zeit nach 1951, als die britische Partei mit einem neuen Programm - und mit dem Segen Stalins - als erste KP in einem westlichen Land den \"friedlichen Weg\" zum Sozialismus proklamierte. Hier fühlt sich der Verfasser auch politisch zu Hause, beschreibt er doch damit eine der Wurzeln des \"Eurokommunismus\", für dessen britische Variante, wie sie sich in Marxism Today seit den siebziger Jahren darstellte, er bei allen Bemühungen um eine gleichgewichtige Darstellung deutlich seine Sympathien spüren läßt.Eine besondere Vorliebe hat der Autor auch für die vielen seit 1956 die Partei ständig erschütternden Fraktions- und Machtkämpfe, die vergleichsweise üppig geschildert werden, wie überhaupt sich seine Darstellung auf die Führungsebene konzentriert. Allerdings gibt es gelegentliche Hinweise auf die Milieus, in denen die Partei Wurzeln fassen konnte, sowie auf ihre organisatorischen Strukturen. Was leider fehlt, sind Ausführungen zur internationalen Rolle der Partei (z.B. die Anleitungsfunktionen gegenüber den Parteien in den Kolonien). Dagegen verzichtet er nicht auf die Erwähnung der häßlichen Aspekte des britischen Stalinismus, etwa die Propagandakampagnen für die Moskauer Prozesse, die Finanzierung der Partei durch die KPdSU (soweit sich das bis heute schon dokumentieren läßt). Wenn es ihm im gewissen Sinne auch um eine Apologie ihrer Mitglieder geht, deren Motive andere als die der Stützung einer blutrünstigen Diktatur gewesen seien, scheint doch sein Gesamturteil, obgleich er es nicht explizit ausführt, darauf hinauszulaufen, daß die Partei wie die bolschewistische Revolution selbst ein schon von Anfang an zum Scheitern verurteiltes Unternehmen gewesen war.Sicherlich ebenfalls ein besonders abstoßendes Kapitel in der Geschichte der britischen KP war deren Verhalten nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, in den Jahren des Hitler-Stalin-Paktes. Wie in deren Leitung die aus dem Pakt folgende neue Linie - der Weltkrieg ist ein imperialistischer Krieg, für den Großbritannien und Frankreich die Hauptverantwortung tragen, was auf eine \'dezente\' Unterstützung Deutschlands hinauslief - durchgesetzt wurde, dokumentieren die von Francis King und George Matthews im ehemaligen Parteiverlag herausgegebenen Protokolle zweier ZK-Sitzungen. SammelrezensionenJHK 1993 401Kurios ist, daß diese Protokolle der britischen KP jahrzehntelang nicht mehr zur Verfügung standen, da sie noch 1939 nach Moskau geschickt worden waren (während die Mitglieder über diese Diskussionen an der Spitze erst gar nicht informiert wurden). Jahrelange Versuche, sie von dort zurückzuerhalten, scheiterten. Erst unter Gorbatschow erhielt die britische KP im Jahre 1989 einen Mikrofilm davon, der die Grundlage für diese Veröffentlichung lieferte. 1Sie wird von Monty Johnstone eingeleitet, der anhand des Kominternarchivs die \'Meinungsbildung\' in der Komintern-Führung, d.h. die Durchsetzung der von Stalin an Dimitrow gegebenen Direktiven, skizziert und dann die Diskussionen in der britischen Partei nachzeichnet. Das besondere daran ist, daß sie in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn noch fest die alte \'antifaschistische\' Linie vertrat. Noch auf einer ZK-Sitzung am 24. September wurde sie bestätigt, trotz erster Anzeichen, daß Moskau eine neue Linie angeordnet hatte. Aber erst am folgenden Tag kam ein britischer Vertreter von dort zurück und brachte dem noch tagenden ZK entsprechende Direktiven. Auf einer erneuten ZK-Sitzung am 2./3. Oktober wurde dann der Linienwechsel vollzogen - interessanterweise gegen drei Stimmen. In den hier veröffentlichten Protokollen - aus Platzgründen ist nur die Diskussion vom 2./3. Oktober vollständig dokumentiert, von der Sitzung am 24./25. September wird nur der Bericht einschließlich der folgenden Diskussion des aus Moskau zurückgekehrten britischen Vertreters abgedruckt und ansonsten eine ausführliche Zusammenfassung in der Einleitung gegeben - kann man nachlesen, wie die große Mehrheit der ZK-Mitglieder innerhalb einer Woche die Kehrtwendung vollzog. Alle Argumente wurden mit der Begründung umgedreht, die Sowjetunion, die Komintern könnten nicht irren, sie wüßten in Moskau mehr als in London usw. Die zuvor, nach Kriegbeginn beschlossenen Stellungnahmen wurden nun in Bausch und Bogen verdammt. Der Gebrauchswert dieser Dokumentation wird noch durch Erläuterungen in Fußnoten, einen biographischen Anhang sowie ein ausführliches Register erhöht.Die hier dokumentierte Diskussion zeigt im übrigen auch, wie falsch es ist, wie das etwa Thompson in seiner Geschichte unter Berufung auf Hobsbawm darzustellen versuchte, die Komintern-Taktik von I939 an als Wiederholung der Antikriegs-Politik der radikalen Linken nach 1914 auszugeben. In letzterem Fall war der Internationalismus das Motiv, 1939 ging es einzig und allein um die Rechtfertigung Stalins und der sowjetischen Außenpolitik.Zwei ganz unterschiedliche Typen von \"Parteikadern\", die zugleich auch verschiedene Entwicklungsetappen des britischen Kommunismus verkörpern, werden durch die Biographie von Tom Mann und durch die Autobiographie von Harry Wicks beschrieben.Mann, Jahrgang 1856, repräsentiert den Übergang vom Radikalismus der Jahre vor 1914 zu den Gründerjahren der Partei. Zu einem international bekannten Arbeiterführer wurde er durch seine Rolle beim Londoner Hafenarbeiterstreik von 1889. Nach Beteiligung an der Independent Labour Party wandte er sich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in der er sich auch mehrere Jahre in den verschiedensten angelsächsischen Ländern aufhielt, der syndikalistischen Propaganda unter den britischen Gewerkschaften zu.Als radikaler Aktivist aus der Gewerkschaftsbewegung (er war zuletzt bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1921 Gewerkschaftssekretär) stieß er zur britischen KP. Im Gewerkschaftssektor des internationalen Kommunismus nahm er als Mitbegründer der Roten Gewerkschafts-Internationale im Jahre 1921 und deren langjähriges Leitungsmitglied sowie als Präsident des I924 gegründeten National Monority Movement, des pro-kommunistischen Flügels im TUC, eine herausragende Stellung ein. In den vielfältigen in-Allerdings verfügte der britische Geheimdienst über sie ebenfalls bereits seit 1939, rückte sie aber genauso wenig heraus. Da jedoch auf diesem Weg Auszüge in britische Kabinettsprotokolle während des Krieges gekommen waren und diese schon vor längerem zugänglich gemacht wurden, konnte der Verlauf der Diskussionen zumindest schon ansatzweise wiedergegeben werden, so z. B. in einer früheren Veröffentlichung der britischen KP, in der eine 1979 stattgefundene Konferenz zu diesem Themenkomplex dokumentiert wurde. 402 JHK 1993Sammelrezensionenneren Auseinandersetzungen um die politische Linie wie auch an der administrativen Arbeit der Leitungsorgane, denen er angehörte, spielte er jedoch keine aktive Rolle. Sicher lag das nicht nur an seinem Alter, sondern auch an seinem ganzen Typus, den er als das genaue Gegenteil eines Parteipolitikers darstellte. Zwar nahm er in allen wichtigen politischen Richtungskämpfen Stellung und war1\' dabei seinen Namen in die Waagschale, doch war seine Funktion im britischen und internationalen Kommunismus im wesentlichen repräsentativ (was aber nicht heißen muß: unwichtig). Vielleicht erklärt dies auch, daß, obwohl gerade viele ehemalige Syndikalisten im Laufe der Zeit ausgeschlossen wurden, er niemals davon betroffen war. Allerdings vollzog er auch immer alle Wechsel in der \'Generallinie\' mit (unterstützte allerdings im Jahre 1932, wohl wegen seiner früheren Bekanntschaft zu ihm, einen Protest gegen die Verhaftung des chinesischen Trotzkisten und KP-Begründers, Chen Duxiu).2Tsuzuki, japanischer Historiker der britischen Arbeiterbewegung, hat nun eine Biographie vorgelegt, in deren Mittelpunkt natürlich Manns aktive Rolle bis zum Zweiten Weltkrieg steht (wobei ihm auf S. 167 ein grober Schnitzer unterläuft, als er den internationalen syndikalistischen Kongreß in London im Jahre 1913 als ein nicht-realisiertes Projekt darstellt). Seine kommunistische Phase macht demgegenüber nur ein Viertel des Umfangs aus, was ja auch ihrer tatsächlichen Rolle in seinem Leben entspricht.3 Ein besonderes Kapitel widmet der Autor Manns Teilnahme an einer internationalen kommunistischen Delegation während der chinesischen Revolution im Frühjahr 1927.Die Darstellung dieser Jahre beruht im wesentlichen auf Manns Nachlaß - vor allem seinen vielen Briefen - und auf der Memoiren- und Sekundärliteratur. Auf dieser Materialbasis erscheint jener erste Lebensabschnitt im Vergleich zu den vorhergehenden allzu knapp dargestellt, manchmal ergeht sich Tsuzuki richtiggehend nur in Andeutungen, so als ob er dem Autor nach der Beschreibung eines im wahrsten Sinne des Wortes bereits \"erfüllten\" Lebens nicht mehr allzu wichtig erschienen. Hätte nicht etwa, z.B. die Auswertung der Veröffentlichungen der Roten Gewerkschafts-Internationale durchaus noch den einen oder anderen Akzent setzen und sogar eine dichtere Darstellung erlauben können? Insofern ist Tsuzukis Arbeit \"zu früh\" erschienen, da deren Archiv erst nach ihrer Publikation die Tore öffnete, so daß bei allem Nutzen sie vielleicht für diesen Bereich doch noch bald ergänzt werden muß.Im Gegensatz zu Mann gehörte Harry Wicks, Jahrgang 1905, zu den Begründern des britischen Trotzkismus. Als Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes und einer seiner führenden Aktivisten während des Generalstreiks von 1926, wurde er Ende 1927 nach Moskau auf die Lenin-Schule der Komintern geschickt. In den drei Jahren, die er dort blieb, brach er mit dem Kommunismus Stalinscher Prägung, worin er nach seiner Rückkehr nach Großbritannien durch das Desaster der \"Sozialfaschismus\"-Politik noch bekräftigt wurde. Aus der KP im Jahre 1932 ausgeschlossen, war er in der Folgezeit bis zu seinem Tod im Jahre 1989 aktiver britischer Trotzkist.Mitte der siebziger Jahre begann er damit, seine Erinnerungen auf Band zu sprechen, die von Logie Barrow bearbeitet und von Wicks dann erneut durchgesehen wurden. Er skizziert darin seinen Geburtsort, den proletarischen Battersea-Bezirk Londons, und schildert seine Aktivitäten in der kommunistischen Jugend. Besonders informativ und ausführlich ist das Kapitel über die Lenin-Schule, in der er vielen späteren KP-Führern aus aller Welt begegnete, aber auch über die Schule hinaus den Kontakt zu den Realitäten Rußlands fand. Weitere Abschnitte sind den Anfängen des britischen Trotzkismus und einer Besprechung der internationalen Linksopposition Ende 1932 in Kopenhagen am Rande eines öffentlichen Auftritts Trotzkis gewidmet. Ein letztes Kapitel, das er nicht mehr durchsehen konnte und deshalb aus verschiede-2 Dies wird in der weiter unten besprochenen Autobiographie von Harry Wicks, S. 172f., erwähnt. 3 Eine weitere Biographie - Joseph White: Tom Mann, Manchester, New York 1991 - soll hier aus-drücklich erwähnt werden, da in ihr Manns kommunistische Jahre nur auf wenigen Seiten skizziert werden. SammelrezensionenJHK 1993 403nen Fragmenten zusammengesetzt wurde, geht den Irrungen und Wirrungen des britischen Trotzkismus zwischen 1933 und 1946 nach. Beigegeben sind ein Anhang mit Kurzbiographien und ein Register.Herausgekommen sind auf diese Weise lebendig geschriebene, instruktive Erinnerungen, die über die politischen Informationen hinaus auch vielfältige Einblicke in das Alltagsleben der britischen Arbeiterklasse und die \"politische Kultur\" der radikalen Linken jener Jahre gewähren.Jan Osers (Mannheim)SchauprozesseSiska, Miroslav: \"Verschwörer, Spione, Staatsfeinde... \". Politische Prozesse in der Tschechoslowakei 1948-1954. Dietz Verlag, Berlin 1991, 167 S.Kaplan, Kare/: Zprdva o zavrazdeni generdln{ho tajemn{ka (Nachricht von der Ermordung des Generalsekretärs). Mladäfronta, Praha 1992, 303 S.Szasz Bela: Freiwillige für den Galgen. Reclam Verlag, Leipzig 1991, 331 S.Maderthaner, Wolfgang u.a. (Hg.): \"Ich habe den Tod verdient\". Schauprozesse und politische Verfolgung in Mittel- und Osteuropa 1945-1956. Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1991, 223 S.Ben§{k, Anton{n/Kural, Vdclav: Zpravodajove generala Piky a ti druz{ (Die Nachrichtendienst/er des Generals Pika und die anderen). Merkur Verlag, Praha 1991, 79 S.Seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Ostmittel- und Südosteuropa hat ein Thema bei der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit jenseits des einstigen \"Eisernen Vorhangs\" Hochkonjunktur: Die Schauprozesse, das wohl düsterste Kapitel in der Geschichte der überwundenen Sowjetsysteme.Zu den Arbeiten, die sich mit dieser Problematik auseinandersetzen, gehört die unter dem Titel \"Verschwörer, Spione, Staatsfeinde... \" erschienene Studie, die elf, ursprünglich in der Prager Tageszeitung \"Rude Pravo\" publizierte Beiträge des tschechischen Historikers Miroslav Siska, eingeleitet von seinem deutschen Kollegen Eckart Mehl, umfaßt. Der Autor versucht, einem breiten, überwiegend wohl nur lükkenhaft informierten Leserkreis einen allgemeinen Überblick über Entstehung und Verlauf der Schauprozesse in der Tschechoslowakei sowie über die zahlreichen Rehabilitierungsversuche der sechziger Jahre zu vermitteln. Dabei steht der Prozeß gegen den ehemaligen KP-Generalsekretär Rudolf Slansky der wohl größte Schauprozeß der Nachkriegszeit, im Mittelpunkt.Die Politischen Prozesse in der ehemaligen CSSR stellen nach Siska weder einen nationalen Sonderfall noch eine zufällige Erscheinung in der Nachkriegsentwicklung des Landes dar, wenngleich sich Ausmaß und Charakter der tschechoslowakischen Prozesse wesentlich von den vorangegangenen in Bulgarien, Rumänien und Ungarn unterschieden. Die Anzahl der Opfer in der CSSR war erheblich größer als in den anderen Ländern. Von den im Zeitraum Herbst 1949 bis Ende 1952 wegen \"staatsfeindlicher Tätigkeit\" angeklagten 27 000 Menschen wurden 232 zum Tode verurteilt und l72 tatsächlich hingerichtet.Während in den anderen Staaten die Angeklagten als \"verlängerter Arm Titos\" bezeichnet wurden, konzentrierten sich die Anschuldigungen in der ehemaligen CSSR infolge der veränderten politischen Lage vorrangig auf die des \"Zionismus\", was ihnen einen stark antisemitischen Charakter verlieh., Bemerkenswert ist, daß auch nach Chruschtschows Enthüllungen auf dem XX. Parteitag der KPdSU die Prozesse 404 JHK 1993Sammelrezensionenweitergingen und Rehabilitierungsprozesse äußerst schleppend in Gang kamen und sehr inkonsequent durchgeführt wurden.Eine wesentlich profundere Darstellung des Slansky-Prozesses liefert der bekannte tschechische Historiker Kare! Kaplan, der als der wohl beste Kenner dieser Materie gelten kann. Kaplan beschäftigte sich jahrelang mit der tschechoslowakischen Nachkriegsgeschichte und hatte als Sekretär einer Rehabilitierungskommission 1968/69 Zutritt zu den Geheimarchiven der KPC.Die hier vorliegende Studie ist keineswegs Kaplans erstes Buch zu dieser Thematik, doch betrachtet er sie hier aus einem neuen Blickwinkel: Im Mittelpunkt stehen die politisch motivierte Konstruktion des Prozeßszenarios und die willkürliche Auswahl der unschuldigen Opfer, die beide jeweils der Veränderung der politischen Lage zu folgen hatten.Außerdem standen Kaplan offensichtlich auch neue Quellen zur Verfügung, so etwa die Berichte von Slanskys \"Mithäftling\", der als Spitzel für die Staatspolizei arbeitete und vieles bislang Unbekannte über Verhalten, Reaktionen und Gemütszustände seines Zellengenossen zu berichten weiß. Somit gewährt Kaplans Arbeit tiefere Einblicke in die Psyche Slanskys, der - wie viele seiner Leidensgenossen - als gläubiger Kommunist davon überzeugt war, daß alle übrigen Häftlinge zurecht einsäßen, während er selbst das unschuldige Opfer eines Justizirrtums sei.Mit der Problematik der Schauprozesse der Nachkriegsjahre befaßt sich auch die neu aufgelegte Autobiographie des ehemaligen politischen Häftlings aus Ungarn, Bela Sasz, die durch ihre Unmittelbarkeit zu den erschütterndsten Dokumenten aus jener Zeit gehört. Aus der Emigration 1946 nach Ungarn zurückgekehrt, übernahm er, seit den dreißiger Jahren in der KP Ungarns tätig, wichtige Regierungsfunktionen, bevor man ihn 1949 völlig überraschend verhaftete und in einem sog. Nebenprozeß - der Hauptprozeß wurde gegen Rajk geführt - zu 10 Jahren Haft verurteilte. 1954 wird er entlassen und rehabilitiert, jegliche weitere politische Tätigkeit lehnt er jedoch ab. Nach der Volkserhebung 1956 emigriert er in den Westen.Der Autor schildert in seinen Memoiren sehr eindringlich die Umstände seiner Verhaftung, die äußerst brutalen Foltermethoden der ungarischen Staatssicherheit und die Haftbedingungen in den verschiedenen Strafanstalten. Auch aus Sasz\' Darstellung geht hervor, daß die treibende Kraft hinter allen Schauprozessen in Osteuropa die sowjetische Geheimpolizei war, die präventiv alle selbständig und kritisch Denkenden beseitigen sowie einen möglichen titoistischen Einfluß aus Jugoslawien neutralisieren wollte. Zudem sollten die einst in der Emigration im Westen sowie die in Ungarn im Widerstand tätigen Kommunisten eliminiert werden, um der aus der Sowjetunion zurückgekehrten moskauhörigen Führungsgarnitur der KP (Rakosi, Gerö u.a.) das Machtmonopol zu sichern.Sasz sieht auch einen direkten Zusammenhang zwischen den Folgen der Schauprozesse und der ungarischen Volkserhebung 1956. Rakosi, der als Generalsekretär der KP die Hauptverantwortung für die Prozesse trug, fand nicht die Kraft, seine Schuld öffentlich zu bekennen und die Opfer kompromißlos zu rehabilitieren. Dadurch verlor die Bevölkerung ihr Vertrauen nicht nur in ihn, sondern auch in die Partei.Um einen Überblick der Schauprozesse des ersten Nachkriegsjahrzehnts in Ost- und Mitteleuropa bemüht sich der von Maderthaner, Schafranek und Unfried herausgegebene Sammelband, der die Beiträge zu einem 1990 in Wien veranstalteten Symposium über stalinistische Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen wiedergibt. Allerdings führt der Untertitel in seiner geographischen Beschränkung auf den Raum jenseits des einstigen \"Eisernen Vorhangs\" etwas in die Irre, werden doch auch Säuberungen in einigen westeuropäischen kommunistischen Parteien (Deutschland, Frankreich, Spanien und Österreich) untersucht.Während in den ehemals sozialistischen Staaten Terror und Verfolgung - in Regie der jeweiligen KP von den Staatsorganen (Polizei und Gerichte) ausgeübt wurden, mußten im Westen die Säuberungen innerparteilich vonstatten gehen. Das schloß aber keinesfalls aus, daß solche von der Partei verhängte Strafen für die unschuldig Betroffenen ebenfalls ein einschneidendes Schockerlebnis darstellten. SammelrezensionenJHK 1993 405Gewisse Unterschiede lassen sich auch bei der Durchführung der Schauprozesse in den einzelnen osteuropäischen Staaten feststellen, wenngleich für ihren Ablauf stets der sowjetische Geheimdienst die Verantwortung trug. So wählte z.B. der damalige rumänische Parteichef Georghiu-Dej selbst die Opfer aus und beglich derart persönliche Rechnungen mit seinen Rivalen. Nur der Tod Stalins 1953 verhinderte hier den Beginn eines großen Schauprozesses.Auch in der ehemaligen DDR kam es zu keinem Schauprozeß. Dies ist weniger zurückzuführen auf Ulbrichts angebliche \"Standfestigkeit\" gegenüber Moskau als vielmehr auf die Tatsache, daß die Vorbereitungen für einen geplanten Schauprozeß nach Budapester oder Prager Vorbild durch Stalins Tod hinfällig wurden. Vielen unschuldigen Opfern hat dies eine langjährige Haftzeit allerdings nicht erspart.Mit der Problematik der Schauprozesse beschäftigt sich - allerdings nur am Rande - auch die historische Studie \"Die Nachrichtendienstler des Generals Pfka und die anderen\".Geschildert werden die Aktivitäten des tschechoslowakischen Generals Pfka im Widerstand gegen die deutschen Okkupanten im Zweiten Weltkrieg. Als Chef der tschechoslowakischen Militärmission in Istanbul und später in Moskau organisiert er 1940/41 zusammen mit sowjetischen Stellen den insgesamt wenig erfolgreichen Einsatz von Diversanten im Gebiet des \"Protektorats Böhmen und Mähren\". Hingewiesen wird auf die nicht unproblematische Zusammenarbeit zwischen tschechoslowakischen und sowjetischen Militärstellen, die vor allem aus dem Drängen der Sowjets nach größeren Zugeständnissen der Tschechoslowaken resultiert, die diese aber verweigern, weil - so der damalige Präsident Benes - die UdSSR dies als Ermunterung zur Sowjetisierung Mitteleuropas auslegen könnte.1949 wird General Pfka in einem Schauprozeß gegen hohe westlich orientierte Offiziere zum Tode verurteilt und hingerichtet. 19 Jahre später wird dieses Urteil aufgehoben und 1991 wird Pfka für seine Verdienste im tschechoslowakischen Widerstand in memoriam ausgezeichnet.Arnold Sywottek (Hamburg)DDR-Geschichtswissenschaft im UmbruchKrise - Umbruch - Neubeginn. Eine kritische und selbstkritische Dokumentation der DDR-Geschichtswissenschaft 1989/90. Hrsg. von Rainer Eckert, Wolfgang Küttler, Gustav Seeber. Mit einem Nachwort von Jürgen Kocka. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1992, 493 S. Konrad H. Jarausch (Hrsg.): Zwischen Parteilichkeit und Professionalität. Bilanz der Geschichtswissenschaft der DDR (Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin). Akademie-Verlag, Berlin 1991, 218 S. Brinks, Jan Herman: Die DDR-Geschichstwissenschaft auf dem Weg zur deutschen Einheit. Luther, Friedrich II. und Bismarck als Paradigma politischen Wandels. Campus Verlag, Frankfurt/M., New York 1992 (Campus Forschung, Bd. 685), 342 S.Die Auflösung der DDR hat schon mancherlei Dokumentierung und Analyse erfahren, und die von Eckert, Küttler und Seeber herausgegebene \"Dokumentation\" des Umbruchs in der DDR-Geschichtswissenschaft wird wohl nicht die erste sein, zu der künftig Historiker greifen werden, wenn sie sich über den vielgliedrigen und vielschichtigen Prozeß der Zusammenfügung Ost- und Westdeutschlands informieren wollen. Entstanden aus einem Versuch im Frühjahr 1990, die beginnende innerfachliche Auseinandersetzung zu stimulieren - das Wort \"Neubeginn\" im Titel mag sich daraus erklären-, spiegelt die Dokumentation eher 406 JHK 1993Sammelrezensionendas Ende der \"DDR-Geschichtswissenschaft\" und einige westdeutsche Historikerreaktionen darauf wie auf das Ende der DDR. Nicht von ungefähr schien es der Ostberliner Sozialhistorikerin Helga Schultz schon an der Jahreswende 1990/91, als spräche man von der DDR-Geschichtswissenschaft wie \"von einem toten Hund\" (452), obwohl sich die Historikergesellschaft der DDR im Februar 1990 eine neue Satzung gegeben hatte, die sie dem künftigen \"demokratischen Kapitalismus\" - so ihr Vorsitzender Heinrich Scheel - einfügen sollte (162-169). Zwar läd Jürgen Kocka, Promotor des Bandes, im Nachwort besonders auch die Historiker aus der DDR ein, die Diskussion von 1989 weiterzuführen - \"mit wissenschaftlichen Argumenten und universalistischen Perspektiven\" (479); doch was sollte die \"Beteiligten und Betroffenen\" (ebenda) veranlassen, dies jetzt noch zu tun? Die institutionellen Zusammenhänge, in denen sie zu reden und schreiben gewohnt waren und deren Veränderung manche Bemühungen Anfang 1990 noch galten, sind aufgelöst, \"evaluiert\", \"abgewickelt\" oder überformt - Vorgänge, von denen der Band nur in Andeutungen berichtet. Und ist 1989/90 wirklich diskutiert worden? Zum Abdruck gelangten hier jedenfalls eher isolierte Stellungnahmen. Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Historikern sind - aus sicherlich respektablen Gründen - nicht dokumentiert; doch gerade die \"personelle Dimension von Wissenschaft\", die zu DDR-Zeiten nicht voll zur Geltung kommen konnte und danach durch die Überformung von außen in den Hintergrund geriet,1 hätte bei der Erneuerung der DDR-Geschichtswissenschaft aus sich selbst heraus zum Thema gemacht werden müssen. Ohne sie bildet die Dokumentation nur ein Mosaik von \"Positionen\", die im Rückblick zu mustern allerdings nicht ohne Reiz ist. Die Dreiteilung des Bandes in die Abschnitte \"Die Krise des \'realen Sozialismus\' und das Ende der DDR\", \"Krise und Umbruch der DDR-Geschichtswissenschaft\'\' und \"Konkrete Felder der Auseinandersetzung\" ist dabei nur begrenzt hilfreich; eine schlichte chronologische Anordnung der Texte hätte die Reaktion der Historiker auf den Gang der Ereignisse - befördert haben sie ihn nicht erkennbar - in ihren speziellen Kompetenzen und Gebundenheiten deutlicher hervortreten lassen.Der Band wir eröffnet mit historisch-politischen Betrachtungen von Ernst Engelberg, die dieser Nestor der DDR-Geschichtswissenschaft schon im April 1989 in der Akademie der Wissenschaften vorgetragen hatte, für die sich aber erst am 16. November Platz zur Veröffentlichung fand, und zwar in der \"Berliner Zeitung\" (19-23). Auf wenigen Seiten stellte Engelberg damals über 60 Jahre \"Sozialismus\" zur Disposition, indem er ihm die Qualität einer \"Gesellschaftsformation\" absprach; er sei \"sachwidrig\" \"aufgebaut\" worden, habe sich nicht im hegelschen (!) Sinne \"entwickelt\". Engelberg forderte, \"sich vom Stalinschen Erbe zu befreien\", d.h. Auswirkungen und Folgen der Terrorherrschaft Stalins zu erforschen und darzustellen, um den \"Sozialismus\" als Bewegung und politische Ideologie \"zu sich selbst zurückfinden\" zu lassen.Die meisten der ostdeutschen Historiker, die in dieser Dokumentation zu Wort kommen, stießen zu so fundamentalen Revisionen herrschender Lehren nicht vor. Lediglich der Wittfogel-Spezialist Bernd Florath geriet in ihre Nähe, als er die sowjetische und DDR-Geschichte in der Perspektive der \"orientalischen Despotie\" deutete und sie in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft eingebettet sah (51-62); es werde sich erst noch herausstellen, ob die hier gewonnene Erfahrung sozialer Sicherheit sich auf Dauer in der nun wieder nach Marktprinzipien organisierten Gesellschaft werde einnisten können; erst dann werde sich zeigen, daß der \"Realsozialismus\" mehr gewesen sei als ein platter Rückfall in die \"Despotie\". Wolfgang Küttler, dem \"Formationstheorie\"-Experten, war erst \"heute\", im März 1990, \"endgültig klargeworden\", daß \"alle großindustriell produzierenden Gesellschaften ohne eine wie auch immer organisierte Form der Marktwirtschaft spätestens an der intensiven Reproduktion scheitern müssen\" (345-355),Fischer, Bernd-Rainer: Bildung und Wissenschaft im Einigungsprozeß, in: Die Gestaltung der deutschen Einheit. Geschichte - Politik - Gesellschaft. Hrsg. von Eckhard Jesse und Armin Mitter. Bonn, Berlin 1992. S. 348 f. Sammelrezensionen.!HK 1993 407während Wolfgang Wächter bei gleicher Gelegenheit die \"Fluchttendenz\" der \"Formationstheorien\" auf die Zeit vor 1900 konstatierte und die Marxsche facon de parler\" kaum weitergeführt sah (356-368;.Manche ostdeutschen Historiker stellten sich von vornherein begrcnztere, gleichwohl für ihre Situation bezeichnend scheinende Aufgaben. So plädierten Klaus Kinner und Manfred Neuhaus (Leipzig) schon im Oktober 1989 angesichts der \"gegenwärtigen Krise der kommunistischen Weltbewegung und der kommunistisch regierten Länder\" und des \"Bankrotts des stalinistischen Sozialismusmodells\" für einen neuen historisch-kritischen, quellengestütztcn \"Umgang mit dem Werk von Marx, Engels und Lenin\"; nicht das \"Umlernen\" sei angesagt, sondern die Aneignung ihrer Denkweisen, wie sie sich in der Entstehung ihrer Werke spiegele. Hier wurde in einem Aspekt vorweggenommen, was Jürgen John, Wolfgang Küttler und Walter Schmidt dann im letzten Heft des Jahrgangs 1989 der Theorie-Zeitschrift der SED \"Einheit\" unter dem Titel \"Für eine Erneuerung cles GeschichtsversUindnisses in der DDR\" modellierten (152-159): \"Der sich erneuernde Sozialismus braucht ein Geschichtsverständnis, das sich bei äußerer und innerer Offenheit von Geschichtsforschung und -diskussion herausbildet. Es wird das eine offizielle Geschichtsbild nicht mehr gehen.\" Die \"Aufgaben und die gesellschaftliche Funktion marxistischer Historiker\" begriffen die Autoren \"heute ... darin, zu einem neuen Konsens aller sich für eine sozialistische Perspektive einsetzenden Kräfte heizutragen\".Auf die (Re-)Vitalisierung sozialistischer politischer Ideen und Bewegungen, möglichst in einer \"Eurolinken\", zielt auch ein von Analogien und Anspielungen sprühender historisch-politischer Essay des Revolutionsforschers Manfred Kossok (Leipzig) aus dem Frühjahr l990 (75-84). Allerdings enthielt seine Diagnose der Gegemvart noch einen Faktor als zukunft.sbeständig, der inzwischen nicht mehr existiert: \"die Sowjetunion als Weltmacht\". Zu fragen ist deshalb, ob nicht doch die \"erschreckend reale Metapher\" von den \'\"Kleinerben der Revolution\"\' den Zustand eher kennzeichnete und politisch mobilisierend wirkte als die Vision von der \"einen (sozialistischen) Welt\". Zu fragen ist zudem, ob nicht andere Kategorien als die der \"Revolution\" dem Geschehen 1989/91 gerecht werden. Mindestens beim Blick auf das Ende der Sowjetunion drängt sich die Perspektive des \"Machtverfalls\" auf. Jürgen Kocka hat in seinem etwa gleichzeitig verfaßten Versuch der \"historischen Einordnung der gegenwärtigen Verhältnisse\" (85-104) diese Dimension stärker akzentuiert und wohl mit Recht darauf hingewiesen, daß die Erfahrungen mit dem Niedergang des \"Realsozialismus\" \"gegen die Realisierbarkeit jedweder Art von Sozialismus unter den gegebenen und erwartbaren Verhältnissen sprechen\", wenn \"Sozialismus\" mehr meinen solle als die Summe aktionsprogrammatischcr Vorstellungen der westeuropäischen Sozialdemokraten.Wie sehr DDR-Historiker noch Anfang 1989/90 in ihrem überkommenen \"Wir\"-Bcwußtsein befangen waren und sich ebensosehr politisch wiee als Wissenschaftlerdefinierten. wird an zwei Beiträgen auf ganz unterschiedliche Weise deutlich. \"Heutzutage [...] mehr denn je - auch aus aktuellem politischem Bedürfnis der Linken -\" müsse \"nach denjenigen Kräften gefragt werden, die eine faschistische Diktatur ablehnablehondteern wenigstens Vorbehalte hatten und für einen gemeinsamen Abwehrkampf gegen Diklatur und Krieg hätten gewonnen werden können\", schrieb der Historiker der deutschen Kriegswirtschaft Dietrich Eichholtz, Anfang 1990 in einem Aufsatz für eine geschichtspädagogische Zeitschrift (392-407); völlig mangele es \"bisher an einer kritischen, objektiven Aufarbeitung von Faschismus-Analysen, die von linken Kräften außerhalb der KT stammten\". Das Wollen in den eigenen politischen Traditionen zum Maßstab für Objektivität und Kenntnisstand zu machen, wurde hier unühersehbar als Kontinuitätsproblem deutlich, das die DDR-Historiker 1989/90 mit sich hatten. Olaf Groehler, dessen umfängliche Geschichte des Luftkriegs 1939-1945 noch 1989 erschien, sprach im Mai 1990 in seiner kritischen Bilanz der Erforschung des antifaschistischen Widerstands in der DDR (408-418) nach wie vor von einer \"eigenen und auch künftig zu gewinnenden Identität\" der Geschichtsforschung der DDR.Helga Schnitz hat darauf hingewiesen, daß nicht zuletzt die offensive Auseinandersetzung, in der die Rezeption nichteigener Forschung in der DDR weithin stattfand, am Ende in dogmatischer Erstarrung en- 408 JHK 1993Sammelrezensionendete, die über Provinzialismus hinausging (454). Wenn sie demgegenüber Ende 1990 \"Zivilisationskritik, demokratisches Engagement und die Suche nach möglichen Realisationen des Menschlichen außerhalb des Kapitalverhältnisses\" als \"Anliegen\" nannte, \"die Historiker nachdrücklich auf Sozialgeschichte verweisen\", sind damit wohl jene \"universalistischen Perspektiven\" (Kocka, s.o.) angesprochen, auf die sich Historiker jenseits unterschiedlicher politischer Bindungen verständigen können, wenn sie im übrigen ihr Handwerk beherrschen. An ihrem eigenen Arbeitsfeld, in dem die DDR-Geschichtswissenschaft wiederholt Anerkennung auch in Westdeutschland erfahren hatte (z.B. von Winfried Schulze in diesem Band, S. 213-227), formulierte Helga Schultz (möglicherweise gegen ihre Absicht), wie dies bewirkt wurde: \"Die Sozialgeschichtsforschung der DDR (in den 60er Jahren) war marxistisch, aber sie blieb bei Marx stehen\" - bei Marx \"als Theoretiker und Inspirator\", wäre hinzuzufügen.Nicht nur das Fortdauern alter Mentalitäten, sondern auch alter Machtstrukturen in den Institutsdirektionen, Zeitschriftenredaktionen und Verlagslektoraten gaben Armin Mitter und Stefan Wolle als Anlaß an, am 10. Januar 1990 zur Bildung einer Arbeitsgruppe Unabhängiger Historiker in der DDR aufzurufen (160 f.) - eine Initiative, aus der dann im April der Unabhängige Historiker-Verband der DDR hervorging, dem nur wenige, meistens bis dato kaum bekannte jüngere Historiker beitraten, die vor allem die Beschäftigung mit der DDR-Geschichte anmahnten. Die Initiatoren wurden selbst zu den ersten kritischen Historikern der gerade durchlaufenen Geschichte und ihrer geschichtswissenschaftlichen Legitimatoren (107-110, 231-235). Das Gewicht dieses Vorwurfs wird deutlich bei der Lektüre eines Vortrags des vielleicht prominentesten Konzeptualisten der DDR-Geschichtswissenschaft seit den achtziger Jahren, Walter Schmidt, in dem er Anfang Mai 1990 über Leistungen, Grenzen und Probleme der DDR-Geschichtsschreibung im Umbruch referierte (175-192). Auch Schmidt, der maßgeblich dafür gestanden hatte, daß sich die DDR als Erbe nicht nur der deutschen Arbeiterbewegungstraditionen als eigenständige Nation profilieren sollte, unterstellte - wohl noch zutreffend - eine korporative Einheit \"DDR-Geschichtswissenschaft\". Ob sie in einer künftig gesamtdeutschen Geschichtsforschung mit ihren zuvor erwiesenen stimulierenden Konsequenzen fortwirken könne, hänge sicher auch davon ab, \"ob sich eine nicht dogmatische, sondern kritische historisch-materialistische Geschichtsbetrachtung - ähnlich wie in anderen Ländern, etwa Frankreich und Italien, aber auch England - als Richtung in der gesamtdeutschen Forschungslandschaft\" würde \"erhalten können\". Solche Ansprüche angesichts der von Schmidt auch in seinem engeren Wirkungsbereich eingestandenen Instrumentalisierung geschichtswissenschaftlicher Forschung und Darstellung zu erheben, zeugte von einem nach wie vor in politischen Funktionszusammenhängen gedachten Verständnis von organisierter Geschichtswissenschaft, das sich so wohl kaum in neue gesamtdeutsche Verhältnisse überführen ließ und läßt. Zwar war der Rezeption der \"Erbe\"-Historiographie in der DDR bis 1989 außerhalb einige Aufmerksamkeit zuteil geworden, die Schmidt mit Genugtuung registrierte (vgl. bes. die Texte von Alexander Fischer und Günther Heydemann, 125-151), aber interessant war sie vor allem als politische Äußerung über sein Selbstverständnis des Staates DDR. Darauf ist noch gesondert einzugehen. Mit \"historisch-materialistischer Geschichtsbetrachtung\" hatte sie nichts zu tun.Gelegenheit zum Fortwirken werden zweifellos einzelne Historiker erhalten, die auch bisher schon ausserhalb der DDR Beachtung gefunden haben, obgleich gerade sie der \"historisch-materialistischen\" Richtung der Geschichtsbetrachtung zugerechnet werden können, in der DDR aber eher Außenseiter waren. Zu ihnen gehört Hartmut Zwahr, der die Entstehung des (regionalen) Proletariats als Klasse untersucht hat. Von ihm ist in der Dokumentation ein Vortrag abgedruckt, den er bereits Anfang November 1989 gehalten hat (24-32), als die Lenkungsinstanzen der organisierten Geschichtswissenschaft noch intakt waren und schwiegen. Zwar stand hier nicht Fachprogrammatik zur Debatte, sondern das \"administrative System\" als \"prägende und normsetzende Kraft\" insgesamt; Fachkritik, Verhaltensbeispiele und Arbeitsperspektiven wurden jedoch vor allem der Geschichtswissenschaft entnommen. Es habe \"einfach zuviel Enthaltsamkeit und Gehorsam gegenüber dem administrativen System (gegeben) und zu wenig Bereitschaft gerade von SammelrezensionenJHK 1993 409Älteren, das System gemeinsam mit kritischen Geistern im Umfeld zu unterlaufen\" - so seine auf das allein durch gesunden Menschenverstand begrenzte Höchstmaß an individueller Selbstbestimmung in der (intellektuellen) Arbeit zielende Schlußfolgerung. Ein Weg zur \"Selbstbefreiung aus den Verinnerlichungen des administrativen Systems\" führe über die selbstkritische Analyse der Sprache, ein anderer über die kritische Erkundung der eigenen Biographie, des \"Stalin in uns\", wie ein Leipziger Philosoph beifällig zitiert wird.\"Stalin\" und \"Stalinismus\" waren wohl Schlüsselworte der historisch-politischen Auseinandersetzung der beiden letzten Monate des Jahres 1989 in der DDR. Ihre jahrzehntelange Tabuisierung ließ sie zur diskreditierenden, aber oft unbegriffenen Apposition aller zur Diskussion gestellten Phänomene werden. \"Stalinismus verkommt zum Etikett für DDR-Geschichte insgesamt\", beobachtete Christoph Kleßmann Ende 1990/Anfang 1991 in einem Vortrag über \"Das Problem der doppelten \'Vergangenheitsbewältigung\' in der früheren DDR\" (271-280). Wolfgang Ruge suchte im Januar 1990 der \"Doppeldroge\" Stalinismus, die Schuldzuweisung und individuelle Entlastung zu bieten schien, mit einem vielbeachteten Artikel entgegenzutreten (33-43), der - erstmals in der DDR - die Stalinismus-Geschichte mit der KPdSU-Geschichte generell verknüpfte. Nicht was Ruge schrieb - das konnte einschlägig Interessierten bekannt sein -, sondern daß er als etablierter DDR-Historiker auch lenin-kritische Passagen mit seinem Bekenntnis zum Marxismus verband, war bedeutsam. Dies gilt auch für den gleichzeitig erschienenen Aufsatz von Fritz Klein (44-50), der einen kurzen Abriß der DDR-Geschichte bot, in dem fast sämtliche Eckpfeiler der politisch-historischen Selbstdeutung umgestürzt bzw. so umgebaut wurden, daß sie auch \"westlichen\" Interpretationen standhielten; allerdings blieb dieser Bezug noch unerwähnt. Erst im Laufe des Jahres 1990 wurde stärker auf sie hingewiesen. Günter Benser, einer der führenden SED-Historiker, gestand westdeutschen Geschichtswissenschaftlern im März 1990 zu, die Entwicklung der DDR \"in vielem genauer beobachtet und diagnostiziert\" zu haben (63-74). Besonders Hermann Webers veröffentlichte Hinweise auf \"\'Weiße Flecken\' in der DDR-Geschichtsschreibung\" und die \"Aufgaben der Geschichtswissenschaft nach der politischen Umwälzung\" (369-391) scheinen viel beachtet worden zu sein. Doch schon zuvor im November 1989 hatte einer der führenden Historiker der DDR-Geschichte, Rolf Badstübner, nicht zuletzt die von ihm selbst verantwortete Geschichtsschreibung einer radikalen Kritik unterzogen (294-308), die auch Einblicke in die Herstellung großer Synthesen, wie sie in der DDR üblich waren, enthält: Bei der Darstellung der Vereinigung von KPD und SPD zur SED im gerade erschienenen Band 9 der Deutschen Geschichte habe sich der Autor \"stark an das Manuskript von Band 3 der Geschichte der SED gehalten, wie es ihm damals vorlag\".Von Badstübner und anderen DDR-Historikern, so von Peter Hübner, 1990/91 Leiter des Bereichs Zeitgeschichte am Institut für deutsche Geschichte (439-451), ist in Rückblicken und Bilanzen darauf hingewiesen worden, daß die künftige Geschichtsforschung über die DDR vor allem Gesellschaftsgeschichte sein müsse, gerade auch, wenn sich die Forschung marxistisch begründe (Badstübner). Ein entsprechender Sammelband, der vorbereitet war, aber zu DDR-Zeiten auf Veröffentlichungsvorbehalte stieß, ist auch später nicht erschienen - ein Sachverhalt, der zu denken gibt. Vielleicht ist beim Blick auf Westdeutschland als angestrebte Ebene für \"Niveauausgleich und -anhebung\" (Hübner) bewußt geworden, daß die DDR-eigene Form von Sozialgeschichte jetzt nicht mehr angesagt war, obgleich eine auf Westdeutschland nach 1945 konzentrierte Sozialgeschichtsforschung und -darstellung erst in den Anfängen steckt. Daß Hübner als einziger DDR-Historiker auch beiläufig die auf die DDR bezogene Wirtschaftsgeschichtsforschung und -schrcibung erwähnte, obgleich sie vielleicht mehr Bleibendes aufzuweisen hat als die Sozialund Kulturgeschichtshistoriographie, stimmt ebenfalls nachdenklich. Sollte auch auf die Historiker selbst zutreffen, was Hübner als ein sie generell \"entlastendes Argument\" anführt: daß die Zeitgeschichtsforschung in der Lehre \"weitgehend in vorgestanzten Begriffen und Leerformeln abgekapselt\" wurde und dabei die komplizierte Wirtschaftsgeschichte auf die Wirtschaftspolitikgeschichte beschränkt blieb? Außer 410 JHK 1993SammelrezensionenJürgen Kuczynski, der mehrmals vor allem als Alltagshistoriker genannt wurde, ist kein Wirtschaftshistoriker namentlich erwähnt, obgleich gerade das Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte das vielleicht international am meisten geschätzte historiographische Periodikum aus der DDR war.Man wird also von dieser Dokumentation weder eine Bilanz noch eine gewissermaßen flächendeckende Selbstdarstellung der DDR-Geschichtswissenschaft erwarten dürfen. Außer den Wirtschaftshistorikern sind auch die Mediävisten nicht vertreten, und Isolde Stark macht in ihrem Vortrag \"Zur Situation der Altertumswissenschaften in der DDR\" (419-434) eher einem offenbar lang gestauten Ärger über die Vernachlässigung dieser Disziplin in der DDR Luft, als daß sie Auskunft über Geleistetes gibt. Die hier gedruckten zeitgenössischen westdeutschen Stellungnahmen von führenden Verbands- und Fachvertretern geben sich höflich-sachlich, die kritischen Aufrufe und Einlassungen der meistens jüngeren oppositionellen Historiker - aber auch älterer wie Karlheinz Blaschke (201-210) - fordern Selbstbezichtigungen und greifbare Konsequenzen der Wende. Als Hintergrund darf nicht vergessen werden, daß die \"Krake Stasi\" (Kleßmann) Ende 1989 entdeckt wurde und einen Anlaß lieferte, eine besondere \"Forschungsstätte zur Geschichte der DDR und ihrer Repressivorgane\" zu fordern (105 f.). Neuansätze wird man weniger programmatischen Reden entnehmen können, wie sie Herbert Gottwald anläßlich der Wiedergründung des Historischen Instituts der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Oktober 1990 gehalten hat (246-255); sie finden sich eher in Diskursen, wie sie Wolfgang Schröder unter kritisch-elegantem Bezug auf bisher gängige Deutungsmuster in einer historisch-politischen Würdigung des demokratischen Sozialisten August Bebe! vorführte (338-344).Eine Bilanz der DDR-Geschichtswissenschaft legt auch der von Konrad H. Jarausch herausgegebene Sammelband, entgegen dem Versprechen seines Untertitels, nicht vor. Vielmehr liefert er gleichsam die Fortsetzung der in die Dokumentation aufgenommenen, z.T. im Frühjahr 1991 überarbeiteten, Stellungnahmen auf einer Tagung im Dezember 1990 in Berlin. Bemerkenswert ist, daß zwar der Zusammenhang zwischen der inzwischen erfolgten Selbstauflösung der DDR und der davon abhängigen Geschichtswissenschaft als Institution schärfer gesehen wird, daß jedoch auch hier noch von einer \"Krise der ostdeutschen Geschichtswissenschaft\" (Jarausch) gesprochen wird. Der Herausgeber diagnostizierte gar noch im Mai 1991 eine \"Vereinigungskrise in der (deutschen) Geschichtswissenschaft\" (31), als ob es sich hier um einen Zusammenschluß zweier Kirchengemeinden handle. Er weist aber auch auf das Deutungsmuster der \"geistigen Kolonisierung\", über die in Ostdeutschland geklagt werde, und - als in der USA lehrender Historiker - auf das Modell der \"Reconstruction\" hin, das vielleicht als geschichtliche Analogie am ehesten trifft, will man sich unter den Bedingungen der transnationalen Informationsgesellschaft Ost-, Mittel- und Westeuropas überhaupt auf solche Analogien einlassen.Angemessen ist wohl, die Banalität dessen zu betonen, was sich bei der Transformation der DDR-Geschichtswissenschaft ereignete. Andreas Graf (35-42) ist sie merkwürdig erschienen, doch seine glänzend glossierenden Beobachtungen begleiten nur die resignierende Einsicht, daß ein öffentlicher \"Selbstfindungsprozeß\" der Historiker der DDR wohl nicht stattfinden wird. Mit moralischen Urteilen wie den folgenden wird man öffentliche Eingeständnisse von Schuld wohl auch nicht provozieren, abgesehen davon, daß diese Urteile sachlich nicht greifen: \"Die Geschichtswissenschaft in der früheren DDR ist intellektuell auf den Hund gekommen, ja - noch kräftiger ausgedrückt -, sie ist verkommen, jedenfalls - und dieses ist einschränkend zu betonen - weite Teile derjenigen, die sich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung von 1900 an oder der DDR-Geschichte beschäftigen.\" Christoph Kleßmann, der die Geschichtswissenschaft der DDR besonders aus der Sicht des westdeutschen Zeithistorikers zu bilanzieren sucht (43-55), weist mit Recht darauf hin, daß Nachdenken und Schweigen besonders für die SED-Historiker wohl die angemessenere Reaktion auf den Umbruch sei als \"allzu ostentative und schnelle Kritik\" (52).Georg Iggers, seit langem Chronist, Analytiker und Kritiker der aktuellen deutschen Geschichtswissenschaft in den USA, ist einer der weniger Historiker, die den Vergleich zwischen einzelnen Stationen und SammelrezensionenJHK 1993 411Entwicklungen der Geschichtswissenschaft in Deutschland anstellen (57-73). Die \"Art Parteidiktatur, die in ihren Machtmechanismen eine große Ähnlichkeit mit dem Nationalsozialismus aufzuweisen hatte\", habe in der DDR \"im Bereich der Wissenschaft viel deutlichere aktive Konformität\" verlangt, \"als es im Nationalsozialismus der Fall gewesen war\". Andererseits hätte es auch in der Bundesrepublik bis 1960 keinen Pluralismus gegeben, sehe man von der katholischen Abendland-Konzeption neben der preußisch-nationalkonservativen Linie ab. Wie es vor diesem Hintergrund zu einer \"bestimmten Vielfalt\" in der Geschichtswissenschaft der früheren DDR gekommen sein soll, wird nicht recht deutlich; die weitere Entwicklung wird dann allerdings so beschrieben und bewertet, wie sie auch von anderen Beobachtern gesehen wird: Weiterführend seien neben wirtschaftsgeschichtlichen Studien besonders die sozialgeschichtlichen Forschungen gewesen, nicht zuletzt zur Agrarsozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Zwar sah Iggers in den fortgesetzten Periodika der DDR-Geschichtswissenschaft noch dort tradierte Denkstrukturen weiterwirken, doch hatte er den Eindruck gewonnen, daß \"der weit größere Teil\" der DDR-Historiker \"den Überzeugungen einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft aufgeschlossener gegenübersteht, als es wohl 1945 in beiden Teilen des geteilten Deutschlands der Fall war\".Solchem auf die politische Gesinnung bezogenen Urteil stellt Wolfgang Ribbe anhand einer Kritik der an politischen Vorgaben orientierten Thesen zur 750-Jahr-Feier Berlins von 1986 das Verhalten von \"Marxisten\" entgegen, die es \"als eine Ehre und besondere Auszeichnung angesehen\" hätten, \"an ihrer Abfassung mitwirken zu dürfen\" (91-106). Helga Schultz, die bei dieser Gelegenheit nicht zuletzt über ihre eigenen Forschungen zur Geschichte sozialen Wandels im 18. und 19. Jahrhundert berichtete (77-89), nahm er ausdrücklich von dieser Kritik aus, stufte sie allerdings auch - entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis - nicht als \"Marxistin\" ein, sondern rechnete sie der französischen Annales-Schule zu. Die hier aufscheinenden Probleme differenzierter Beurteilung werden unübersehbar deutlich bei dem Bericht über Leistungen der Kulturgeschichtsschreibung der DDR, die der in Austin (Texas) lehrende Peter Jelavich gab (107-121). Der von ihm nicht bestrittenen \"ideologischen\" Fundierung der (Ostberliner) \"Thesen\" setzte er entgegen, daß auch die in West-Berlin erzählten Berlin-Geschichten auf ein bestimmtes BerlinImage zielten. Berlin als \"immerwährende \'Stadt der Gegenwart\"\' im Westen und Berlin als stolze Hauptstadt des \"deutschen Arbeiter- und Bauern-Staates\" als Krönung der deutschen Geschichte im Osten - das seien die jeweils ideologisch begründeten Bilder gewesen, die hätten vermittelt werden sollen. Jelavich forderte dazu auf, die DDR-Historiker weniger wegen der Schemata zu kritisieren, die ihren Forschungen und Darstellungen als Rahmen dienten, als die Leistungen zu bedenken, die (trotz und) bei dieser Begrenzung erbracht worden seien. Bis in die siebziger Jahre hinein hätten die DDR-Kulturhistoriker einen \"großen Vorsprung\" gegenüber der westdeutschen Kulturgeschichtsschreibung gehabt - die im übrigen bisher kaum von Historikern betrieben werde -, indem sie den bis dahin auf die elitäre Hochkultur begrenzten Horizont erweitert hätten.Pragmatismus kennzeichnet auch die Beurteilung des amerikanischen Osteuropahistorikers Norman Naimark, der einen Überblick über das jeweilige Verhältnis von Politik und Geschichtswissenschaft in der Sowjetunion, Polen und der DDR gab (125-138). Danach zeige sich eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen den Entwicklungen in der Sowjetunion und der DDR, während in Polen die Geschichtswissenschaft seit Mitte der fünfziger Jahre nicht zuletzt dank katholischer akademischer Einrichtungen eher den Anschluß an Westeuropa gesucht habe. Für die deutsche(n) Geschichtswissenschaft(en) hob er hervor, daß das Problem der \"weißen Flecke\" nicht nur eines der DDR-Geschichtswissenschaft sei; auch die westdeutsche Geschichtsforschung und -schreibung habe lange bestimmte Themen der sowjetischen und Kommunismusgeschichte nicht oder spät aufgegriffen.Hermann Weber, Initiator der \"Weiße-Flecken\"-Diskussion in Deutschland, stellte sein eigenes Engagement als \"Stellvertreterfunktion\" dar und forderte ein selbstkritischeres Auftreten der SED-Historiker und -Einrichtungen, die Materialien z.B. über während der stalinistischen \"Säuberungen\" der dreißiger 412 JHK 1993SammelrezensionenJahre umgekommene Kommunisten publizierten (139-153). Im übrigen betonte Weber mit Recht und, soweit zu erkennen, als einziger der in den hier referierten Beiträgen vertretenen Autoren, daß die DDR-Geschichtsschreibung über die DDR nicht \"marxistisch\" sei, sondern \"sich eher auf idealistische als auf materialistische Positionen\" gestützt habe.Manches spricht dafür, die DDR-Geschichtswissenschaft insgesamt stärker von politischen Vorgaben als von einer speziellen Methode oder gar Methodologie geprägt zu sehen. Dies paßt auch zu Stefan Wolles Beobachtungen, denen zufolge die meisten DDR-Historiker nach dem Ende der DDR schnell ihre Positionen gewechselt hätten (155-162). Auch Wolfgang Küttler, der nach der möglichen Zukunft einer \'\"marxistischen\' Geschichtsschreibung\" fragte (165-184), stimmte implizit dieser Sicht zu, wenn er selbstkritisch nicht nur mitteilte, daß der von ihm selbst vertretene \"Formations\"-Ansatz dazu hatte dienen sollen, Marxsche und Leninsche Methoden unhinterfragt in der aktuellen Geschichtsschreibung zur Geltung zu bringen. Zudem stellte er auch mit Recht fest, daß die Rezeption der DDR-Historiographie im Westen über den inzwischen weggefallenen staatlichen Rahmen, der das \"Dogma\" gesetzt habe - politisch vermittelt war. Daß eine von solchem \"Dogma\" befreite, an Marxschem Denken orientierte Geschichtsschreibung in der jetzt gesamtdeutschen Historikerszene Platz hat, ist nicht nur von Küttler festgestellt worden. Wie weit jedoch auch der in der DDR als \"Klassiker\" verehrte Lenin traditionsstiftend und bekräftigend weiterwirken könnte, sprach er nicht an. Ebensowenig wie alle anderen Autoren dieses Bandes berührten dieses Problem auch Charles S. Maier, der mit guten Gründen forderte, bei der künftigen Erforschung der DDR-Geschichte über die Stasi-Akten die Planungs- und Wirtschaftsentscheidungen nicht zu vergessen (197-216), und Jürgen Kocka, der dafür plädierte, \"die Problematik der Nation und des Nationalen wieder verstärkt zum Gegenstand der historischen Forschung zu machen\" - auch im Blick auf die Erklärung der \"Revolution\" von 1989/90 - (185-195), obwohl im stillschweigenden Verzicht auf Lenin als Autorität und Inspirator wohl die Auflösung einer DDR-Geschichtswissenschaft am ehesten zu greifen ist.Daß eine Reihe von DDR-Historikern für die Erörterung der deutschen Nationalgeschichte gut gerüstet sein dürfte, wurde schon vor der \"Wende\" außerhalb der DDR diagnostiziert. Unter anderen hatten die Herausgeber einer breiten zweibändigen Analyse der \"Geschichtswissenschaft in der DDR\" (Berlin 1988/90), Alexander Fischer und Günther Heydemann, gerade im Versuch der DDR, die ganze deutsche Geschichte zu ihrem \"Erbe\" zu erklären, einen möglichen politischen Sprengsatz gesehen. Der niederländische Historiker Jan Hermann Brinks nahm die DDR-Geschichtswissenschaft gar als \"auf dem Weg zur deutschen Einheit\" befindlich wahr, so daß ihn nicht einmal der Fall der Berliner Mauer besonders überrascht habe, wie er im Nachwort zu seiner seit 1985 erarbeiteten Dissertation schreibt.Man wird darauf zu achten haben, daß hier nicht unterderhand Legenden entstehen. Walter Schmidt, Propagandist des \"Erbe\"-Konzepts in der Geschichtswissenschaft, hat wiederholt darauf hingewiesen, daß er sich hinsichtlich der \"sozialistischen Nation\" DDR, der er mehr politische Legitimation hatte verschaffen wollen, historisch geirrt habe. Die DDR-Historiker haben sich im übrigen der Zumutung von \"Identitätsproduktion\" (Jürgen Kocka) in seinem Sinne nicht widersetzt, sondern allenfalls die sich dabei bietende Vielfalt an Interpretationsmustern genutzt. Daß die sich auf diesem Wege differenzierende Geschichtsschreibung auch außerhalb der DDR auf Aufmerksamkeit und Anerkennung stieß und den DDRHistorikern so Gelegenheit gab, die dominanten Geschichtsbilder mitzukonturieren, mag manche von ihnen stimuliert haben.Wie man in der DDR auf Seiten der Konzeptualisten der Geschichtswissenschaft mit dabei aufkommenden politischen Problemen umgehen wollte, macht eine von Brinks zitierte Äußerung von Wolfgang Küttler 1987 deutlich: Gegen die Sorge von \"linken Kräften außerhalb der DDR[...] ob nicht mit dem differenzierten Verständnis Preußens und Bismarcks Wasser auf konservative Mühlen geleitet werde\", sei \"grundsätzlich zu sagen, daß schon mit den Inhalten der Begriffe \'Erbe\' und \'Tradition\"\' die für die Pflege revolutionärer Traditionen relevanten Unterschiede deutlich bezeichnet seien. \"Konzessionen an konserva- SammelrezensionenJHK 1993 413tives Geschichtsdenken\" würden in der Geschichtswissenschaft, verstanden als Forschung, Lehre und Geschichtspropaganda, \"keinesfalls gemacht\" (291). Der Instrumentalisierungszusammenhang, in dem die Historiker-Tätigkeit nach wie vor gesehen wurde, ist hier unübersehbar formuliert, und man wird deshalb aus der neuartig erscheinenden Erörterung einiger Geschichtsfelder keine allzu weit reichenden Schlüsse auf politische Dispositionen ziehen dürfen. Die vorzugsweise in der DDR gepflegten \"revolutionären Traditionen\" wurden durch die bei Brinks referierten Sachverhalte kaum tangiert.So indizieren, wie Brinks in seiner weit über den Untertitel hinausführenden Darstellung über die auf die nationale Einheit bezogenen Aspekte der DDR-Geschichtswissenschaften belegt, die Diskussionen über Luther und Friedrich II. von Preußen - Ernst Engelbergs Bismarck-Biographie wird nur gestreift zwar politischen Wandel; dieser Wandel ließ jedoch nicht erkennen, daß sich die DDR auf eine unmittelbar bevorstehende nationalstaatliche Einheit Deutschlands vorbereitet hätte, sondern nur, daß sie sich seit den siebziger Jahren das gesamte, auch von jenseits der Westgrenze zugewachsene \"nationalkulturelle Erbe\" aneignen wollte, um die \"sozialistische Nationalkultur\" zu optimieren und gegen die in Westdeutschland gepflegten Traditionen abzusetzen. Daß dies in der Bundesrepublik gelegentlich als konkurrierender \"Anspruch auf geistige Führung und nationales Erbe\" (M. Stürmer) wahrgenommen wurde, war ihr nur recht; genau dies entsprach ihrem Verständnis von der kulturellen Dimension des (internationalen) Klassenkampfes. Wenn sie dabei, wie Brinks besonders ausführlich am Fall der Luther-Deutung belegt, auch in der sozialistischen Arbeiterbewegung tradierte Bewertungen revidierte, so war dies sowohl wissenschaftlich, als auch in politischen Motiven begründet, die es zweckmäßig erscheinen ließen, den \"ganzen Luther\" für die \"progressiven\" deutschen Traditionen in der DDR zu reklamieren. Im Blick auf Friedrich II. ergab sich eine wissenschaftliche Neubewertung, wie Brinks am Beispiel der Biographie von Ingrid Mittenzwei (l 979) belegt.2Wie die DDR-Bevölkerung auf diese Geschichtspropaganda ihrer Historiker reagierte, ist bisher ebenso unbekannt wie die Motive, Inspirationen und Reflexionen, die die DDR-Historiker selbst bei ihrer Tätigkeit begleiteten. Wären viele DDR-Geschichtswissenschaftler \"auf dem Weg zur deutschen Einheit\" gewesen - sie hätten es seit Ende 1989 aus Gründen der Status-Bewahrung sicher deutlicher gesagt. Was ihre Rolle bei der \"Identitätsproduktion\" anging, trifft vielleicht generell zu, was Peter Hübner in der eingangs vorgestellten \"Dokumentation\" (ironisch) zur \"Entlastung\" nur der Zeithistoriker als Argument angeführt hat: Gemessen am Aufwand und am Anspruch, seien ihre Wirkungen minimal gewesen. \"Zu einer tiefsitzenden Indoktrination\" sei es \"nie gekommen\".2 Bei genauerem Hinsehen stellt sie sich allerdings als geringfügig dar, obgleich sie geschichtspropagandistisch herausgestrichen wurde, nicht zuletzt zur Rechtfertigung denkmalpflegerischer Aktivitäten bei der \"Erbe\"-Aneignung gegenüber einer Öffentlichkeit, die noch das weithin geläufige, vorwiegend polemisch-kritische Preußen-Bild in Erinnerung hatte und die gegen eine westdeutsche konservative Preußen-Nostalgie, die heraufzuziehen schien, gewappnet werden sollte. 414 JHK 1993 Falco Werkentin (Berlin)SammelrezensionenDas Ministerium für StaatssicherheitBürgerkomitee Leipzig (Hg.): Stasi intern - Macht und Banalität, Forum Verlag Leipzig, Leipzig 1991, 374 S.Schell, Manfred/Kalinka, Werner: Stasi und kein Ende, Ullstein Verlag, Frankfurt/M, Berlin 1991, 422 S.Furian, Gilbert: Mehl aus Mielkes Mühlen. Berichte, Briefe, Dokumente, Eulenspiegel - Das Neue Leben, Berlin 1991, 309 S.Ammer, Thomas/Memmler, Hans-Joachim (Hg.): Staatssicherheit in Rostock. Zielgruppen, Methoden, Auflösung, Edition Deutschland Archiv im Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1991, 211 S.Selitrenny, Rita/Weichert, Thilo: Das unheimliche Erbe - Die Spionageabteilung des MfS, Forum Verlag Leipzig, Leipzig 1991, 269 S.Riecker, Ariane/Schwarz, Annett/Schneider, Dirk: Stasi intim - Gespräche mit ehemaligen MfS-Angehörigen, Forum Verlag Leipzig, Leipzig 1990, 270 S.Klump, Brigitte: Das rote Kloster - als Zögling in der Kaderschmiede des Stasi, 2. erw. Aufl., Herbig Verlag, München 1991, 380 S.Karau, Gisela: Stasiprotokolle - Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern des MfS der DDR, dipa Verlag, Frankfurt/M 1992, 183 S.Fricke, Karl Wilhelm: MfS intern - Macht, Strukturen, Auflösung der DDR-Staatssicherheit, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1991, 208 S.Bis 1989 war Karl Wilhelm Frickes Standard-Werk \"Die DDR-Staatssicherheit\", 1982 erstmals aufgelegt, die einzige verfügbare Arbeit, die über Geschichte, Struktur und Arbeitsweise des Ministeriums für Staatssicherheit informierte. Mit dem Sturm auf die Stasi-Zentralen Ende \'89/ Anfang \'90 hat sich die Situation völlig geändert. Kaum noch übersehbar ist die Flut an einschlägigen Artikeln, Broschüren und Büchern, die seit dieser dramatischen Wende erschienen ist. Wie unterschiedlich man sich der Auseinandersetzung mit der \"Staatssicherheit\" nähern kann, zeigen die hier zu besprechenden neuen Titel, die in der Summe ein facettenreiches Bild vom zentralen Überwachungs- und Herrschaftsapparat des SED-Regimes zeichnen.Ende \'89/ Anfang \'90 ging so mancher Besetzer der Stasi-Dienststellen noch mit \"dem Fricke\" in der Hand an die Arbeit, um bei der Auflösung der Staatssicherheits-Maschinerie nicht völlig ahnungslos zu sein. Inzwischen sind viele Stasi-Auflöser selbst zu Autoren geworden, die auf Grundlage des beim Sturm auf die Stasi \"eroberten\" Schriftguts in vielfältigen Dokumentationen und Publikationen neue Kenntnisse über Struktur und Arbeitsweise des MfS vermitteln und Rechenschaft geben über den Prozeß seiner Auflösung. Zu diesen schnell entstandenen Dokumentationen gehören die beiden hier zu besprechenden Abschlußberichte über die Auflösung von MfS-Bezirksverwaltungen. Während \"Stasi intern\" über Struktur, Arbeitsweise und Auflösung der Bezirksverwaltung Leipzig Auskunft gibt, liegen die bereits im Mai 1990 vom Unabhängigen Untersuchungsausschuß Rostock im Selbstverlag herausgegebenen \"Arbeitsberichte über die Auflösung der Rostocker Bezirksverwaltung des MfS\" nun in überarbeiteter Form unter dem Titel \"Staatssicherheit in Rostock\" vor. Manche Dokumente der ersten Auflage wurden gestrichen, neue hinzugefügt. Bei der Neuauflage entfallen ist u.a. leider die kleine, aufmerksame Betrachtung zur Sprache des SammelrezensionenJHK 1993 415MfS, die den ersten Rostocker Bericht abschloß und es wert gewesen wäre, weiter ausgearbeitet zu werden.Beide Auflösungsberichte haben in etwa die gleiche Struktur. Zum einen schildern sie den Sturm auf die regionalen Stasi-Zwingburgen sowie den folgenden Kampf gegen die \"Tschekisten\" und die Regierung Modrow mit dem Ziel der Sicherung der Akten und der Auflösung des MfS, zum anderen werden anhand gesicherter Akten-Fragmente und Dokumente Selbstverständnis, Struktur und Arbeitsweise des MfS dargestellt. Selbstverständlich ist inzwischen vieles, was in diesen ersten Berichten mehr oder weniger anhand von Zufallsfunden vorgestellt wird, detaillierter belegt und ausgearbeitet - so z.B. die Vorbereitung von Internierungslagern oder Aufwand und Perfidie, mit der dissidente DDR-Bürger in \"operativen Vorgängen\" bearbeitet wurden. Gleichwohl ist es mit beiden Berichten gelungen, schon sehr früh ein dichtes Bild davon zu zeichnen, in welchem Umfang das MfS den Alltag der DDR durchdrungen hat - nicht nur als Instrument der Repression, sondern gleichermaßen auch als \"Ersatzöffentlichkeit\" für die SED-Führung in den Kreisen und Bezirken wie im Berliner ZK-Apparat.Beide Berichte legen zu recht großen Wert darauf, die engen Verflechtungen des MfS mit anderen staatlichen Einrichtungen und Behörden sowie deren unverzichtbare Zubringerdienste für das MfS darzustellen. Der Rostocker Bericht ist besonders dokumentenstark, soweit es die Universitäten und Hochschulen sowie das Gesundheits- und Sozialwesen des Bezirks betrifft.Schließlich heben sowohl die Stasi-Auflöser aus Rostock wie jene aus Leipzig hervor - und belegen es durch einschlägige Dokumente -, daß das MfS kein \"Staat im Staate\" war, sondern ein von der SED geführtes und ihr subordiniertes Instrument zur Sicherung der Herrschaft dieser Partei.Als authentische Dokumente über die Arbeit der Bürgerkomitees werden diese Bände ihren zeitgeschichtlichen Wert auch dann noch behalten, wenn im Laufe der kommenden Jahre Fachhistoriker große, mit Ruhe und Abstand erarbeitete Studien zur Struktur, Geschichte und Arbeitsweise des MfS vorlegen werden.Während alle anderen Abteilungen des MfS mehr oder weniger erfolgreich von den Bürgerkomitees \"erobert\" und unter ihrer Aufsicht aufgelöst wurden, gelang der Hauptverwaltung Aufklärung ein vorerst letzter Coup, nämlich unter Hinweis auf die besonderen lebensbedrohlichen Gefährdungen ihrer \"Kundschafter\" im Ausland sich der Kontrolle der Bürgerkomitees zu entziehen und sich in relativer Ruhe selbst aufzulösen. Beim Verwischen und Vernichten von Spuren noch erfolgreicher war wohl nur der \"Bereich Aufklärung\" des Ministeriums für Nationale Verteidigung, in Kooperation mit der HV A zuständig für die militärische Auslandsspionage. Daher nimmt das Buch von Rita Selitrenny und Thilo Weichert in der hier zu besprechenden Literatur eine Sonderstellung ein, denn ihr Thema ist nicht die Arbeit der Inlandsabteilungen des MfS, sondern die der HV A, also der Spionageabteilung der Stasi. Das Buch ist entstanden vor allem auf der Gundlage von Dokumenten der MfS-Bezirksverwaltung Leipzig, wo im Gegensatz zur Berliner Zentrale der HV A zahlreiche Dokumente erhalten geblieben sind. Als internationer Messestandort war Leipzig für die HV A besonders interessant. Zudem waren jeder MfS-Bezirksverwaltung ein Bundesland und spezifische Objekte der Bundesrepublik \"patenschaftlich\" zugeordnet, die von der Aufklärungsabteilung der jeweiligen Bezirksverwaltung spionagemäßig betreut wurden. Der Band gibt auf den ersten 80 Seiten zunächst eine Übersicht über die Aufgabengebiete der einzelnen Abteilungen, Referate und Arbeitsgruppen der zentralen HV A, um dann zur Ebene der Bezirksverwaltung und ihrer Abteilung XV (Aufklärungsabteilung) zu wechseln, die disziplinarisch der Bezirksverwaltung, operativ hingegen der HV A unterstand. Die Abt. XV betreute \"patenschaftlich\" vorrangig das Bundesland Nordrhein-Westfalen. Deutlich kann belegt werden, daß die Spionageabteilung in ihrer Tätgkeit keineswegs beschränkt war auf operative Aufgaben jenseits der DDR, sondern systematisch bei der Arbeit der Stasi nach innen mitwirkte (98 ff.). Das gern vermittelte Bild von den \"sauberen Mitarbeitern der HV A\", die klassische Spionagetätigkeit im Ausland betrieben und sich die Finger bei der Repression nach innen nicht 416 JHK 1993Sammelrezensionenschmutzig gemacht hätten - es ist eine Legende. Wie sehr sich die Grenzen zwischen innen und außen in der Arbeit auflösten, dokumentiert der Band exemplarisch anhand der Arbeitsakte eines IM, der für die Abt. XV sowohl in der Bundesrepublik Spionage betrieb als auch kontinuierlich aus kirchlichen Kreisen seines heimatlichen Umfeldes berichtete. Weitere systematische Belege für die Arbeit der Abt. XV nach innen finden sich im Dokumentenanhang des Buches, der knapp 100 Seiten umfaßt.Schließlich gibt der Band anhand einer die Erkenntnisse zusammenfassenden Darstellung und mit Hilfe mehrerer einschlägiger Dokumente einige Einblicke in die geheimdienstliche Zusammenarbeit der Länder des Warschauer Paktes, die ab 1979 u.a. in Moskau eine von allen Ländern beschickte elektronische Datenbank mit dem Kurznamen \"SOUD\" (\"System für operative und institutionelle Daten\") aufzubauen begannen.Mit dem Band \"MfS intern\" hat schließlich auch Karl Wilhelm Fricke den Versuch gemacht, unvermeidbare Defizite seines 1982 erstmals erschienenen Standardwerks \"Die Staatssicherheit der DDR\" zu tilgen. So sehr sich Fricke, wie offenbar auch die hauptberuflichen Gegenspieler des MfS beim \"Verfassungsschutz\" und BND, massiv geirrt hatte, was die personellen Ressourcen des MfS betraf, so sehr ist ihm gleichermaßen zuzustimmen, daß seine alte Charakterisierung des MfS als konstitutives Herrschaftsinstrument der SED - gerichtet gegen die These vom MfS als \"Staat im Staate\" - durch die seit Ende 1989 sprudelnden Quellen nachhaltig belegt wird. Der neue Band \"MfS intern\" skizziert auf 75 Seiten die horizontale und vertikale Struktur des MfS, die Verbindungen zwischen SED und MfS, die MfS-RAFConnection, das Verhältnis von Staatssicherheit und politischer Justiz sowie die Phase der Agonie und Auflösung des MfS. Der Anhang dokumentiert auf knapp 120 Seiten Reden, Befehle und Dienstvorschriften aus 40 Jahren MfS-Geschichte sowie als letztes Dokument den \"Zwischenbericht der Regierung Modrow \'Die Staatssicherheit in Liquidation\'\" vom Januar 1990.Angesichts der vielen neuen Quellen zur Struktur und Geschichte der Staatssicherheit, von denen erst ein Bruchteil erschlossen ist, hat derzeit keine neue Publikation die Chance, zum Standard-Werk zu werden wie das erste einschlägige Buch von Fricke. So wird dieser Band seine Bedeutung vorrangig als Dokumentensammlung behalten.Demgegenüber hat die alte Literatur aus den fünfziger und sechziger Jahren - wie die weitergeführten Arbeiten von Fricke aus den siebziger und achtziger Dekaden - noch mehr Bestand. Zum einen haben die alten dokumentarischen Texte - von den vier Bänden \"Unrecht als System\" bis zu Frickes \"Politik und Justiz in der DDR\" - den seit drei Jahren möglichen \"Test\" auf ihren Wahrheitsgehalt bravourös bestanden. Gewiß läßt sich vieles heute präzisieren und dokumentartisch genauer belegen. Doch muß man zugestehen, daß jenes Bild, das kritische Beobachter der politischen Unterdrückung in der DDR seit vierzig Jahren gezeichnet haben, alles andere als \"überzeichnet\" war. Gleichzeitig wäre es ungleich schwieriger, sich heute im Wust der Akten und Dokumente in den Archiven der DDR zurechtzufinden, könnte man nicht auf die Arbeiten zurückgreifen, die vor Öffnung der Archive entstanden sind.In gewisser Weise ist auch der von Manfred Schell und Werner Kalinka vorgelegte Band \"Stasi und kein Ende\" - die überarbeitete und ergänzte Fassung einer in der Tageszeitung \"Die Welt\" erschienenen Serie über das MfS - der \"Auflöser\"-Literatur zuzuordnen. Denn in weiten Teilen stützen sich die Autoren, allerdings ohne Quellenangabe, auf die von der Zentralen Archivgruppe des Bürgerkomitees in der OstBerliner Normannenstraße im Juni 1990 vorgelegte interne \"Dokumentation zur politisch-historischen Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS\". Der Band ist im klassischen Strickmuster des Enthüllungsjournalismus geschrieben. Die sehr personalisierte, eine äußerst intime Kenntnis suggerierende Darstellung entzieht sich mangels Quellenangaben sowohl jeder nachträglichen Überprüfung wie der Chance, an hier kurz angesprochene Ereignisse zum Zwecke weiterführender Recherchen anzuknüpfen.Dabei wird der Bogen thematisch wie zeitlich sehr weit geschlagen, wenn auch wenig systematisch und sprunghaft - von den fünfziger Jahren bis zur Auflösung und letzten Rettungsversuchen im Frühjahr 1990, SammelrezensionenJHK 1993 417von der Inlandsarbeit bis zur Auslandsspionage, von den Beziehungen zwischen der SED und der MfSSpitze bis zu den Verbindungen zum internationalen Terrorismus, von der engen Zusammenarbeit mit dem KGB bis zu geheimen Aktivitäten des MfS in den sozialistischen \"Brüderländern\". Unangesprochen bleibt nur der gesamte Schalck-Golodkowski-Komplex, für den es gerade die deutlichsten Hinweise auf offiziöse Kontakte zu bundesdeutschen Politikern und Diensten gibt.Ein abschließendes 11. Kapitel unter dem Titel \"Mißtrauen gegen jedermann - das brutale Innenleben des MfS\" sei, so heißt es, von einem Stasi-Insider geschrieben worden, dessen \"exzellente Sachkenntnis und Einschätzungsvermögen der Dinge[...] objektiven Einblick bieten\". Auch hier muß man sich wieder auf das Urteil von Schell und Kalinka über die Qualität ihrer MfS-Zeugen verlassen. Immer dann, wenn sich der \"Welt\" gegenüber ehemalige Stasi-Mitarbeiter zum Gespräch bereit finden, lassen die Autoren, so scheint es, jegliches Mißtrauen fallen. In diesem abschließenden 11. Kapitel wird eine Klage und Argumentationslinie aufgenommen, die auch in vielen anderen Texten ehemaliger MfS-Mitarbeiter zu finden ist. Zu recht betont der anonyme Autor eingangs: \"Nicht die SED-Machtträger gerieten nach der Wende in den Mittelpunkt von Enthüllungen, Anschuldigungen und Verurteilungen, sondern ihre Ausführungsorgane.\" Und wenige Seiten später heißt es: \"Unfaßbar steht die Masse der MfS-Mitarbeiter der Feigheit und Verlogenheit früherer SED-Größen gegenüber. Wie soll auch ein früherer MfS-Mitarbeiter ... zu seiner eigenen Verantwortung oder Schuld finden, wenn er erleben muß, wie frühere SED-Führer, die die Hauptverursacher und Hauptverantwortlichen für den MfS-Apparat waren, sich ungeniert in der Öffentlichkeit präsentieren.\"In der Tat kann man den Eindruck gewinnen, als seien auch noch nach der Wende die ehemaligen Hauptamtlichen des MfS wie die von ihnen geführten inoffiziellen Mitarbeiter unfreiwillig \"Schild und Schwert der Partei\" geblieben. Denn im Rampenlicht der öffentlichen Kritik wie dem der Anklagebank in den Gerichtssälen stehen am wenigsten die Täter hinter den Tätern, die Mitarbeiter des ZK-Apparates, der SED-Bezirks- und Kreisleitungen - also die Auftraggeber, sondern die Exekutoren der Parteiaufträge. Michael Beleites hat vor einiger Zeit diese falsche Situation auf die Formel gebracht: \"Die inzwischen routinemäßige IM-Reihenuntersuchung verkommt zur Farce, wenn für viele Mitschuldige das Ergebnis \'Gaucknegativ\' zum absoluten Persilschein wird.\"Zwei Titel - Gisela Karaus \"Stasiprotokolle\" und der Band von Ariane Ricker u.a. \"Stasi intim\" - geben Einblick in die Perspektive jener, die zum Teil über 35 Jahre als \"Tschekisten\" gedient haben und sich heute weitgehend verraten fühlen von ihren ehemaligen Auftraggebern.Die Palette jener, die in diesen Büchern Auskunft geben über ihre Sicht der DDR-Vergangenheit und über die Rolle des MfS, reicht vom Stasi-Generaloberst Mittig, Ex-Stellvertreter Mielkes, bis zum kleinen IM, vom letzten Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen im ZK, Wolfgang Herger, bis zum Oberleutnant im Personenschutz, der die Protokollstrecke zu sichern hatte, von Oberst Zeiseweis, der 25 Jahre in der Abt. XX der Berliner Bezirksverwaltung tätig war, bis zum Major der Hauptabteilung II, der vor allem im Bereich Auslandstourismus in Bulgarien bei der Zusammenarbeit mit den dortigen Kollegen \"unheimlich Spaß\" hatte.Das Bild, das die unteren MfS-Chargen nahezu uni sono von ihrer Tätigkeit zeichnen, ist das von - fast ausschließlich - Männern, die aus Idealismus und Überzeugung jahrzehntelang weit über den normalen Arbeitstag hinaus geschuftet haben, sich auf ihren unmittelbaren eigenen Arbeitsbereich zurückziehen und diesen, wenn es überhaupt so konkret wird, in aller Unschuld als meist befriedigend schildern. So etwa ein Oberleutnant der Abt. XX der Bezirksverwaltung Berlin: \"Ich würde nicht sagen, daß die elfeinhalb Jahre bei der Staatssicherheit für mich eine verlorene Zeit waren. Die ganze Lebenserfahrung, [...] der Umgang mit den Menschen, die Erfolge und Mißerfolge, die man hatte, das sind viele menschliche Werte, die ich nicht missen möchte, und ich habe mir in diesem Sinne nichts vorzuwerfen\" (Stasiprotokolle, 104). 418 JHK 1993SammelrezensionenÄhnlich auch ein Oberleutnant über Vernehmungen: \"Die Erstvernehmungen gingen oft bis in die Nacht, über mehrere Stunden, das war für beide Seiten furchtbar anstrengend. Ich wollte erreichen, daß der andere mir vertraut, denn ich versuchte ja, seinen positiven Kern zu finden\" (ebenda, 156).Und gar der Umgang mit den inoffiziellen Mitarbeitern. Hierzu ein Abwehroffizier der Bezirksverwaltung Leipzig: \"Ein weiteres Motiv war die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern. Diese Arbeit hat mich tief befriedigt. Ich habe gemerkt, daß die Leute, mit denen ich arbeitete, froh waren, einen Ansprechpartner zu haben. Die waren froh, mit jemandem offen und ehrlich sprechen zu können\" (Stasi intim, 244).Und wie\'s Gescherr, so auch der Herr. Generaloberst Mittig: \"Es ist ein Trugschluß anzunehmen, daß die Sicherheitskonzeption dieses oft repressive Vorgehen enthielt. Verständnis für den Menschen zu haben, das stand doch in jedem Dokument\" (ebenda, 184).Kritik wird von den ehemaligen MfSlern vor allem an drei Punkten festgemacht. Zum ersten, daß die \"Bonzen\" des MfS und der Partei Wasser predigten und heimlich Wein tranken, zum zweiten, daß die führenden Genossen der Partei die von den MfS-Mitarbeitern gemachten Analysen und Vorschläge nicht zur Kenntnis nahmen respektive keine Schlußfolgerungen daraus zogen (eine auch von Mielke angemeldete Kritik), und schließlich, daß der schlechte Ruf des MfS und seiner Mitarbeiter u.a. daher rühre, daß das Ministerium die in der Ära Ulbricht aktive öffentlichkeitswirksame Publicity nach und nach einstellte. Nicht also die Erfahrungen mit dem MfS, vielmehr der Mangel an Öffentlichkeitsarbeit habe den schlechten Ruf des MfS erzeugt, so die verbreitete Illusion.Es wäre gewiß verfehlt, aus diesen Selbstdarstellungen von Stasi-Mitarbeitern unterschiedlichster Rangstufen ausschließlich die vordergründige Absicht der Apologie und des Abwälzens von Verantwortung herauszulesen, so zynisch und verlogen sie auf jene wirken müssen, die von der Stasi zum Objekt operativer Vorgänge gemacht worden sind oder in Stasi-Haft vernommen wurden. Sie können auch als Dokumente gelesen werden, die Auskunft geben zur Sozialisation und Psychologie in einer totalen, vom Rest der Gesellschaft weitestgehend abgeschotteten Institution, die sich ihre eigenen Wirklichkeitskonstrukte und Legitimationsmuster schafft, denen sich der einzelne Mitarbeiter kaum entziehen kann. Das klassische, systemübergreifend in jeder Bürokratie vorfindbare Legitimationsmuster ist der ebenfalls diese Berichte durchziehende Verweis auf die (streng militärische) Hierarchie und die daher fehlenden individuellen Handlungsspielräume. Auch die weiteren Techniken der Neutralisation von Gewissenskonflikten, die in diesen Selbstdarstellungen erkennbar sind, wie der Rückzug auf formale Rechtspositionen, ein striktes und von Apparat systematisch anerzogenes Feindbild, die Entlastung durch Verantwortungsdelegation an Vorgesetzte, die Betonung sogenannter Sekundärtugenden wie Gehorsam, Fleiß und Strebsamkeit sind keineswegs Phänomene, die ausschließlich sozialistischen Bürokratien zueigen sind. Die westliche Militärund Polizeisoziologie und Studien zur Soziologie totaler Institutionen haben entsprechende Mechanismen und Phänomene gerade in bürokratischen Apparaten westlicher Demokratien dingfest gemacht. Die Differenz liegt in erster Linie darin, daß totalitäre Systeme keinerlei gegensteuernde Check and Balance-Mechanismen eingebaut haben, die solche Apparate kontrollieren und Korrekturen erzwingen können.Nach der Täter- die Opferperspektive. Ende 1989 begann Gilbert Furian, selbst 13 Monate politischer Häftling, für eine \"Inventur des Unrechts\" - wie er es nannte - Erfahrungsberichte aus 40 Jahren politischer Justiz der DDR zu sammeln, die er unter dem Titel \"Mehl aus Mielkes Mühlen\" 1991 vorlegte. Es ist insoweit ein aussichtsloses Unterfangen, als bei einer geschätzten Zahl von allein 150.000 bis 200.000 politischen Strafurteilen eine \"Inventur\", die dem Begriff nach auf Gesamterfassung zielt, als Aktion eines Einzelnen von vorn herein scheitern muß. Selbst die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter ist in dreißigjähriger Tätigkeit auf \"nur\" ca. 42.000 Vorermittlungsverfahren gekommen. Gleichwohl haben die 31 Fallschilderungen aus vierzig Jahren DDR-Geschichte, die Furian zusammengetragen hat, ihren Wert. Sie konterkarieren die Perspektive der \"Tschekisten\", geben sowohl Einblicke in Motive und Formen des Widerstandes wie in die Härte, mit der das SED-Regime auf Zeichen von Opposition reagierte. Eine der vielen SammelrezensionenJHK 1993 419Auffälligkeiten im Vergleich zwischen den Täter-Berichten und jenen ihrer Opfer liegt darin, daß in deren Darstellung der Begriff \"Idealismus\" als Handlungsmotiv, der in den Schilderungen ehemaliger MfSler eine so zentrale Rolle spielt, nahezu nie reklamiert wird. Die Opferberichte sind weitaus bescheidener formuliert. Auch daran wird erkennbar, daß sie keinen Anlaß haben, sich zu rechtfertigen.Weit in die fünfziger Jahre zurück führt das erstmals 1978 erschienene, nun in einer durchgesehenen und erweiterten Auflage wieder greifbare Buch von Brigitte Klump, Das rote Kloster. 1954 von der Redaktion des \"freien Bauern\" als Parteilose zum Studium an die Fakultät für Journalistik in Leipzig delegiert, bot sich ihr an dieser Kaderschmiede für künftige, parteitreue Journalisten die Chance zu einer erfolgreichen DDR-Karriere. Einige ihrer Kommilitonen besetzten später Chefredakteursposten in den DDRMedien; andere, mit denen sie in diesen Jahren in Kontakt kam, so die Schriftstellerin Helga Noak, ihr Dozent Reiner Kunze oder Wolf Biermann, traf sie später in der Bundesrepublik wieder.Früh versuchte die Staatssicherheit, die Autorin in Spitzel- respektive Spionagedienste einzubinden Forderungen, denen sie sich zunächst nur dadurch entzog, daß sie sich gegenüber dem \"Objekt\" des StasiInteresses offenbarte. Als das MfS auf eine förmliche Verpflichtung drang, ging sie in den Westen. Das Bild, das Brigitte Klump vom Alltag in der DDR der fünziger Jahre zeichnet, bleibt blaß, gemessen an vergleichbaren autobiographischen Texten wie Erich Loest\'s \"Durch die Erde ein Riß\" oder Gerhard Zwerenz\' Bericht \"Der Widerspruch\". Vielleicht muß man sich zunächst mehr auf das System eingelassen haben, als es Britte Klump je gemacht hat, um im Prozeß des Brechens mit dem System und seiner literarischen Verarbeitung die Erfahrungen auch Dritten in bedrängender Weise darstellen zu können.Erhebliche Zweifel sind anzumelden, wenn die Autorin die Journalistische Fakultät in Leipzig gleichsam den Status der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam zuschreibt, sie zur förmlichen MfSAusbildungsstätte erklärt. Daß aus dem Kreis der Studierenden die Stasi Perspektivkader rekrutierte und zu rekrutieren suchte, wie es die Autorin selbst erleben mußte, reicht als Beleg jedenfalls nicht aus.Die bisherige Literatur zum MfS, so umfangreich sie auch in kürzester Zeit geworden ist, bleibt zwangsläufig noch immer bruchstückhaft. Längst sind nicht alle Aktenbestände des MfS, der Parteien und Massenorganisationen der DDR und insbesondere die der SED gesichtet, geschweige denn archivarisch erschlossen. Denkt man allein an die endlosen Reihen an MfS-Akten, so wird es Historikern noch für Jahrzehnte nicht an neuen Quellen mangeln, ist noch viel historiographische Arbeit zu leisten.Doch zu neuen Erkenntnissen kommt man nicht nur durch die Auswertung neuer Quellen, sondern gleichermaßen durch neue Fragestellungen. Die unzähligen Berichte der letzten drei Jahre über die Praxis des MfS, tagtäglich häppchenweise in den Medien präsentiert, und die vielen Berichte jener, die zu Objekten des MfS und der DDR-Justiz wurden, suggerieren das Bild eines allmächtigen Unterdrückungsapparates. Gestärkt wird dieses Bild durch die neuen Kenntnisse über die personellen und materiellen Ressourcen des MfS. Ungeachtet dessen hält sich kein Herrschafssystem über 40 Jahre nur durch Unterdrückung, geht keine Diktatur auf in der Dichotomie von Unterdrückern und Unterdrückten. Das Bild eines omnipotenten Staatssicherheitsapparates, der einer in der Machtsicherung skrupulösen SED-Spitze bedingungslos als \"Schild und Schwert\" diente, mystifiziert und entlastet zugleich - wie das Parallelbild von der Omnipotenz der Gestapo die nachfaschistische deutsche Gesellschaft vom Vorwurf der Mittäterschaft befreite.Gewiß ist es sinnvoli, alsbald eine historiographische Institutionengeschichte des MfS zu erarbeiten eine der dank ihrer exklusiven Quellenzugänge von der Forschungsabteilung der Gauck-Behörde übernommenen Hausaufgaben. Doch zu bearbeiten ist auch die Frage nach der Wirkungsgeschichte des MfS und die nach der gesellschaftlichen Einbettung und Unterstützung dieses Apparates. Jüngere, sozial- und wirkungsgeschichtlich orientierte Studien zur Gestapo zeigen heute, in welch erschreckendem Maße dieser Unterdrückungsapparat auf die Beihilfe der Gesellschaft angewiesen war - und sie erhielt. Personell vergleichsweise sehr schwach ausgestattet, allein aus Ressourcenmangel zu keinerlei flächendeckender präventiver Ermittlungstätigkeit in der Lage, nährte sich die Gestapo von ihrem Mythos und der bereitwilli- 420 JHK 1993Sammelrezensionengen Spontandenunziation aus der Gesellschaft - die \"Denunziation als Plebiszit für das System\", wie es Mallmann und Paul genannt haben (in: Herrschaft und Alltag - ein Industrierevier im Dritten Reich, Bonn 1991). Vielleicht läßt sich die herausragende Rolle, die das so extrem entwickelte und formalisierte System der Werbung und Führung von inoffiziellen Mitarbeitern im Kontext der Stasi spielte, damit erklären - so eine tentative These -, daß im politischen System der DDR die Bereitschaft zur \"Denunziation als Plebiszit für das System\" vergleichsweise unterentwickelt war, so daß sie durch das IM-System ersetzt werden mußte.Gerd Dietrich (Petershagen)Kulturhistorische Aspekte der DDR-Geschichte. Die Spur der Steine vom Turm zu Babel oder von den Rittern der Tafelrunde und den von der traurigen GestaltMayer, Hans: Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1991, 272 S. Rüther, Günther: \"Greif zur Feder, Kumpel\". Schriftsteller, Literatur und Politik in der DDR 1949-1990. Droste Verlag, Düsseldorf 1991, 221 S. Wehner, Jens: Kulturpolitik und Volksfront. Ein Beitrag zur Geschichte der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945-1949. Peter Lang-Verlag, Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1992, Teil 1 und Teil2, 1199 s.Allein mit Lebensmittelkarten ist es nicht auszuhalten... Autoren- und Verlegerbriefe 1945-1949. Hrsg. von Elmar Faber und Carsten Wurm. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1991, 412 S. Der gespaltene Dichter Johannes R. Becher. Gedichte, Briefe, Dokumente 1945-1958. Hrsg. von Carsten Gansel. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1991, 232 S. Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1991, 392 S. ... und leiser Jubel zöge ein. Autoren- und Verlegerbriefe 1950-1959. Hrsg. von Elmar Faber und Carsten Wurm. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1992, 499 S.Ende schlecht, alles schlecht?Jeder Historiker wird Hans Mayer zustimmen, wenn er davor warnt, Geschichte von ihrem Ausgang her zu denunzieren. Zwar stellt die Republik Ost nun ein \"abgeschlossenes Sammelgebiet\" dar, aber historische Wunden schließen sich so schnell nicht. Auch ihr möglicherweise schlechter Ausgang widerlegt noch keineswegs die Sage vom guten Anfang. Ebenso könnte man freilich von einem guten Ende sprechen. Also Ende gut und Anfang gut und dazwischen alles schlecht? Mit den Klischees vom Guten und Bösen oder von den Einen und den Anderen ist dieser Zeitgeschichte nicht mehr beizukommen. Der Turm von Babel ist eingestürzt. Die Ritter der Tafelrunde siechen dahin. Jetzt können und müssen Ereignisse und Strukturen der DDR-Gesellschaft, Milieus und Mentalitäten, Zeitgeist und Alltagskultur der Ostdeutschen systematisch erforscht werden. SammelrezensionenJHK 1993 421Die Geschichte der deutschen Republiken Ost und West ist weder aus ihrem Anfang noch aus ihrem Ende allein zu er- oder zu verklären. Natürlich besteht darin ein Kernproblem der Historiker: Die Vergangenheit wird oft unbewußt an ihren Folgen gemessen, weil es um die Erkenntnis der Zusammenhänge geht. Aber sie sollte doch gerechterweise wiederum aus ihrer Vergangenheit bewertet werden. Erst dieses Spannungsfeld - zwischen dem Zwang, die uns bekannten Folgen mit zu denken, und dem Gebot, mit den damaligen Menschen von ihrer Geschichte her zu denken-, macht historische Darstellung sinnreich! und läßt uns auch dem \"unbekannten Wesen\" DDR näherkommen. Zumal dies \"eingedenk der Folgen\" im spezifisch deutschen Fall die Gefahr in sich birgt, die Republik Ost vom Anbeginn in ihrer Schwäche an der Republik West vom Ausgang in ihrer Stärke zu messen. Darüber hinaus würde man bei solchem Herangehen einer weiteren notwendigen Erkenntnis möglicherweise verlustig gehen: dem Aufzeigen deutscher Parallelen, dem Verständnis des \"geteilten Zusammenhangs\" der Deutschen.2Kultureller Aufschwung OstNach dem Krieg war alles noch \"Anfang, Hoffnung, Aufatmen\", Wunsch nach einem besseren und neu strukturierten Gemeinwesen; die Sehnsucht nach Demokratie und Antifaschismus eine \"Denkwirklichkeit\" zumindest (Mayer, 16, 49), wenn es auch nie zu einer realen Alternative werden konnte. Dies bezeugen das Erinnerungsbuch Mayers ebenso wie die Autoren- und Verlegerbriefe des Aufbau Verlags von 19451949. In dieser lesenswerten Dokumentation des Zeitgeistes und der Zeitumstände suchte ich, einer alten kindlichen Gewohnheit gemäß, zuerst die leider nicht sehr zahlreichen Abbildungen: Auch die \"Bildersprache\" ist exemplarisch für die Nachkriegsjahre. Wenn man sich traf, dann zu Essen und Empfängen. Von der materiellen Not aber ist weniger, vom geistigen Hunger dafür um so mehr die Rede. Darum der doppeldeutige Titel: \"Allein mit Lebensmittelkarten ist es nicht auszuhalten... \", zitiert aus einem Brief des rührigen und parteilosen ersten Leiters des im August 1945 gegründeten Aufbau Verlags, Kurt Wilhelm, eine Art Wiedergutmachung. Denn sein Name wurde später oft verschwiegen, sodaß auch Mayer Erich Wendt zum Gründer des Verlags macht, der Kurt Wilhelm Anfang 1947 als Leiter ablöste.Im Mai 1947 schrieb der Kommunist Erich Wendt an ernst Bloch: \"Gegenwärtig sind hier die Geister außerordentlich empfänglich für neue Ideen... Wir müssen deshalb die günstige Zeit ausnutzen, und jedes antifaschistische Buch ist von allergrößter Bedeutung\" (29); und im Juni 1947 an Georg Lukacs, auf \"die geistige Umwälzung\" in gewissen Kreisen der Intelligenz hindeutend: \"Wir haben die Möglichkeit, mit Ihren Büchern in Schichten einzudringen, die uns früher (auch vor Hitler) verschlossen waren und an die wir, wenn wir die Gelegenheit heute nicht nutzen, nach einigen Jahren vielleicht nicht mehr herankommen.\" (180) Diese Briefsammlung dokumentiert, wenn auch ihre Auswahlprinzipien im Dunkel bleiben und mehr erläuternde Anmerkungen dienlich gewesen wären, daß und wie sich der Aufbau Verlag vor allem um die \"Heimholung\" der antifaschistischen deutschen Exilliteratur verdient machte. Symptomatisch zeigt sie zugleich die Schwierigkeiten des Verlags mit Autoren, die sich nicht so recht in das dezidiert erzieherische und missionarische Raster einfügten, wie z.B. Horst Lommer, Ernst Niekisch und Erik Reger.Jens Wehners Beitrag zur Erforschung der Nachkriegsgeschichte, 1990 in Göttingen als Dissertation verteidigt, ist um differenzierende Rekonstruktion von Standpunkten und Entwicklungen bemüht. In aller Bescheidenheit will er eine brauchbare Grundlage für die weitere Fachdiskussion schaffen. Freilich hat ihn die Zeit eingeholt. Bei Erscheinen der Arbeit stehen die Wehner noch verschlossenen Archive offen, so sie noch existieren. Trotzdem bietet die Arbeit, deren wichtigste Quellengrundlage die kulturpolitischen Publikationsorgane der SBZ sind, gerade in deren Analyse Neuwert. Wer nach dem eigenen Profil und der eigenen Geschichte von Blättern wie \"Aufbau\", \"Sonntag\", \"Die Aussprache\", \"Demokratische Erneue-Von der Dunk, Hermann: Literatur, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 40 (1992) 3. S. 438/439. 2 Vgl. Bender, Peter: Ansätze zu einer deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Merkur (1993) 3. 422 JHK 1993Sammelrezensionenrung\", \"Heute und Morgen\", \"Schöpferische Gegenwart\", \"Forum\", \"Die Weltbühne\", \"Ost und West\" und \"März\" fragt, findet hier exakte Informationen.Der Titel allerdings wäre, etwas bescheidener, mit \"Kulturbund und Volksfront\" wohl besser formuliert gewesen. Denn davon allein handelt die Arbeit. Nicht die ostzonale Kulturpolitik wird dargestellt, sondern Konzeption und Entwicklung des \"Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands\". Ich meine, auch Wehners Buch liefert eher einen Beweis dafür, daß man zumindest für die Zeit bis 1948 von Kulturpolitiken sprechen sollte: Was SMAD, KPD, SPD, dann SED, Kulturbund und FDGB, deren Ableger wie Volksbühne, Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion oder die Friedenskomitees, kulturpolitisch anfingen, war bei weitem nicht deckungsgleich. Da gab es erhebliche Unterschiede, Divergenzen und Rivalitäten. Zu den darin enthaltenen Möglichkeiten wie den Grenzen für die Nachkriegsjahre in der SBZ liegt ein weiterer Diskussionsbeitrag vor.3 Ist doch auffällig, daß wer aus der pluralistischen Sicht des Westens urteilt, diese Zeit schon als eingeengt und kommunistisch vorbestimmt, wer aus der Erfahrung des dogmatischen Ostens urteilt, sie als liberales und \"verlorenes Paradies\" beschreibt.Rebellen und RepräsentantenAlle hier besprochenen Bücher vermeiden neue Synthesen oder Turmbauten. Die Geschichte der DDR wird zunächst vor allem personalisiert, nicht zuletzt, weil die ostdeutschen Leser hierin großen Nachholbedarf haben. Carsten Gansel stellt in einer informativen Auswahl, z.T. eben erst zugänglich gewordener Archivmaterialien, Johannes R. Becher zwischen Ohnmacht und Allmacht vor. Hans Mayers Erinnerungsbericht durchzieht wie ein roter Faden die Interpretation eines Bechergedichts, das auch seinem Buch den Titel gab. Gansels Auswahl gibt neue Aufschlüsse über das Verhältnis der SED-Führung zu Intellektuellen, über stalinistische Denk- und Verhaltensmuster und daraus erwachsende Deformationen. Sie ist thematisch auf das Gespaltensein des Dichters fixiert und liefert hierfür anschauliches und eindringliches Material. Freilich gibt sie uns nicht den \"ganzen\" Becher. Die \"Leitfigur\" Becher für die angestrebte dialogische Kultur- und nationale Bündnispolitik im Kulturbund, wie sie bei Wehner vorkommt, den \"Glücksfall\" Becher als Kulturminister, wie ihn Mayer darstellt, zeigt sie uns kaum.Die Autoren- und Verlegerbriefe 1950-1959 illustrieren die kleinen Utopien und die großen Dummheiten, die ideologischen Beckmessereien und die Wehrhaftigkeit von Dichtern und Verlegern, die Erfolge und Defizite jener Jahre. Sie repräsentieren das respektable Verlagsprogramm mit Autoren wie Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Ludwig Renn, Anna Seghers, Friedrich Wolf, Lion Feuchtwanger, Oskar Maria Graf, Leonhard Frank, Heinrich und Thomas Mann. Sie zeugen von den Problemen und Schwierigkeiten der jungen Autorengeneration von damals: Franz Führmann, Günter Kunert, Günter de Bruyn oder Brigitte Reimann. Sie dokumentieren Verluste für die literarische Öffentlichkeit der DDR: Peter Huchel, Uwe Johnson, Alfred Kantorowicz.Das ist ein kurzweiliges Lesen, wie im ersten Band, von namhaften \"Geistesschaffenden\" und ihren Eitelkeiten, von Modekrankheiten wie \"Selbstverpflichtung\" (61) und \"behördlicher Verschärfung des Klassenkampfes\" (186), von der Kritik an Bequemlichkeit, Rezensionsunwesen, Nachwortorgien und Sektierertum, von den Schwankungen der Jungen zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexen, von \"Freibeutertum\" (294) hinsichtlich der schnellen, aber unlizenzierten Herausgabe wichtiger Werke für die Ostzone, von Honoraren und Vorschüssen, zum einen als \"wertlose Gutschriften in einer phantastischen Währung\" und zum anderen als Überlebenshilfe für die Literatur - Dieter Noll ist gar bereit, seine \"Seele zu verschreiben\" (333) -, von Naturalienwirtschaft en gros: Austausch von Druckaufträgen gegen Honorare, und en detail: Aus Mangel an Devisen kümmert sich der Verlag um Maßschneider3 Vgl. Dietrich, Gerd: Politik und Kultur in der SBZ 1945-1949. Mit einem Dokumentenanhang. Bern, Berlin, Frankfurt/M., New York, Paris, Wien 1993. SammelrezensionenJHK 1993 423und Pelzmäntel, Meißner Service und Autos für seine westlichen Autoren - wenn sich all dies realisieren ließe. \"... und leiser Jubel zöge ein, in unsere Hütte zu Erlenbach\", schrieb Erika Mann (256). Wir erfahren viel vom Optimismus der Aufbruchsjahre wie von den schweren Enttäuschungen und scharfen Widersprüchen; und von der Statur der Büchermacher: Walter Janka, der den Aufbau Verlag 1951 übernimmt und 1956 verhaftet wird, Klaus Gysi sein Nachfolger, Wolfgang Harich, Lektor bis zur Verhaftung 1956, Max Schroeder und Günter Caspar. Und über allem der allgewaltige Zensor. ..Ulbricht und die SeinenDie real existierende DDR, schreibt Mayer, war ein Staat Ulbrichts, \"Nachdenken über die DDR ist Nachdenken über Walter Ulbricht\" (149). Und er versucht, den gefühllosen Bürokraten, den pedantischen Lehrer, den unsicheren Mann ohne Überzeugungen, die dürre Seele mit dem Hang zum Höheren zu porträtieren; dann sein Gefolge: den Feldwebel Paul Fröhlich, den Eiferer Otto Gotsche, den Besserwisser TapetenHager, den unfähigen Honecker usw. Alles Ritter der Tafelrunde, die die Mähre Sozialismus zuschanden ritten. \"KULTUR schreibt sich meist kultur\", Herbert Nachbar in einem Brief an den Aufbau Verlag 1959. Der Bindestrich zwischen Marxismus und Leninismus, so Mayer, war vermutlich die Grundtorheit aller sozialistischen Gralsritter. Gut, das ist die Theorie - wie auch die noch weitergehendere Ableitung, daß mit der Verwandlung des Sozialismus aus einer Utopie in eine Wissenschaft alles Dilemma begann.4 In der Praxis aber ging es weder um Wissenschaft noch um Utopie, sondern stets um Macht. Um die Macht einer Minderheit, die doch gemäß ihrem ideologischen Anspruch immer Mehrheit sein wollte. Deshalb umgarnte sie die Arbeiter, umwarb sie die Intelligenz.Warum Günther Rüther sein Buch allerdings \"Greif zur Feder, Kumpel\" nannte, ist mir nicht ersichtlich geworden. Denn von den Kumpeln an Pleiße und Neiße, nach denen seinerzeit die \"sozialistische Nationalliteratur\" rief, ist nicht die Rede, und eine Geschichte der Literatur der DDR ist es auch nicht. Ihm geht es um das Verhältnis von Literatur und Politik in einer Diktatur, genauer um Herrschaftskritik gegenüber einem allumfassenden, repressiven Staat (169). - Und die Bildersprache der Essen und Empfänge wird nun durch die gestellten Gesprächsbilder und die \"gesetzten\" Präsidiumsbilder mit den Mächtigen ergänzt. Rüther beschreibt das bekannte Auf und Ab zwischen den kulturpolitischen Tauwettern und Eiszeiten und versucht, darin die Schriftsteller der DDR zu verorten. Die \"janusköpfige\" Literatur kommt dabei nicht allzu gut weg. Der Text ist materialreich und regt den Leser an, sich sein eigenes Urteil zu bilden. Von A wie Abusch bis Z wie Zwerenz kommen die berüchtigten und die berühmten ostdeutschen Autoren selbst zu Wort.Dennoch kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier bei aller postulierten Differenzierung ein politischer, moralistischer, schematischer und äußerlicher Maßstab an Schriftsteller und ihre Werke angelegt, die aktuelle \"Intellektuellenschelte\" in die Geschichte verlagert wird. Aber vermutlich wurden die ostdeutschen Schriftsteller im Westen anders rezipiert. Das Dilemma des Schriftstellers war eben nicht so einfach: Schreibt er die Wahrheit, erzürnt das die Mächtigen, schönt er die Wirklichkeit, mißbilligen das die Leser; nein, auch beschriebene Wahrheit erzürnte Leser, und geschönte Wirklichkeit mißbilligten die Mächtigen. Jeder Autor hatte seinen Weg, um seine Leser zu finden. Pauschalisierungen und Schemata sind da wenig hilfreich.Den aufmerksamen Leuten im Osten bedeutete Literatur, die Kunst insgesamt, vielfach Gegenwehr und Überlebenshilfe. Sie konnte überhaupt nur als systemimmanente Opposition wirksam und fruchtbar sein.5 Doch eine Allianz zwischen der Literatur und dem Volk hat es ebensowenig wie zwischen Volk und Füh-4 Vgl. Lepenies, Wolf: Aufstieg und Fall der Intellektuellen in Europa. Frankfurt/M., New York 1992. S. 65.5 Dieckmann, Friedrich: Vom Einbringen. Vaterländische Beiträge. Frankfurt/M. 1992. S. 84/85. 424 JHK 1993Sammelrezensionenrung oder Literatur und Politik gegeben. So wie die Mächtigen im Osten Literatur stets fürchteten, auch weil sie sie in ihrem Einfluß überschätzten, kann man nun die Schriftsteller nicht dafür schelten, daß die Mächtigen nicht eher abgetreten sind. Darum wäre sich eher der Frage zuzuwenden, was die Schriftsteller in die Erfahrung und Mentalität der Ostdeutschen eingebracht haben, welchen Beitrag die Literatur dafür geleistet hat, daß im Herbst 1989 das Nachkriegslügensystem \"friedlich\" zusammenbrach. \"Gedenkt unsrer mit Nachsicht\", bat Brecht, auch einer dieser Ritter von der traurigen Gestalt. Sollten wir es nicht lieber mit Hölderlin halten: \"Was aber bleibet, stiften die Dichter\"?Metaebenen und AmbivalenzenDas ohne Zweifel spannendste, informativste, materialreichste und auch erschütternste Buch der hier vorgestellten ist \"Kahlschlag\", herausgegeben von Günter Agde: Ergebnis eines Kolloquiums der Akademie der Künste zu Berlin (Ost) vom Sommer 1990. Inhalt: Wirtschaft und Gesellschaft nach dem Mauerbau und Kultur, von der Ausstellung \"Junge Kunst\" 1961 über DDR-Beatmusik, Kafka-Konferenz 1963, Theater- und Fernsehdramatik wie -publizistik, TV-Shows \"Mit dem Herzen dabei\", Jugendkommission und \"Jugendkommunique\" bis zum Verbot von zwölf Filmen des DEFA-Jahrgangs 1965 und der Absetzung des Films \"Spur der Steine\"; Äußerungen von Akteuren, Analysen von Wissenschaftlern, Erinnerungen von Betroffenen, neue Dokumente im Anhang; Zeitraum: 1961 bis 1966. Hier werden die Antinomien zwischen Kunst und Politik ebenso wie die Ambivalenzen thematisiert, die Intellektuellenhatz der Mächtigen, das Aufbegehren der jungen Generation, das Kritikpotential der Künste: \"Man ist von Zeit zu Zeit Rebell gewesen, aber man war doch auch immer ... Repräsentant\", sagt Gerhard Scheumann (251).Das 11. Plenum des ZK der SED vom Dezember 1965 war nicht der erste und nicht der letzte, aber der rigoroseste und folgenreichste Eingriff der SED-Führung in Kunstprozesse und Intellektuellendebatten. Was diesen Band so interessant macht, ist das Aufdecken der Hintergründe: Das 11. Plenum - eine \"politische Standortbestimmung im Kostüm einer Kunstdiskussion\",6 eine \"Stellvertreterdebatte\" auf einem \"Nebenschauplatz\" (128), eine \"verdeckt geführte\" Auseinandersetzung (108), die Künstler als \"Feindersatz\" (41) und als \"Sündenböcke\" (265) für ökonomische und gesellschaftliche Probleme, eine \"kunstfeindliche Debatte\" als \"ablenkende Wirkung\", weil man sich auf Zustimmung bei den auf einen kleinbürgerlichen Kunstgeschmack orientierten Massen verlassen konnte (265).Das 11. Plenum: ein kulturpolitisches Autodafe (105), \"eine Inquisition\" mit dem \"Großinquisitor Kurt Hager\" (261). Hauptsinn der Inszenierung: Die vorbeugende Zurückdrängung gemeinsamer Mentalitäten wie die vorbeugende Zerschlagung möglicher Verbindungen verschiedener Ströme der DDR-Gesellschaft, die auf antistalinistische Veränderungen und Reformen drängten; kurz: die \"präventive Abwehr des Frühlings von Prag und Paris\" (167).Nachhaltig demonstriert der Band jene \"Metaebene\" (84) der Künste, die die Menschen benutzten, um sich mit den Schwierigkeiten in ihrer Existenz auseinanderzusetzen, und die auch die Machthaber gebrauchten, um von der Fragwürdigkeit ihrer Positionen abzulenken. Damals stellte sich auch bei jener \"Ritterin\" von der traurigen Gestalt, die auf dem 11. Plenum Zivilcourage bewies, ein \"Verlierergefühl\" ein (239). Und das war nicht nur bei Christa Wolf so, das ist in diesem Band auch bei Fritz Cremer, Stephan Hermlin, Gerhard Scheumann, Klaus Wischnewski und Konrad Wolf nachzuspüren. Zwar war das 11. Plenum kein Überraschungsangriff, man kannte die Fronten, doch die Wucht des Angriffs war überraschend (263), das \"Ausmaß an politischer Dummheit und Verwüstung war dennoch nicht vorhersehbar\" (174).Gleichwohl sind die \"Sieger der Geschichte\" letztlich die Verlierer geworden. Das ist kein Wunder bei diesem Defizit an politischer Kultur und diesem Ausmaß an kultureller Verwahrlosung. - Ein Wunder6 Gespräch mit Wolfgang Kohlhaase, in: Sinn und Form, 31 (1979) 5. SammelrezensionenJHK 1993 425vielleicht, daß wir das noch erleben durften ... - Der \"ewige\" Widerspruch zwischen Politik und Kultur reproduzierte sich in den staatssozialistischen Gesellschaften auf eine Art und Weise, die an eine Lücke,7 ja an einen Rückfall in der Zivilisation erinnert. Deren Ursachen und Folgen sind keineswegs hinreichend erforscht. Die vorgestellte Literatur zur Kulturgeschichte der SBZ und DDR wirft viele neue Fragen auf. Es ist ihr gutzuschreiben, daß sie keine vorschnellen Antworten liefert. Jetzt vor allem neue Dokumente, Materialien, Sichtweisen, Eindrücke und Erfahrungen zu sammeln und vorzulegen, ist zweifellos verdienstvoller.Nun ist der Turm von Babel zerfallen, die Spur der Steine verwischt, die Tafelrunde aufgelöst, der Gral: ein schwarzes Loch. Was aber bleibe!... Und die Ritter von der traurigen Gestalt gehen weiter gegen die Unvernunft in Geschichte und Gegenwart an. Die Historiker mögen sich zu ihnen gesellen: Wenn nachgeforscht wird über die vierzig Jahre jenes ostdeutschen Staatsgebildes, sollte vor allem - wie Hans Mayer schreibt - der vielen Menschen gedacht werden, \"die es am Leben hielten und immer wieder auch Anlaß fanden, ihm zu vertrauen\" (250). Denn die offenkundigen Untaten dieses Staates und seiner mit ihm zugrunde gegangenen Lenker \"können die vielen Hoffnungen, Leistungen, Ausdrucksformen eines demokratischen Gemeinwillens nicht ungeschehen machen\" (16). Viereinhalb Jahrzehnte SBZ und DDR, fast ein halbes Jahrhundert, das waren für zwei bis drei Generationen gelebtes Leben; ein beschädigtes Leben sicher, aber es gab auch richtiges Leben im falschen.Achim Kilian (Weinheim)\"Säuberung\" und Repression in der SBZ/DDRKlotz, Ernst-E.: So nah der Heimat. Gefangen in Buchenwald 1945-1948. J.H. W.Dietz Nachf, Bonn 1992, 168 S. Müller, Hanno (Hrsg.): Recht oder Rache? Buchenwald 1945-1950. Betroffene erinnern sich. dipa Verlag, Frankfurt/M. 1991, 148 S. Klonovsky, Michael/von Flocken, Jan: Stalins Lager in Deutschland 1945-1950. Dokumentation - Zeugenberichte. Ullstein, Berlin-Frankfurt/M. 1991, 248 S. (Taschenbuchausgabe: dtv, München 1993). Bautzen-Komitee (Hrsg.): Das gelbe Elend. Bautzen-Häftlinge berichten 1945-1956. Mit einem Dokumentenanhang. Buchverlag Union, o.O. 1992, 320 S. Knechte/, Rüdiger/Fiedler, Jürgen (Hrsg.): Stalins DDR. Berichte politisch Verfolgter. Forum Verlag Leipzig, Leipzig 1991, 264 S.1944/45 hat die Politik Hitlers mit der Zustimmung und Unterstützung, die sie gefunden hatte, Stalins Herrschaft und den Stalinismus nach Deutschland gebracht. Parallel zum Vormarsch der Roten Armee übernahm das NKWD die Sicherung dieser Herrschaft. Von deutschen Kommunisten unterstützt, setzten die NKWD-Organe tatsächliche und vermeintliche Nazi-Aktivisten fest sowie Personen, die gefährlich7 Vgl. Engler, Wolfgang: Die zivilisatorische Lücke. Versuche über den Staatssozialismus. Frankfurt/M. 1992. 426 JHK 1993Sammelrezensionensein mochten oder als Angehörige der \"Bougeoisie\", \"Intelligenzija\" und anderer Bevölkerungsgruppen suspekt erschienen. Ihr Vorgehen war dabei zugleich antifaschistisch und stalinistisch geprägt. Dieser Doppelcharakter der sowjetischen Besatzungsmacht (Hermann Weber) liefert den Schlüssel zu allem, was seit 1945 in Stalins Deutschland geschah.Für die Unterbringung und Isolierung der ohne Urteil Festgehaltenen richtete das NKWD eigens konzipierte \"Speziallager\"l ein. Eines dieser Schweigelager bestand von August 1945 bis Februar 1950 im ehemaligen KZ Buchenwald bei Weimar. Ernst-Emil Klotz (Jg. 1900) hat 1951/52 über seine fast dreijährige Gefangenschaft im Speziallager Buchenwald einen Bericht verfaßt, der kürzlich unter dem Titel \"So nah der Heimat\" erschienen ist. Ohne Nennung des Verfassers ist hieraus 1952 in West-Berlin ein Abschnitt über das Bestattungskommando publiziert worden.2 Er ist authentisch: Klotz gehörte diesem Kommando selbst an. Gleichermaßen fundiert sind die Schilderungen der Verhältnisse im \"Isolator\", denn Klotz hat die Hälfte seiner Lagerzeit (!) in dieser doppelten Isolierung zubringen müssen, zeitweise als Angehöriger des Bestattungskommandos, zeitweise zur Strafe. Sein Bericht beeindruckt insgesamt durch nüchterne Sachlichkeit und sorgsame Erfassung von Beobachtungen und Eindrücken. \"Dr. Albrecht [...] sprach von der Würde des Menschen, die eine untere Grenze für alles Verhalten in der Gemeinschaft darstelle, oder [...] von der Geduld [...]\", und wurde, wie auch Klotz, wegen solcher verbotenen Vorträge \"lange in schwerer Bunkerhaft gehalten\" (112).Gewiß ist es angebracht, Begriffe wie \"Vernichtungslager\" (117 ff.) terminologisch zurechtzurücken. Doch dem Verfasser darf unterstellt werden, daß ihm ein Vergleich mit den NS-Vernichtungslagern fern lag. Angesichts der physischen und psychischen Grenzzustände, denen er und seine Mitgefangenen sich ausgesetzt sahen, sowie des bedrohlichen Anwachsens der Todesfälle, kam im Lager Buchenwald im Winter 1946/47 der Eindruck auf, man befinde sich in einem Vernichtungslager. Alles in allem ist dieser nur wenige Jahre nach der Entlassung geschriebene Bericht schon wegen seiner Nähe zum Geschehenen eine Fundgrube für die wissenschaftliche Bearbeitung des Speziallagerthemas.Informativ sind zumeist auch die erst Jahrzehnte nach der Lagerzeit verfaßten Berichte. Infolge des zeitlichen Abstands zum Erlebten enthalten sie zwangsläufig Ungenauigkeiten und Fehler, die dem Aussenstehenden verborgen bleiben. Die enthaltenen Wertungen sind von unwägbaren subjektiven Faktoren beeinflußt. Die Summe dieser Berichte ergibt keine repräsentative Beispielgruppe. Doch durch das Ausschöpfen originärer Quellen und früher Berichte wie dem von Klotz sowie die vergleichende Auswertung möglichst vieler Zeugenberichte lassen sich verläßliche empirische Erkenntnisse gewinnen.Unter dieser Prämisse sind die von Hanno Müller herausgegebene Arbeit über das Lager Buchenwald 1945-1950 sowie das Buch von Michael Klonovsky und Jan von Flocken über \"Stalins Lager\" zu betrachten.Hanno Müller hat für sein Buch \"Recht oder Rache?\" sechs Erlebnisberichte zusammengetragen, die Buchenwald betreffen, und einen siebten hinzugefügt, der als Einzeldokument zur Werwolf-Psychose des NKWD hervorzuheben ist: Herwarth Neubert schildert die Denunziation von Jugendlichen als angebliche Werwolf-Partisanen, ihre Schicksale sowie die Verurteilung des Denunzianten durch thüringische Gerichte vor Gründung der DDR. Bemerkenswert ist auch der Bericht Robert Zeilers. Er war 1944 mit seinem Bruder in das KZ Buchenwald eingewiesen worden, nachdem ihre Mutter von der Gestapo abgeholt worden war: \"Ihre Mutter kommt nach Theresienstadt, wir hätten sie auch totschlagen können.\"3 Nach der Befrei-Kilian, Achim: Zum Begriff \"NKWD-/MWD-Speziallager\", in: Deutschland Archiv, 25. Jg., 1992, Heft 12. S. 1315 ff. 2 Just, Hermann: Die sowjetischen Konzentrationslager auf deutschem Boden 1945-1950. 0.0. 1952. S. 96 ff. 3 SS-Hauptsturmführer Wörn, Judenreferat des Reichssicherheitshauptamtes, Berlin, Kurfürstenstraße (19). SammelrezensionenJHK 1993 427ung fanden die Brüder im Mai 1945 ihre Mutter in Theresienstadt wieder. Als beide wenig später mit zwei weiteren KZ-Häftlingen auf dem Weg nach Berlin waren, nahm das NKWD alle vier unterwegs fest. Ein Offizier beim Verhör: \"Du Jude? Ich denke, Juden in Deutschland alle tot?!\" (25). Einer der vier kam im Speziallager Ketschendorf um, und bis zur Freilassung der anderen vergingen mehr als drei Jahre. Zeiler wendet sich gegen eine \"Gleichsetzung\" der Lagersysteme. Dem ist beizupflichten. Jedes der totalitären Lagersysteme steht mit seinen menschenverachtenden Grausamkeiten für sich.Wie vor ihnen einige Mitarbeiter des Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung,4 versuchen in Hanno Müllers Buch zwei langjährige Mitarbeiter der \"Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald\", die Erkenntnissen über die Speziallager zusammenzufassen. Ihre Begründung: \"Der Historikerstand hat eine Unterlassungsschuld abzutragen - übrigens nicht nur die Geschichtswissenschaftler der ehemaligen DDR.\" (93). Diese Einlassung läßt weitere Beiträge erwarten. Immerhin hatte der frühere Chef dieser Historiker noch 1986 geäußert, die Buchenwald-Insassen nach 1945 - von ihm als Kriegsgefangene bezeichnet - hätten nicht gehungert; \"da standen böse Sachen in Ihren (westdeutschen, A.K.) Zeitungen\".5 Das gilt nicht mehr. Stattdessen ist jetzt \"dafür Sorge zu tragen, daß die ehemaligen Internierten mit ihren Erlebnissen und persönlichen Problemen nicht länger alleingelassen werden\" (127).Michael Klonovsky und Jan von Flocken haben in Zusammenarbeit mit der damaligen Zeitung \"Der Morgen\" relativ kurz nach der Wende das Speziallagerthema aufgegriffen und aus ihnen vorliegenden Erlebnisberichten eine zusammenfassende Darstellung gewagt. Zwangsläufig weist ihr Buch, dem vermutlich der Verlag den Titel \"Stalins Lager ... \" gab, Stärken und Schwächen auf. Die meisten Erlebnisberichte erweisen sich als bemerkenswerte Quellen für die weitere Untersuchung der verschiedenen Speziallager. Kurt Noack, Konrad Wächter und andere teilen Beobachtungen und Erfahrungen mit, die in Verbindung mit anderen inzwischen vorliegenden Arbeiten über NKWD-Speziallager von besonderem Nutzen sind und bestimmte Sachverhalte erhellen helfen. Das Buch enthält eine Fülle wichtiger Angaben, denen nachzugehen ist.Herbert Zimpel berichtet zum Beispiel aus Frankfurt/Oder: \"Nachhaltig beeindruckt hat mich eine Fuhre gehunfähiger und fast zum Skelett abgemagerter Frauen, die auf einem flachen Rollwagen von anderen Kriegsgefangenen in das Lager hineingezogen wurde.\"(142). Sie kamen aus der Sowjetunion. Was waren dies für Frauen? Ostpreussinnen, die 1945 zur Arbeit deportiert worden waren?6 Wehrmachthelferinnen?Eine Bildunterschrift besagt, daß in den zur Gedenkstätte des KZ Buchenwald gehörenden Ringgräbern \"vor allem Lagertote aus den Jahren nach 1945\" ruhen würden, \"die Opfer der Nationalsozialisten waren zumeist verbrannt worden\" (Bildteile o.S.). Wer bezeugt diese Aussage zu den Ringgräbern?Je gründlicher man dieses Buch liest, um so mehr erschließen sich einerseits bis ins Detail gehende Angaben, andererseits stößt man aut begriffliche und andere Ungenauigkeiten bis hin zu nicht belegten Annahmen, Behauptungen, Legenden. Letztere schmälern den Nutzen dieses Buches. So wird der unbefangene Leser zu Fehleinschätzungen kommen. Bedauert werden muß, daß die Verfasser die von ihnen herangezogenen Erlebnisberichte zugleich einzeln dazu benutzt haben, ganze Lager zu beschreiben. Mit einem, zwei oder auch drei Berichten pro Lager kann das nicht gelingen. Für Bautzen, Sachsenhausen und Torgau findet man überdies keine eindeutigen und gewichteten Unterscheidungen zwischen dem \"Speziallager\" und dem \"Gewahrsam\" für von Sowjetischen Militär-Tribunalen (SMT) Verurteilte. Auch4 Erler, Peter/Otto, Wilfriede/Prieß, Lutz: Sowjetische Internierungslager in der SBZ/DDR 1945 bis 1950, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 32. Jg., 1990, Heft 4. S. 723 ff.5 Menge, Marlies: Der Buchenwald-Direktor, in: Die Zeit, Hamburg, 8.8.1986. 6 Mitzka, Herbert: Zur Geschichte der Massendeportationen von Ostdeutschen in die Sowjetunion imJahre 1945. Ein historisch-politischer Beitrag. Einhausen 1989. 428 JHK 1993Sammelrezensionendie umfangreichen Deportationen von arbeitsfähigen Gefangenen der verschiedenen Kategorien in die Sowjetunion werden nicht hinreichend behandelt.Wenn es schon verwunderlich ist, daß Müller sowie Klonovsky und von Flocken nur unvollständig bzw. kaum auf vorangegangene Veröffentlichungen zurückgegriffen haben - was allein wegen der darin enthaltenen Zeugenberichte unerläßlich gewesen wäre -, so vermißt man einen derartigen Bezug völlig in dem Bautzen-Buch \"Das gelbe Elend\". Noch nicht einmal Eva Müthel oder Hermann Flade finden Erwähnung. Das junge Ehepaar Müthel und auch Flade hatten Flugblätter verteilt und wurden deshalb zu hohen Strafen verurteilt. Eva Müthels Haft führte sie nach Bautzen, Sachsenhausen, Hoheneck und Brandenburg,? Flade verbrachte seine zehnjährige Haft in Bautzen, Torgau und Waldheim.8Das Bautzen-Komitee veröffentlicht in seinem Buch 35 Berichte zumeist verurteilter Gefangener aus der Zeit des NKWD-Speziallagers 1945-1950, des Gewahrsams für SMT-Verurteilte 1946-1950 und der Strafvollzugsanstalt der Deutschen Volkspolizei (DVP) ab 1950. Jeder dieser Erlebnisberichte wurde nach der Wende verfaßt, manches bleibt unscharf und auch unklar, doch vieles ist von großer Aussagekraft, erschütternd, manchmal bis zur Selbstverleugnung sachlich. Auch diese Berichte enthalten wertvolle Hinweise und Einzelheiten, denen man nachgehen muß und die in einen Gesamtzusammenhang zu stellen sind.Charlotte Bärenwald wirft in ihrem Bericht die Frage der Hinrichtungen auf. Gab es solche in Bautzen? Hermann Macker wurde als Angehöriger des Landesschützen-Bataillons 353 verurteilt. Welche Funktion hatte er in dieser Einheit in der Ukraine? Georg Suchantke schreibt von einer Gefangenenliste, die man der UNO übermittelt habe. Wo ist sie? Wer weiß schon, daß neben anderen Nazi-Verbrechern Oswald Kaduk von der SS-Wachmannschaft des KZ Auschwitz als SMT-Verurteilter in Bautzen einsaß, ehe ihm in Frankfurt/Main der Prozeß gemacht wurde?Leider hat man die 35 Berichte in der alphabetischen Reihenfolge der Verfassernamen abgedruckt. In der Zeittafel wird Bautzen 1945-1950 als \"Sonderlager Nr. 4\" (311 ff.) bezeichnet, obwohl das Lager ab Herbst 1948 als Speziallager Nr. 3 geführt und seit 1946 räumlich getrennt vom Gewahrsam für Verurteilte betrieben worden ist. Unerwähnt bleiben die Transporte von Festgehaltenen nach Tost/Oberschlesien im Sommer 1945 sowie der erste Mühlberg-Transport im Oktober 1945.Das Bautzen-Buch offenbart in bedrückender Weise den unmenschlichen Umgang deutscher Machthaber mit Gefangenen, die schändliche Behandlung Kranker und Verstorbener, die verabscheuungswürdige Praxis der \"Urnenverschiebung\" (291 ff.), die niederträchtige Heuchelei nach der Wende. Viele deutsche \"Vollzugsorgane\" handelten nicht anders als vor ihnen die Schergen des NS-Regimes.Wenn Oberstleutnant Starke 1990 die Bautzener Hungerrevolten vom März 1950 mit Machenschaften der Häftlingsselbstverwaltung abtut und das brutale Eingreifen seiner Kollegen als bloße \"Anwendung polizeilicher Mittel\" bezeichnet (283), läßt einen dies schaudern. \"Das gelbe Elend\" und ebenso das Buch über \"Stalins DDR\" legen offen, daß stalinistisches Denken und Handeln in der DDR immer anzutreffen waren.Schikanen und Mißhandlungen, z.B. im \"Stehkarzer\" in Bautzen, Zielübungen von Wachposten auf Gefangene, Prügel durch Rollkommandos der Bewacher, unsinnige Verbote und Vorschriften waren nicht die Fehlleistungen einzelner, sondern bereitwillig befolgte Routine. \"Bei Fluchtverdacht knallen wir Sie ab!\" (74). \"Lassen Sie sich scheiden, und Sie sind frei!\" (128). Die Alternative zur Haft mit der Praxis, \"das Ich zu deformieren, zu schmähen, zu kränken\" (163), war der Alltag in einem Staat, der \"unsere Menschenwürde veruntreute\" (234), indem er sich seine Bürger mit Willkür und Einschüchterung gefügig machte. Diesen Alltag belegen die in \"Stalins DDR\" enthaltenen und auf den ersten Blick fast beiläufigen7 Müthel, Eva: Für dich blüht kein Baum. Frankfurt/M. 1957. 8 Flade, Hermann: Deutsche gegen Deutsche. Erlebnisbericht aus dem sowjetischen Zuchthaus. Frei-burg/Breisgau 1963. Sammelrezensionen.!HK 1993 429oder unscheinbaren \"Alltagsberichte\". Ihr \"Ziel und Inhalt [... ] ist nicht allein die Darstellung des von SED-Machthabern begangenen Unrechts. In diesem Abschnitt werben wir auch um Verständnis für unser 40jähriges passives Verhalten oder Nicht-Verhalten, das - oberflächlich gesehen - unverständlich erscheinen muß\" (235). Unverständlich wie zum Beispiel auch das \"Stadt- und Besucherverbot aus Anlaß staatlich organisierter Feste wie Freundschaftstreffen, Volks- und Pressefeste\" (163), das nach 28monatiger Haft gegen Holger Irmisch verhängt wurde, der wegen seiner Verbindungen zur Liedermacherszene und zu jungen Oppositionellen in Kirche und Schule verfolgt und unter anderem von einer Fachhochschule verwiesen wurde. Was war das für ein Leben in der DDR?!\"Dieses Buch sollte Sie aufrütteln\", schreibt Jürgen Fiedler (259), der \"Stalins DDR\" zusammen mit Rüdiger Knechte! herausgegeben hat. Es enthält 25 Haftberichte und 15 Alltagsberichte, darunter den Lebenslauf einer MfS-Agentin. An dessen Ende heißt es (252): \"Dies war das Leben der Mitarbeiterin der Staatssicherheit J.B., Deckname Dissa Juko. War es ein Leben?\"Günther Heydemann (Bonn)Der Umbruch in der DDRAlbrecht, Ulrich: Die Abwicklung der DDR: Die \"2+4-Verhandlungen\". Ein Insider Bericht. Westdeutscher Verlag, Opladen 1992, 214 S. Glaeßner, Gert-Joachim: Der schwierige Weg zur Demokratie. Vom Ende der DDR zur deutschen Einheit. 2. durchges. Aufl. Westdeutscher Verlag, Opladen 1992, 230 S. .loas, Hans/Kohli, Martin (Hrsg.): Der Zusammenbruch der DDR. Soziologische Analysen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1993, 325 S. Kusch, Günter [u.a.J: Schlußbilanz - DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik. Duncker & Humblot, Berlin 1991, 155 S. Lasky, Melvin .!.: Wortmeldung zu einer Revolution. Der Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in Ostdeutschland. Ullstein, Frankfurt/M., Berlin 1991, 160 S. Lemke, Christiane: Die Ursachen des Umbruchs 1989. Politische Sozialisation in der ehemaligen DDR. Westdeutscher Verlag, Opladen 1991, 297 S. Löw, Konrad (Hrsg.): Ursachen und Verlauf der deutschen Revolution 1989. Duncker & Humblot, Berlin 1991, 188 S. Mampel, Siegf\'ried/Uschakow, Alexander (Hrsg.): Die Reformen in Polen und die revolutionären Erneuerungen in der DDR. Duncker & Humblot, Berlin 1991, 114 S.Die hier in dieser Reihenfolge besprochenen Bände implizieren unterschiedliche Forschungsansätze und Interpretationen zu einem Vorgang, dessen Zeitzeugen wir geworden sind. Das Ausmaß dieses Umbruchs einer scheinbar für immer besiegelten Teilung der Welt, die mitten durch Deutschland ging, ist indes noch keineswegs ausgelotet. Vielmehr steht die Forschung nicht nur an einem Neuanfang, weil erstmals authentisches Quellenmaterial und entsprechende Sozialdaten zur Verfügung stehen; sie muß gleichzeitig ihre bisherigen Forschungsansätze, -ergebnisse und -leistungen selbstkritisch überprüfen. Dies wird in allen Beiträgen dieser Bücher direkt oder indirekt deutlich, obgleich sie alle jeweils unterschiedliche Perspekti- 430 JHK 1993Sammelrezensionenven und Forschungsfelder aufweisen. Der Forschungsgegenstand \"DDR\" ist jedenfalls keineswegs erschöpft; eher steht zu vermuten, daß er stärker als bisher in das Interesse der Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sowie der Jurisprudenz rückt.Aus der \"vita contemplativa\" der wissenschaftlichen Arbeit in die \"vita activa\" der politischen Praxis berufen zu werden, widerfuhr dem Friedens- und Konfliktforscher Ulrich Albrecht vom Otto-Suhr-lnstitut an der Freien Universität Berlin. Schon seit längerem mit Wortführern der Dissidenten- und Friedensbewegung in der ehemaligen DDR in Kontakt stehend, wurde er von Markus Meckel, dem Außenminister der letzten DDR-Regierung, gebeten, als Berater zu fungieren. Sein Insiderbericht fußt auf Tagebuchnotizen, Konferenzmitschriften und anderen, z.T. vertraulichen Quellen. In bewußt undiplomatischer Offenheit zeichnet A. Stationen der Außenpolitik eines Staates auf, dessen Tage als Völkerrechtssubjekt gezählt waren, der aber dennoch - und das ist das eigentlich Interessante an diesem Buch - bis zu seinem Ende keineswegs auf eine eigenständige Außenpolitik verzichtete. Zugleich vermittelt der Bericht aufschlußreiche, interne Vorgänge, etwa die, daß die wachsende Instabilität der DDR bereits 1986 von den Sowjets aufmerksam registriert und ihr bevorstehender Zusammenbruch im Herbst 1989 definitiv nach Moskau berichtet worden ist. Stärker als bisher wird durch das Buch deutlich, daß die Außenpolitik der ersten und zugleich letzten, frei gewählten DDR-Regierung unter de Maiziere mit der Bonner Außenpolitik keineswegs konform ging. Ihre sowohl ambitiöse als auch illusionäre Zielsetzung war es vielmehr, mit der Auflösung beider bislang bestehender Militärblöcke (NATO und Warschauer Pakt) über eine erweiterte und in ihrer sicherheitspolitischen Bedeutung verstärkte KSZE zu einer gesamteuropäischen Friedens- und Abrüstungsregelung zu kommen, an deren Anfang der deutsche Einigungsprozeß als Katalysator stehen sollte. Zu diesem Zweck sollten zwischen den wichtigsten Nachbarn der DDR, Polen und die CSSR, besondere Beziehungen entwickelt werden, damit diese einerseits keine Nachteile aus der deutschen Vereinigung hinzunehmen hätten, andererseits sollten sie als länderübergreifender Bund zur Brücke zwischen Ost und West werden. Dieses Konzept stieß in Warschau und Prag verständlicherweise auf offenen Zuspruch; zugleich informierte Meckel als \"vertrauensbildende Maßnahme\" beide Staaten detailliert über den - an sich vertraulichen! - Stand der 2+4-Verhandlungen, deren erste Runde noch vor den Wahlen in der DDR stattgefunden hatte. Der außenpolitische Vorstoß der DDR scheiterte jedoch bald an den wirtschaftlichen Eigeninteressen beider Staaten, die sich zwangsläufig zunehmend auf Bonn konzentrierten, zumal die DDR bereits Anfang Juli 1990 außenpolitisch wie wirtschaftlich nur noch sekundäre Relevanz besaß. Mit der Einführung der Währungsreform (1.7.1990) brachen die bisherigen, traditionellen Handelsbeziehungen zwischen diesen drei Ländern schlagartig ab. Albrecht verdeutlicht, daß das Kernproblem der 2+4-Verhandlungen die Frage der Bündniszugehörigkeit Deutschlands gewesen ist. Dabei besaß die von sowjetische Seite favorisierte zeitweilige Neutralisierung Deutschlands ebensowenig eine Chance wie eine Doppelmitgliedschaft in NATO und Warschauer Pakt oder eine mittelfristig angelegte mitteleuropäische Sicherheitszone. Überhaupt befürchteten die USA, eine Stärkung der KSZE könne zur Schwächung der NATO beitragen. Klar wird aber auch, daß dem deutsch-sowjetischen Verhältnis von Anfang an besondere Bedeutung zukam, nachdem sich die USA und die UdSSR vorab über die Vereinigung Deutschlands geeinigt und Großbritannien sowie Frankreich diesem Prozeß nichts entgegenzusetzen hatten. Mit dem Durchbruch der Verhandlungen zwischen Kohl und Gorbatschow im Kaukasus war letztlich auch der Durchbruch der 2+4-Verhandlungen erzielt und damit der deutsch-deutsche Vereinigungsprozeß sanktioniert. Das bedeutete aber auch gleichzeitig das Ende einer eigenständigen DDR-Außenpolitik ab Mitte Juli 1990. Der Verfasser betont wiederholt, wie machiavellistisch Bonn seine Außenpolitik, das Ziel der Wiedervereinigung vor Augen, durchgesetzt habe - es usurpierte die Außenpolitik der noch bestehenden DDR und hob diese praktisch auf. Trotz eingehender (Selbst-)Kritik an der DDR-Außenpolitik fällt seine Beurteilung an der Bonner Außenpolitik sehr viel härter, zu hart, aus. Daß das innerste Ziel bundesdeutscher Außen- und Deutschlandpolitik in dieser entscheidenden Phase mit aller Kraft verfolgt wurde, entzieht SammelrezensionenJHK 1993 431sich offensichtlich seinem Verständnis; jedenfalls überwiegt die nostalgische Identifikation mit der DDR-Außenpolitik in diesen letzten sechs Monaten ihrer Existenz. Nichtsdestoweniger wirft sein \"InsiderBericht\" ein interessantes Schlaglicht auf den Prozeß der Vereinigung auf internationaler, außenpolitischdiplomatischer Ebene, insbesondere auf die häufigen Positionswechsel der damals noch sowjetischen Aussen- und Deutschlandpolitik, die unter dem Einfluß der schweren, innenpolitischen Konflikten um die Perestroijka unter Gorbatschows Ägide stand. Das unlängst erschienene Buch Julij A. Kwizinskijs teilt hierzu Aufschlußreiches mit.Die Arbeit von Gert-Joachim Glaeßner stellt eine erste, weitgehend gelungene politikwissenschaftliche und historische Synthese dieses einen Jahres vom Herbst 1989 bis zum 3. Oktober 1990 dar. Erst beim zweiten Hinsehen fällt indes auf, daß der Abschnitt über den eben besprochenen Einigungsprozeß auf internationaler Ebene gar nicht vom Autor selbst, sondern von Monika Schröder, in durchaus gelungener Weise, stammt. Weshalb ihr Name weder auf dem Umschlag noch in der Titelei erscheint, ist unverständlich. Das gilt auch für die geradezu verkürzte Aussage, \"das entscheidende Mißverständnis der westlichen Sozialwissenschaften seit Beginn der 70er Jahre war, daß sie die Erwartung nährten, die Prinzipien rationaler Verwaltung könnten sich in diesem System (i.e. DDR; G.H.) durchsetzen\" (31). Wer die zahlreichen, vielleicht zu zahlreichen Veröffentlichungen Glaeßners zu dieser Thematik aus den letzten Jahren bis unmittelbar vor dem Zusammenbruch des Honecker-Regimes kennt, reibt sich die Augen: Kein Wort der Selbstkritik, obwohl der Autor nun doch gerade zu den entschiedensten Vertretern dieser Auffassung gehört hatte, ja fast im Range eines \"Meinungsmachers\" stand! Jahrelang wurde die DDR als Industriegesellschaft nach allen Regeln politik- und sozialwissenschaftlicher Kunst analysiert, aber die permanente Unterdrückung von Menschen- und Bürgerrechten geflissentlich übersehen. Wer dieses Thema ansprach, galt indessen sogleich als Erzkonservativer, dem überdies die Intelligenz abgesprochen wurde. Jedenfalls kann die Diskussion darüber, welche fiktionale DDR gegenüber der realen da tatsächlich \"untersucht\" wurde, noch keineswegs als beendet angesehen werden. Glaeßner beschreibt in zwei einführenden Kapiteln die seit längerem andauernde Krise des erzwungenen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Systems in der DDR und behandelt dann etwas zu ausführlich das ehemalige Parteiensystem. Die folgenden Abschnitte sind ausgewogener, etwa zu den Widersprüchen der Deutschlandpolitik auf nahezu allen Ebenen, der vertrackten Verfassungsproblematik und der Orientierungslosigkeit auf bundesdeutscher Seite, als die Montagsdemonstrationen das SED-Regime zu kippen begannen. Etwas zu kurz behandelt er am Schluß die jetzt anstehenden und noch auf Jahre hin existenten Integrationsprobleme zwischen den Menschen aus beiden deutschen Staaten, die so völlig unterschiedliche politische und gesellschaftliche Sozialisationen durchlaufen haben. Das Buch ist als erster Überblick, trotz der hier nur angerissenen Unausgewogenheiten, zweifellos nützlich. Es wird durch eine Kurzbibliographie und eine Zeittafel abgerundet.Wirkliche erste Breschen eines neuen politik- und sozialwissenschaftlichen Zugriffs werden von dem von H. Joas und M. Kohli herausgegebenen Sammelband geschlagen. Aus einer Tagung des Instituts für Soziologie der Freien Universität Berlin im Februar 1991 hervorgegangen, werden hier erste, innovative Forschungsansätze präsentiert, die in methodologischer und methodischer Hinsicht überlegenswert erscheinen und zu weiterer Anwendung Anlaß geben. Der zur Verfügung stehende Raum in dieser Sammelrezension macht es unmöglich, die insgesamt 14 Beiträge zu besprechen; die wichtigsten seien zumindest genannt: Wolfgang Zapf: \"Die DDR 1989/90 - Zusammenbruch einer Sozialstruktur?\"; Manfred Lötsch: \"Der Sozialismus - eine Stände- oder Klassengesellschaft?\"; Johannes Huinink/K.U. Mayer: \"Lebensverläufe im Wandel der DDR-Gesellschaft\"; Heiner Ganßmann: \"Die nichtbeabsichtigten Folgen einer Wirtschaftsplanung: DDR-Zusammenbruch, Planungsparadox und Demokratie\"; Jan Wielgohs/Marianne Schulz: \"Von der \"friedlichen Revolution\" in die politische Normalität: Entwicklungsetappen der ostdeutschen Bürgerbewegung\"; Detlef Pollack: \"Religion und gesellschaftlicher Wandel: Zur Rolle der evangeli- 432 JHK 1993Sammelrezensionensehen Kirche im Prozeß des gesellschaftlichen Umbruchs in der DDR\", sowie schließlich Randall Collins und David Waller: \"Der Zusammenbruch von Staaten und die Revolutionen im sowjetischen Block: Welche Theorien machten zutreffende Voraussagen?\" Insbesondere die Einleitung, in der erstmals Erklärungsmuster zum Zusammenbruch des SED-Regimes typologisiert werden, lohnt die mehrmalige Lektüre. Die Herausgeber klassifizieren hier zunächst die psychischen Dispositionen der DDR-Gesellschaft, sodann den Legitimitätsglauben der Bevölkerung, Erklärungen, die alle auf der Mentalitätsebene angesiedelt sind. Ein dritter Typus fragt nach der Dynamik sozialer Bewegungen selbst; ein vierter zielt auf die tiefreichenden Defizite in in der politischen Organisation von Staat und Gesellschaft der DDR. Der fünfte geht von der Wirtschaftsentwicklung aus; ein sechstes Erklärungsmuster hebt auf die fehlende Lern- und Innovationsfähigkeit des Realsozialismus ab; ein siebter sieht stärker die externen Bedingungen der DDR (Abhängigkeit von der Sowjetunion) als Ursache für den Kollaps. Völlig zu Recht heben Joas und Kohli überdies auf die Notwendigkeit verstärkter, komparativer Ansätze ab, wobei hinzuzufügen wäre, daß dies auch den Vergleich zur NS-Diktatur mit einschließen muß. Abgesehen von dieser gelungenen Einleitung ist dieser Band ein wichtiger Beitrag einer künftigen, theorieorientierten DDR-Forschung, die dabei den Praxisbezug nicht vergißt. Für den Politik- und Sozialwissenschaftler, aber auch den Zeithistoriker eine wichtige Lektüre!Das aus dem früheren \"Ökonomischen Forschungsinstitut der Staatlichen Planungskommission\" hervorgegangene \"Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung e.V.\" legt mit dem schmalen Band \"Schlußbilanz - DDR : Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik\" ein Kompendium vor, das knapp, aber präzise und anschaulich die wesentlichen ökonomischen Fehlleistungen und wirtschaftspolitischen Fehlplanungen umfaßt, die seit Honeckers Machtantritt im Jahre 1970 geschehen sind. Als Forschungsergebnisse, wie im Vorwort betont, wird man den Inhalt dieses Bändchens jedoch nicht bezeichnen können, sondern eher als eine volks- und betriebswirtschaftlich fundierte Gesamtanalyse von Insidern, die die Defizite der DDR-Wirtschaft aus eigener Anschauung heraus mit verfolgen und z.T. mitgestalten mußten. Honeckers wirtschaftspolitische Strategie war zum Scheitern verurteilt, so das Fazit, weil die \"Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik\" einerseits auf einem Wirtschaftssystem ruhte, das keine Anreize bot, die zu weiteren ökonomischen Leistungen führten, mit denen die wachsenden sozialen Ansprüche hätten befriedigt werden können, und andererseits, weil die nicht an eigene Leistungen gebundene Zunahme sozialer Absicherung kontraproduktiv auf die Leistungsmotivation zurückwirkte. Das Resultat war, wie die Autoren hervorheben, grotesk; obwohl der Lebensstandard in beiden deutschen Staaten diametral auseinanderlief, lebten die DDR-Bürger in Honeckers DDR in all diesen Jahren über ihre Verhältnisse und zu Lasten der Zukunft. Insofern habe sich der VIII. Parteitag der SED im Jahre 1971 als fatale Schlüsselentscheidung für die weitere ökonomische und sozialpolitische Entwicklung der DDR erwiesen. Immer mehr Mittel für notwendige Investitionen in der Wirtschaft wurden abgezogen,um damit die aufwendige Sozialpolitik zu finanzieren. Gerade den notwendigen Abbau von Sozialprivilegien und -leistungen konnte und wollte die Partei jedoch nicht angehen, da dies ihren ohnehin schwachen Rückhalt in der Bevölkerung noch weiter gefährdet hätte. Die Qualität dieses Buch liegt insbesondere darin, daß es in einer auch für den Laien verständlichen Sprache die Genese der wirtschaftspolitischen und ökonomischen Fehlleistungen, die schließlich den Kollaps der SED-Herrschaft in beträchtlichem Ausmaß mitbewirkten, klar und fundiert herausarbeitet. Es ist zudem mit vielen Schaubildern und Statistiken ausgestattet, die das Verständnis erleichtern. Während der versierte und mit dieser Problematik vertraute Volks- oder Betriebswirt sicherlich kaum Neues erfährt, ist das Buch vor allem für den Laien bzw. denjenigen, der sich in die Materie einarbeiten möchte, von hohem Gewinn.Melvin J. Lasky\'s \"Wortmeldung zu einer Revolution\" ist zweifellos auch als solche zu verstehen. Seit Jahrzehnten aufs engste mit der Nachkriegsgeschichte im Ost-West-Verhältnis vertraut, darf der Autor für sich in Anspruch nehmen, den Glauben an den - so der Untertitel - \"Zusammenbruch der kommunistischen SammelrezensionenJHK 1993 433Herrschaft in Ostdeutschland\" nie aufgegeben zu haben. Das aus zehn Kapiteln unterschiedlicher Länge bestehende Büchlein, häufig mit mehr oder minder passenden Zitaten von Aristoteles bis Schiller garniert, schildert Eindrücke aus der DDR kurz vor ihrem Zerfall; es befaßt sich vornehmlich mit Äußerungen und Einschätzungen zur Lage vor und nach der Wende. Lasky zitiert genüßlich Auffassungen insbesondere linksintellektueller Kreise, die dokumentieren, wie sehr man sich gerade hier mit der deutschen Teilung abgefunden hatte, ja bisweilen \"im Honecker-Regime\" eine mögliche Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft in Bonn sah. Das Spektrum ist in der Tat weit und reicht von Redakteuren der \"Zeit\" über Günter Gaus bis zu Günter Grass. Letzterem widmet er ein eigenes Kapitel, dessen Tenor bereits unmißverständlich im Titel \"Günter Grass und eine hohltönende Blechtrommel\" zum Ausdruck kommt. So Unrecht hat Lasky sicherlich nicht, wenn er mit vielen Belegen anprangert, woran heute so mancher Politiker, Wissenschaftler oder Publizist nicht mehr erinnert werden möchte. Dennoch hilft eine moralische Verurteilung nicht weiter; vielmehr muß es um die Frage gehen, weshalb es zu solchen, z.T. eklatanten Fehleinschätzungen kommen konnte. Ganz besonders gilt dies für die professionelle DDR-Forschung, die in zunehmendem Maße im SED-Staat nur noch die DDR als Industriegesellschaft erblickte und die Bedeutung der Ideologie sowie das unheilvolle Wesen und Wirken des MfS immer mehr aus ihrem Gesichtskreis verlor. Hier ist die überfällige Diskussion inzwischen im Gange, aber noch längst nicht zu Ende. Die Anmerkungen des Autors zu Reiner Kunze sind ebenso lesenswert wie seine kritischen Bemerkungen zu Walter Janka. den er seit dessen Exil in Mexiko persönlich kennt. Zu Wolf Biermann schließlich hegt der amerikanische Journalist eine Art Haßliebe - es ist das vielleicht amüsanteste Kapitel im Buch. Diese Wortmeldung ist eher etwas zur Lektüre nebenbei, aber allemal originell und interessant. Die Analyse zum Zusammenbruch der DDR kann sie, will sie aber auch nicht sein.Fraglos von ganz anderem Gewicht und Zuschnitt ist die Arbeit Christiane Lemkes. Aus einer Berliner Habilitationsschrift hervorgegangen, die bereits vor der Wende begonnen worden war und dann unmittelbar darauf die eigenen Forschungsthesen empirisch verifizieren konnte, konzentriert sie sich in ihrer Untersuchung auf eine der prinzipiellen Ursachen des Zusammenbruchs des SED-Regimes - das zunehmende Auseinanderklaffen zwischen der intendierten politischen Sozialisation und der tatsächlich erfolgten in der DDR-Gesellschaft, insbesondere in der nachwachsenden Generation. Ausgehend vom Ansatz der politischen Kulturforschung, die zwischen offizieller politischer Kultur der SED und der tatsächlichen, gesamtgesellschaftlichen Kultur unterscheidet, analysiert sie politisch-ideologische Vorgaben und Normen der beabsichtigten Sozialisation, wie sie die Partei Honeckers zu erzielen suchte und die eigentliche Sozialisation der DDR-Bürger, die sich in Familie, Schule, Universität, FDJ u.a.m. einstellte. Fazit ihrer außerordentlich differenzierten Untersuchung ist, daß der permanente Versuch der Partei, die \"offizielle Kultur\" zur gesamtgesellschaftlichen Kultur werden zu lassen, und zwar individuell wie kollektiv, gescheitert ist. Die wirkliche politische Sozialisation verlief trotz aller ideologischen Beeinflussungsversuche und erzieherischen Anstrengungen letztlich genau in die Gegenrichtung, bis der Bruch zwischen politisch-normativem Anspruch und konkreter, gesellschaftlicher Realität schließlich im Sommer 1989 unausweichlich wurde. Man wird der grundsätzlichen Richtigkeit dieser These kaum widersprechen können, zugleich liegt hier eine der tiefreichendsten Ursachen für den Kollaps der SED-Herrschaft vor. Dennoch könnte seine empirische Begründung noch fundierter sein. So kommt die Untersuchung der individuellen bzw. gesamtgesellschaftlichen Sozialisation durch die Arbeit, d.h. also in Fabrik und Betrieb oder anderswo eindeutig zu kurz. Zweifellos war hier der Zugang zu gesicherten und entsprechend generalisierbaren Daten besonders schwierig; dennoch konkretisierte sich hier der \"Sozial-Vertrag\" zwischen SED und DDR-Bürger(n) täglich aufs Neue, und doch wurde er insbesondere im letzten Jahrzehnt des zweiten deutschen Staates zunehmend stärker in seiner ganzen Künstlichkeit erlebt. Den Jubelmeldungen über Planübererfüllungen stand die täglich erlebte Erfahrung des Materialmangels, verschlissener Maschinen, qualitativ schlechter Produktion, sinkender Arbeitsdisziplin u.a.m. entgegen mit zweifellos verheerenden 434 JHK 1993SammelrezensionenAuswirkungen auf die habituelle Disposition der DDR-Bevölkerung. Hinzu kamen weitere Faktoren, etwa die Zeitbombenwirkung der KSZE-Vereinbarungen, die Honecker unterschrieb und die im Neuen Deutschland (ND) in vollständigem Wortlaut abgedruckt wurden - eine der seltenen Gelegenheiten, wo das ND einmal ausverkauft war. Zu fragen ist sicherlich auch, weshalb die in der DDR-Gesellschaft dominante, indigene Kultur dann nach dem Umbruch nicht stärker zum Ausdruck kam? Wollte man einfach bloß die westdeutsche Konsumgesellschaft? Dennoch ist die zu besprechende Arbeit auch in methodologischer Hinsicht ein zentrales Werk. Auf der Basis dieses Ansatzes muß mit dem jetzt zur Verfügung stehenden gesamtsesellschaftlichen Quellenmaterial empirisch weitergearbeitet werden.Weniger stringent, sondern eher pointillistisch sind die aus zwei Tagungen der \"Gesellschaft für Deutschlandforschung\" hervorgegangenen Bände \"Ursachen und Verlauf der deutschen Revolution 1989\" und \"Die Reformen in Polen und die revolutionären Erneuerungen in der DDR\". In der von dem Bayreuther Politologen Löw edierten Aufsatzsammlung sind Erlebnisberichte aktiv Beteiligter bzw. Betroffener dieser bisher erfolgreichsten deutschen Revolution mit ersten, fundierten Analysen vereinigt. Ersteres gilt für Herbert Wagner, \"Die Novemberrevolution 1989 in Dresden. Ein Erlebnisbericht\" sowie Fritz Schenk, \"Die Hypotheken des gescheiterten Sozialismus\", deren Lektüre durchaus gewinnbringend ist, während insbesondere die Beiträge von Bernhard Baule, \'\"Wir sind das Volk!\' Politische Bedingungsfelder der Freiheitsrevolution in der DDR\", von Gerhard Wettig, \"Die Rolle der UdSSR bei der Vereinigung Deutschlands\", von Manfred Wilke, \"Die bundesdeutschen Parteien und die demokratische Revolution in der DDR - oder: Die Bewährung des demokratischen Kernstaates\", als erste Analyseversuche außerordentlich gelungen sind. Baule listet in einer beeindruckenden Stringenz die internen Gründe für den Zusammenbruch des SED-Regimes auf, während Wettig dies ebenso fundiert für die Peripetie der sowjetischen (Deutschland-)Politik vornimmt. Wilke sieht im Festhalten am Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes, trotz zunehmender Aufweichungstendenzen in vielen Bereichen, eine Revitalisierung des staatsrechtlichen Selbstverständnisses der alten Bundesrepublik als demokratischer Kernstaat aller Deutschen. Die Texte von Jens Motschmann, \"Evangelische Kirche und Wiedervereinigung\" und des Herausgebers Löw, \"Die bundesdeutsche politikwissenschaftliche DDR-Forschung und die Revolution in der DDR\", beleuchten kritisch Rolle und Verhalten sowohl der Evangelischen Kirchen als auch der Politologie zur Deutschlandfrage. Beide können nachweisen, wie im Verlauf von vier Jahrzehnten Teilung die Überzeugung zerfaserte, es könne noch einmal zur Einheit Deutschlands kommen. Sie nennen, jeweils für die Kirche wie für die Politikwissenschaft, eine Reihe von zweifellos relevanten Gründen, die Ursachen hierfür werden jedoch zukünftig noch eingehender zu analysieren sein. Zugleich muß die Auseinandersetzung darüber weitergeführt werden, wie ausgerechnet die Politikwissenschaft, die sich schon von ihrem Gegenstand her immer wieder mit normativen Problemen der Menschen- und Bürgerrechte wissenschaftlich auseinandersetzt, insbesondere bei der Erforschung des SED-Staates häufig einen eklatanten Perzeptions- und Normenverlust erlitt. Ist eine solche Beurteilung, wie sie am Beispiel der Evangelischen Kirchen und der Politologie demonstriert wird, indessen nicht Ausfluß eines in der (alt-)bundesdeutschen Gesellschaft längst vorwiegenden Denkens gewesen, das in einer überbordenden Wohlstandsgesellschaft geprägt wurde und wird? Mußte hier nicht der nüchterne Blick für die tatsächlichen Realitäten einer sozialistischen Diktatur nach und nach schwinden, weil die eigene politische Sozialisation individuell wie sozial übergreifend ganz andere, häufig kaum reflektierte Erfahrungen aufwies, die Vergleichskriterien kaum mehr zuließ? Das entschuldigt Fehlperzeptionen keineswegs! Aber erst von einem gesamtgesellschaftlichen Ansatz aus wird man das teilweise Versagen der Politikwissenschaft - und anderer Wissenschaften! - genauer analysieren können. Der inzwischen in der DDR-Forschung darüber entbrannte Streit hat sich schon jetzt im Austausch bekannter politischer und wissenschaftlicher Positionen zu sehr verhakt, um sich in diesen Gesamtzusammenhang einbeziehen und entsprechend selbstkritisch betrachten zu können. Keinesfalls übersehen werden sollten indes auch die Beiträge von Hans-Peter Müller, \"Die \'Oktoberrevolution\' und das Ende des SammelrezensionenJHK 1993 435FDGB\", von Ursula Jaeckel, \"40 Jahre Staatssicherheit - Ziele, Tätigkeit, Auswirkungen\" und von Heidrun Katzorke, \"Das sozialistische Bildungskonzept und seine Durchsetzung im Hochschulwesen der DDR\", die allesamt ihren Einzelgegenstand fundiert beschreiben und beurteilen. Freilich hätte es dem Herausgeber gut angestanden, angesichts einer zwangsläufig heterogen bleibenden Bestandsaufnahme nur ein Jahr nach der Revolution eine Einleitung zu formulieren, in der wenigstens der Versuch unternommen worden wäre, diese insgesamt qualitativ hochstehenden Aufsätze miteinander zu verknüpfen.Das Jahrbuch der 12. Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung, herausgegeben von Siegfried Mampel und Alexander Uschakow, vereinigt Beiträge zu einem Vergleich zwischen zwei ehemaligen Ostblockstaaten, der früher dem klassischen \"intra-strukturellen\" Vergleich zwischen sog. \"realsozialistischen Staaten\" entsprochen hätte. Tatsächlich wäre der Vergleich zwischen dem bereits auf dem Wege zu Demokratie und Marktwirtschaft befindlichen Polen und der damals noch nach wie vor restaurativ-reaktionär verbleibenden DDR Honeckers auf der Basis zweier unterschiedlicher Entwicklungsstadien erfolgt. Der ab Herbst 1989 einsetzende Umbruch in der DDR stellte jedoch wieder die Balance her. Im Band selbst werden Gesellschaft, Wirtschaft, Recht und Rechtsschutz und die Kultur komparativ einander gegenübergestellt; das Bildungswesen, die Landwirtschaft und das Verhältnis von Staat und Kirche bleiben ausgespart. Der Text von Jerzy Holzer, \"Der Pluralismus in Polen\", zeigt auf, daß dieser jenseits der Oder eine lange Historie besitzt; doch trotz einer solchen (vormodernen) Tradition fällt der Übergang zu einer pluralistischen Demokratie schwer, weil der individuelle politische Willensbildungsprozeß von breiten Schichten erst noch erlernt werden muß. Karl W. Fricke äußert in seinem Beitrag \"Die Demokratisierung in der DDR. .. \" die inzwischen verifizierte Auffassung, daß dieser Prozeß zwischen Elbe und Oder irreversibel ist. Die Arbeit von Jerzy Kleer, \"Wirtschaftsreform in Polen\", behandelt die Probleme des Übergangs von einer zentralen Planverwaltungs- zu einer Marktwirtschaft, wie dies gegenwärtig unter den Bedingungen eines immer noch in großem Ausmaß existenten Staatseigentums, der Mangelwirtschaft, des Fehlens einer marktgerechten Infrastruktur u.a.m. der Fall ist. Gernot Gutmann fragt nach dem Ende der Planwirtschaft in der DDR und zeigt auf, daß die Umstellung von einem zentralistischen Planverwaltungssystem zur freien Marktwirtschaft eine ebenso grundlegende Transformation des politischen Systems von der Ein-Parteien-Herrschaft der SED zum demokratischen Mehr-Parteiensystem und Verfassungsstaat bedingt. Ewa Letowska hebt in dem Beitrag \"Polens Weg zum Rechtsstaat\" die innenpolitische Zäsur von 1956 hervor, die erstmals in viel höherem Maße als zuvor die tatsächliche Einhaltung gesetzlichen Rechts mit sich brachte. Obwohl Polen mit der Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit Ende 1989 erst endgültig zum Rechtsstaat geworden ist, vermag dieser nur zu funktionieren, wenn die Bevölkerung rechtsstaatliche Prinzipien und Prozeduren internalisiert hat. Ihre tour d\'horizont wird durch den Beitrag von Kazimierz Dzialocha, \"Der Verfassungsgerichtshof in Polen\", ergänzt. Der Text von Horst-Dieter Kittke, \"Abbau der Defizite beim Schutz des Bürgers vor der Staatsgewalt in der DDR\", umreißt die Reformen auf dem Gebiet des Rechtswesens und der Justiz, um die DDR zu einem Rechtsstaat zu machen - ein inzwischen überholter Beitrag. Die Studie von Andrzei Sakson, \"Kulturelle Freiheit in Polen\", belegt eindrucksvoll, wie schwer auch im Vorreiterland kultureller und künstlerischer Freiheit unter den Ostblockstaaten dieser Kampf gewesen ist, um die künstliche Teilung von offizieller Kultur und inoffizieller zu überwinden. Der Beitrag von Theo Mechtenberg, \"Das Streben nach kultureller Autonomie in der DDR\", illustriert schließlich am Beispiel des 11. ZK-Plenums der SED vom Dezember 1965, mit welcher Ausschließlichkeit und Unnachgiebigkeit die Partei ihren Führungsanspruch auch in der Kultur durchsetzte und damit jeglichen Autonomieanspruch auf diesem Gebiet ausmerzte. Auch wenn einige Beiträge dieses Sammelbandes inzwischen überholt sind, so verliert dieser Versuch einer komparativen Gegenüberstellung doch nicht an Wert. Ohnehin wird die weitere Forschung auf nahezu allen Gebieten vergleichende Perspektiven und Ansätze in zunehmendem Maße praktizieren müssen, um zu weiteren Erkenntnissen zu ge- 436 JHK 1993Sammelrezensionenlangen. Das wird für den Vergleich der Entwicklung der ehemaligen Staaten des real-existierenden Sozialismus ebenso gelten, wie für den inter-diktatorialen Vergleich zwischen NS- und SED-Regime.Es verwundert nicht, daß die hier besprochenen Bände nur Facetten eines vielschichtigen und komplexen Transformationsprozesses aufzeigen, dessen Ausmaß im Einzelnen noch gar nicht zu ermessen ist. Damit zeichnet sich ein weites Forschungsfeld ab, das die Geistes, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sowie die Jurisprudenz noch lange beschäftigen wird. Unübersehbar scheint, daß der Streit um bisherige wissenschaftliche Erkenntnisleistungen und Fehldeutungen fortgesetzt werden muß, um zu weiteren methodisch fundierten Forschungsansätzen zu kommen. Dabei wird der Vergleich in zunehmendem Maße wichtig werden.Herwig GödekeTrotzkiWolkogonow, Dirnitri: Trotzki. Das Janusgesicht der Revolution. ECON Verlag, Düsseldorf 1992, 490 S. (Die russ. Originalausgabe erschien bei Nowosti, Moskau 1992, 2 Bde.)Mandel, Emest: Trotzki als Alternative. Dietz Verlag, Berlin 1992, 252 S.Für Dimitri Wolkogonow, bis 1991 Leiter des Moskauer Instituts für Militärgeschichte des Verteidigungsrninsteriums der UdSSR, ist sein Buch über Trotzki keine politische Biographie, sondern ein politisches Porträt. Es sei das erste Buch über Trotzki, das sich auf sowjetisches und ausländisches Archivmaterial - u.a. aus dem Archiv der Houghton Library in der Harvard University sowie dem bisher unzugänglichen Zentralarchiv des KGB - stütze (19).Was das Verhältnis von deutscher zu russischer Ausgabe betrifft, muß leider festgestellt werden, daß die deutsche Ausgabe um über 50% gekürzt wurde. Desgleichen fehlt in der deutschen Ausgabe der den Archivteil betreffende wissenschaftliche Anmerkungsapparat. Bedauerlich ist weiterhin, daß der deutschen Ausgabe das großartige und bei uns weitgehend unbekannte Bildmaterial (100 Seiten) nicht beigefügt wurde. Ein Vorwort über das Verhältnis von russischer Originalausgabe zur deutschsprachigen Fassung wäre daher wünschenswert gewesen. Für den Gebrauch der deutschen Ausgabe nützlich erweist sich die Zeittafel (449-454) und das kommentierte Personenverzeichnis (459-490). In letzterem vermißt man jedoch Julij Ossipowitsch Martow (Zederbaum 1873-1923), der aber im Text selbst mehrfach genannt wird. Martow bleibt, wie neuere Forschungen bestätigen, für die Beziehung Trotzkis und Lenins zur menschewistischen Bewegung unverzichtbar. Das Literaturverzeichnis (455-458) enthält nur Monographien, Zeitschriftenaufsätze werden ausgeklammert. Hieraus kann man schließen, daß die deutschsprachige Ausgabe im Gegensatz zur russischen Originalausgabe vorwiegend ein breites Leserpublikum ansprechen soll.Wolkogonow bleibt bemüht, das politische Porträt Trotzkis weder \"weiß\" noch \"schwarz\" zu zeichnen. Der Leser bleibt davon gefesselt, wie Wolkogonow bestimmte Züge dieses Charakters und historische Entscheidungsprozesse interpretiert.Hierbei lehnt sich Wolkogonow dem Urteil von N.A. Berdjajew an, der 1930 schrieb (23): \"Zweifellos ist L. Trotzki in jeder Beziehung den anderen Bolschewiki haushoch überlegen, wenn man Lenin nicht mitrechnet. Lenin ist selbstverständlich größer und stärker, er ist der Kopf der Revolution, jedoch Trotzki ist talentierter und glänzender ... \". SammelrezensionenJHK 1993 437In sieben Kapiteln werden die Höhepunkte der Biographie Trotzkis in ihren Phasen von den russischen Revolutionen 1905 und 1917, dem Bürgerkrieg, der schrittweisen Demontage Trotzkis im Zusammenhang mit der Festigung der Machtpositionen Stalins seit seiner Berufung zum Generalsekretär (XI. Parteitag 1922) und die Verbannung Trotzkis aus Sowjetrußland eindrucksvoll behandelt. Die drei Schlußkapitel, die knappe Hälfte des Bandes, sind der Verbannung Trotzkis und seiner Familie gewidmet. Der Leser enthält einen Einblick in das von dem stalinistischen Machtapparat gesteuerte und gelenkte Intrigennetz gegen Trotzki. Als Antwort darauf, warum Trotzki, Kriegsheld der Revolution, zweiter Mann neben Lenin und Vorsitzender des Revolutionären Kriegsrates (bis Januar 1925), solch ein tragisches Ende finden mußte, verweist Wolkogonow neben der unüberbrückbaren persönlichen und ideologischen Feindschaft zu seinem Kontrahenten Stalin auf entscheidende falsche Weichenstellungen in der sowjetischen Geschichte. Hierbei haben militärhistorische und parteipolitische Fragestellungen Vorrang vor ökonomischen. Es ist zweifellos eine Simplifizierung, Trotzki vorwiegend als \"Gefangenen einer Idee\" (445) herauszustellen, ökonomischen Fragestellungen jedoch, wie z.B. dem Verhältnis Trotzkis zur Neuen Ökonomischen Politik, zum Markt-Sozialismus und zur Linie, die Bucharin auf dem Gebiet der Industrialisierung und der Wirtschaftspolitik vertrat, auszuweichen. Alternativen Trotzkis, der bestehenden ökonomischen und politischen Misere des Landes entgegenzuwirken, werden auf diese Weise - absichtlich oder nicht - verschwiegen.Sehr positiv muß hingegen herausgestellt werden, wie es Wolkogonow verstanden hat, ein zuweilen fast lebensecht wirkendes Porträt Trotzkis in seinen verschiedenen biographischen Entwicklungsphasen zu zeichnen:Wir erleben, wie sich der jüdische Großbauernsohn aus der Gegend von Poltawa, der anfangs den Marxismus ablehnte und vom Werk führender Menschewiki geprägt wurde (P.B. Axelrod 1850-1928, I.O. Martow 1873-1923, G.W. Plechanow 1856-1918) zum kleinbürgerlichen Revolutionär entwickelt. Seit dem 6. Parteitag der RSDAP (Ende Juli 1917) tritt Trotzki entschlossen an die Seite Lenins und der Bolschewiki. Trotzki wurde in die Partei aufgenommen und, obwohl er im Gefängnis saß, in das ZK der bolschewistischen Partei gewählt. Der Treue zu Lenin, dessen politische und intellektuelle Überlegenheit Trotzki voll anerkannte, blieb er zeitlebens, auch während seiner Verbannung, verpflichtet.Treffend bemerkt Wolkogonow, daß eine historische Chance vertan wurde, da Trotzki nicht bemerken wollte, daß sich als Ergebnis der von ihm selbst aktiv mitgetragenen russischen Revolutionen von 1905 und 1917 ein russischer Parlamentarismus entwickelt hatte. Trotzki bekämpfte diesen russischen Parlamentarismus bekanntlich aufs schärfste. Für ihn war der Übergang von der bürgerlichen Anarchie zur sozialistischen Wirtschaft nur auf dem Wege einer revolutionären Diktatur vollziehbar. Diese Diktatur sollte jedoch im Gegensatz zur Politik Stalins zeitlich eng begrenzt bleiben. Wolkogonow hat vollkommen recht, wenn er feststellt, daß der Versuch, die bürgerlich-demokratische Periode durch den Aufbau des Sozialismus in einem Land zu überspringen, falsch war.Zu einer Vertiefung des von Wolkogonow gezeichneten Trotzkibildes hätte eine Behandlung der von der Opposition vertretenen alternativen Wirtschaftspolitik wesentlich beitragen können. Hierbei gehört z.B. die Haltung Trotzkis zur Spätschrift Lenins \"Wie soll man die Arbeiter- und Bauernorganisation reorganisieren\" (Kak nam reorganisowat RABKRIN?). Diese Erörterung fällt in die entscheidende Phase des Machtkampfes zwischen Trotzki und Stalin, denn Stalin war es gelungen, durch Zusammenlegen der Organisationsstrukturen von \"RABKRIN\" und ZKK seine Machtposition auf Kosten des Flügels um Lenin und Trotzki enorm zu steigern. Der Versuchung, durch erbarmungslosen Einsatz von Gewalt die eigene Macht zu festigen und auszubauen, erlag selbstverständlich auch Trotzki. Wolkogonow belegt dies eindrucksvoll durch eine Statistik von Massenerschießungen während des Bürgerkrieges, wobei sich Trotzki jedoch voll auf Weisung und Unterstützung Lenins und nicht zuletzt auf strikte Anwendung der Militärgerichtsbarkeit berufen konnte. 438 JHK 1993SammelrezensionenVorzüglich versteht es Wolkogonow, die spätere unversöhnliche Feindschaft zwischen Trotzki und Stalin bis auf die Zeit des Bürgerkrieges zurückzuführen. Als Quelle werden die bislang im Westen meines Wissens kaum bekannten 19 Militärthesen vom 25.2.1919 kommentiert (218-219). In der Frage der Einbeziehung von Militärspezialisten kam es zwischen Trotzki als Vorsitzendem des Revolutionären Kriegsrates und den Kommandierenden der 10. Armee, Woroschilow und Stalin, zu einem tiefgehenden Zerwürfnis, das Lenin nur mit Mühe beseitigen konnte. Seit dem 12. Parteikongreß (17.-25.4.1923) und der Erklärung der 46 Anhänger Trotzkis vom Oktober 1923 nimmt die schrittweise Demontage Trotzkis, bei der Kamenew und Sinowjew verhängnisvoll mitwirkten, ihren unerbittlichen Verlauf bis hin zur Verbannung ab Januar 1928. Die Verfolgung und Allgegenwart des sowjetischen Geheimdienstes bis zur Ermordung Trotzkis in Mexiko wird eindrucksvoll mit Hilfe bislang unzugänglicher KGB-Akten dokumentiert.Das während der Verbannung entstandene schriftstellerische Werk Trotzkis ist gewaltig. Wolkogonow erkennt zwar diese hervorragende Arbeitsleistung an, bleibt allerdings bei seiner Analyse keineswegs frei von Denkmodellen traditionell-sowjetischer Prägung. So habe Trotzki durch sein Buch \"Die verratene Revolution\" Stalin herausgefordert, zumal dieser Enthüllungen Trotzkis über seinen völlig unbedeutenden Anteil am Oktoberaufstand habe fürchten müssen. \"Folgerichtig\" begannen die Moskauer Schauprozesse. Weiterhin habe Stalin die Informationen des Spitzels Mark Sborowski zur Jahreswende 1938/39, daß binnen der nächsten 18 Monate eine Stalinbiographie aus der Feder Trotzkis erscheinen werde, als eine persönliche Herausforderung empfinden müssen mit der Konsequenz, daß Trotzki zu liquidieren sei.Bedauerlich ist, daß die deutsche Ausgabe angesichts der Kürzungen hinter der russischen Originalausgabe zurückbleibt. So finden sich neuere Forschungsergebnisse, die sich aus dem Briefwechsel von N.K. Krupskaja ergeben, nur in der russischen Ausgabe wieder (Bd. II, 19 f.). Diese Dokumente stellen die feste und persönliche Verbindung zwischen Trotzki und Lenin heraus, warnen vor der Spaltung der Partei, deren Urheber nicht Trotzki, sondern Stalin sei.So lesenswert das Werk Wolkogonows ungeachtet der gemachten Einschränkungen insgesamt bleibt, das dargebotene Porträt Trotzkis ist keineswegs frei von gewissen Verzerrungen. Hierzu ein Zitat, das wir der russischen Ausgabe entnehmen, da es im deutschen Text nicht auffindbar war (Bd. II, 234): \"Ich bin zur Auffassung geneigt, daß die ganzen letzten Lebensjahre Trotzkis verknüpft waren mit dem Versuch der Schaffung einer mächtigen und einflußreichen internationalen Organisation. Sie waren der letzte Ausdruck eines gewaltigen, planetarischen Egozentrismus seiner Person.\" Hier spielt Wolkogonow auf die von Trotzki begründete IV. Internationale an.Vor dem Hintergrund der Biographie Trotzkis werden die unseligen Folgen falscher Weichenstellungen der sowjetischen Geschichte deutlich, deren Gefahr Trotzki voll erkannt hatte. Die hier besprochene Arbeit Wolkogonows bleibt verdienstvoll, da sie dem deutschen Leser hilft, den Parteibürokratismus und das Räderwerk des stalinistischen Machtapparates besser zu durchschauen.Kein Unbekannter auch auf dem Feld der Trotzki-Forschung ist Ernest Mandel, revolutionärer Marxist und Fachmann auf dem Gebiet der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse. Als besonderes Charakteristikum der Betrachtungsweise Mandels kann zweifelsohne seine Anwendung der dialektischen Methode gelten, die Analyse der von der Persönlichkeit Trotzkis und seinem schriftstellerischen Werk ausgehenden Impulse für die Gegenwart.Der Fragen, um die es in den zwölf Kapiteln des Buches geht, gibt es viele: Welche Chancen und Auswirkungen ergeben sich aus der trotzkistischen Opposition? Welche Alternativen gab es, sowohl für die Sowjetunion selbst als auch für den Verlauf der Geschichte der Arbeiterbewegung? Welche Rückschlüsse und Lehren lassen sich (aus marxistischer Sicht) für die Gegenwart ziehen? SammelrezensionenJHK 1993 439Für den Ökonom Mandel ist der Zusammenbruch der osteuropäischen sozialistischen Staatenwelt folgerichtig und vorhersehbar gewesen. Dies bedeutet für ihn jedoch keineswegs eine Abkehr vom Sozialismus, dem er sich im Geiste der Ideen von Trotzki zutiefst verpflichtet fühlt.Es kann nicht verwundern, daß Mandel als Journalist für Sozial- und Wirtschaftsfragen sowie geschulter Politologe zu anderen Einschätzungen gelangt als der Militärwissenschaftler und Historiker. Im Gegensatz zu Wolkogonows historisch sachlichem und stark bio-bibliographischem Stil, der auf die Person Trotzkis und seine Zeit fixiert ist, begegnet uns bei Mandel der \"wahre Marxist\", dessen Stil manche zuweilen sogar als \"demagogisch\" empfinden mögen. Dies muß keineswegs von Nachteil sein, denn Mandel gelingt es vor allem auf seinem Spezialgebiet, der politischen Ökonomie, zu Schlüssen zu kommen, die das Werk Wolkogonows ergänzen. Dies gilt besonders für seine Reflektionen über die Voraussetzungen einer alternativen Wirtschaftspolitik für die Sowjetunion (Kap. IV) und für Schlußfolgerungen, die sich aus den Aktivitäten des trotzkistischen Internationalismus und der IV. Internationale bis heute insbesondere für die Arbeiterbewegung ergeben.Während Mandel die Kraft der IV. Internationale ungebrochen und deshalb als zukunftweisende Alternative für Gegenwart und Zukunft der Arbeiterklasse empfindet, fällt Wolkogonow ein vernichtend anmutendes Urteil, das sich u.a. auf Akten aus dem Archiv der Westabteilung des KGB stützt: \"Trotzki wollte die Kluft nicht sehen, die zwischen seinen märchenhaften Triumphen der Vergangenheit und seinem neuen kränkenlnden und perspektivlosen Kind - der IV. Internationale - klaffte\" (Wolkogonow 412). Mandel hält dem ohne Angabe seiner Quellen, aber dennoch überzeugend entgegen, Trotzki werde als bedeutendster Stratege des Internationalen Sozialismus in die Geschichte eingehen (Kap. I). Sein Internationalismus stelle den historischen Fehler der deutschen Sozialisten heraus, deren Weigerung zur Selbstbewaffnung Hitler ermöglicht und den Zweiten Weltkrieg heraufbeschworen habe (Kap. II).Im Abschnitt \"Trotzkis Kampf gegen die stalinistische Bürokratie\" (Kap. III) schlägt Mandel einen großen Bogen von der Erklärung der 46 Anhänger Trotzkis vom Oktober 1923, die sich vornehmlich gegen den von Stalin gelenkten Beamtenapparat richtete, zu den Moskauer Prozessen. Mandels Feststellung, sämtliche Angeklagte der Moskauer Prozesse seien durch Gerichtsurteil rehabilitiert (28), ist zwar im wesentlichen richtig, verwischt jedoch die Zusammenhänge über die Arbeit der sowjetischen Rehabilitierungskommission, die sich über die Rehabilitierungen von Bucharin, Rykow, Tomskij, Sinowjew, der bucharinschen Schule u.a. Schritt für Schritt seit 1988 immer mehr an eine Rehabilitierung Trotzkis herantastete. Der Zusammenbruch der SU und der KPdSU kamen dem zuvor.Mandel und Wolkogonow kommen ungeachtet ihrer unterschiedlichen Betrachtungsweise auch zu ähnlichen Ergebnissen. Beide Autoren sehen die Zerschlagung des Parlamentarismus als verpaßte historische Chance für die Entwicklung in Rußland und der Sowjetunion. Mit Recht stellt Mandel fest, daß aus heutiger Sicht die bolschewistischen Führer die Entfaltung der Selbständigkeit der Arbeiterklasse nicht gefördert, sondern behindert hätten, indem mit Ausnahme der KP alle übrigen Parteien verboten und zerschlagen wurden (Kap. V).In Übertragung der Lehren Trotzkis auf die Befreiungsbewegung in der Dritten Welt habe \"das chinesische Volk einen schweren Preis dafür bezahlt, daß Trotzkis Weg in China nicht befolgt wurde und daß sich die Bauernarmee nicht mit einem selbständigen Proletariat und einer Rätemacht, sondern mit einer engstirnigen ... Bürokratie verbunden habe, um den Staat Tschiang-Kai-scheks zu stürzen\" (149). Man kann Mandel den Vorwurf politisch bedingter Sturheit auf Kosten historisch fundierter Ausgewogenheit nicht immer ganz ersparen. Einschränkend ist weiterhin festzustellen, daß die meisten der dem Abschnitt \"Trotzkis Kampf gegen den Faschismus\" folgenden Kapitel kaum über den Informationswert von Wolkogonows Biographie hinausgehen. \"Trotzki als Heerführer und Militärwissenschaftler\" (Kap. VIII) behandelt einen wichtigen Punkt des von Trotzki ab 1922/23 vorgeschlagenen Milizsystems und die allmähliche Wählbarkeit der Kommandeure. Wenn auch Wolkogonow auf diesem Gebiet der umfassendere Sachken- 440 JHK 1993Sammelrezensionenner ist, gehen die von Mandel getroffenen Schlußfolgerungen im Zusammenhang der Umgestaltung des Milizheeres seit 1935 zu einer Privilegienarmee (195) und die damit verbundenen negativen Auswirkungen über Wolkogonow hinaus. Interessant, jedoch kaum Neues enthaltend, sind die Kapitel über Trotzki und die Judenfrage (Kap. X), seine Rolle als Literaturkritiker (Kap. XI) und seine Bedeutung als Mensch (Kap. XII). Als wesentlich hervorgehoben zu werden verdient der Beitrag \"Trotzki und die nationale Frage\" (Kap. IX) im Zusammenhang mit der sog. \"Grusinischen Angelegenheit\". Ursache war das tiefgehende Zerwürfnis zwischen Leninffrotzki auf der einen Seite und Stalin/Ordschonikidse auf der anderen Seite. Lenin war tief besorgt über den von Stalin und Ordschonikidse gegen Georgien betriebenen \"Großmachtchauvinismus\", der zum Ziel hatte, die Rechte der selbständigen nationalen Republiken zu schmälern und diese lediglich mit Rechten autonomer Republiken in die russische Föderation einzugliedern. Aus dieser Situation, die Mandel hätte gründlicher behandeln sollen, kam es zur Betrauung Trotzkis mit der georgischen Angelegenheit. Sie unterstreicht das zwischen Lenin und Trotzki bestehende Vertrauensverhältnis und die Überzeugung, daß Trotzki als in Aussicht genommener Nachfolger Lenins die anstehenden Nationalitätenfragen kompetenter als Stalin werde lösen können.Der Beitrag \"Trotzkis alternative Wirtschaftsstrategie für die Sowjetunion\" ist von allen zwölf Kapiteln am interessantesten und gut fundiert. Der Titel des Bandes \"Trotzki als Alternative\" hat hier seinen Ursprung. Überzeugend sind die Belege, daß Trotzki und die linke Opposition keineswegs die Marktmechanismen aus der Sowjetwirtschaft herausnehmen wollten. Von den drei Grundlinien der Wirtschaftspolitik des Jahres 1923, der Linie Bucharins, Stalins, Trotzkis, sei letztere am vielversprechendsten gewesen. Einer adäquaten Wechselwirkung der drei Faktoren Planung, Markt, Sowjetdemokratie für die Wirtschaft der Neuen Ökonomischen Politik sei die Linie Trotzkis am nächsten gekommen. Sie enthalte eine krasse Absage an die Kommandowirtschaft der Stalin-Ära und die rigorose Zwangskollektivierung. Vor dem Hintergrund des ökonomischen Desasters der SU bleibt Mandel überzeugend. Indes bleiben berechtigte Zweifel, ob einer solchen sozialistischen Wirtschaft ungeachtet der Beibehaltung marktwirtschaftlicher Elemente ein späterer Zusammenbruch erspart geblieben wäre.Dennoch: Trotzki bleibt durch sein Werk und auch als Mensch trotz mancher Fehler faszinierend. Für Mandel ist er von allen Denkern und sozialistischen Politikern derjenige, \"der die entscheidenden Probleme unseres Jahrhunderts am deutlichsten erkannt und die adäquatesten Lösungen [...] vorgeschlagen hat\" (248).Rolf Wörsdörfer (Frankfurt/M.)Antonio GramsciGramsci, Antonio: Marxismus und Kultur. Ideologie, Alltag, Literatur. Hrsg. und aus dem Italienischen von Sabine Kebir. Mit einem Nachwort von Giuliano Manacorda. VSA-Verlag, Hamburg 1991, 350 S. Gramsci, Antonio: Briefe 1908-1926. Eine Auswahl. Hrsg. von Antonio A. Santucci. Europaverlag, Wien, Zürich 1992, 299 S. Gramsci, Antonio: Gefängnishefte Band 3. Hrsg. von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug. Hefte 45. Argument-Verlag, Hamburg 1992, 248 S. (Text), 106 S. (Apparat). Gramsci, Antonio: Gefängnishefte Band 4. Hrsg. von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug unter Mitwirkung von Peter fehle. Hefte 6-7. Argument-Verlag, Hamburg 1992, 220 S. (Text), 103 S. (Apparat). SammelrezensionenJHK 1993 441Bibliografia gramsciana. Hrsg. von John M. Cammett. Vorwort von Nicola Badaloni. Editori riuniti, Roma 1991 (Annali 1989 Fondazione lstituto Gramsci), 457 S.International Gramsci Society, Newsletter, March 1993, Number 2, 31 S.Die deutsche Gramsci-Rezeption scheint in den neunziger Jahren erst richtig in Schwung zu kommen. Alle sechs Monate ein Buch von oder über Gramsci; Seminare und Kongresse über sein Leben und Werk; wissenschaftliche Aufsätze zu Teilaspekten seines politischen Denkens. Mit der Veröffentlichung einer deutschen Ausgabe der Gefängnishefte schließt sich jetzt auch ein Kreis, dessen Ausgangspunkt in der DDR 1955 die Ausgabe Die süditalienische Frage. Beiträge zur Geschichte der Einigung Italiens war und der im Westen 1967 mit den ersten Gramsci-Übersetzungen von Christian Riechers begann. Viel ist seither gestritten worden: um die Qualität der jeweiligen Übertragung aus dem Italienischen; um den ideologischen Gebrauch, den Gruppen und Grüppchen, Zirkel und Sekten vom theoretischen Erbe Gramscis machten; um die Bedeutung solcher Schlüsselbegriffe wie \"Hegemonie\", \"historischer Block\", \"Stellungs- und Bewegungskrieg\", \"passive Revolution\", \"Zivilgesellschaft\" u.a. Ein produktiver Streit, überlegt man sich, daß Gramsci auf dem besten Wege ist, nördlich der Alpen mehr gelesen zu werden als in Italien selbst.Von einer zunehmenden internationalen Vernetzung der Gramsci-Diskussion zeugen die Bibliografia gramsciana von John E. Cammett und der von Joseph A. Buttigieg herausgegebene Newsletter der International Gramsci Society. In der Bibliographie figuriert das Deutsche mit 244 Nennungen noch an vierter Stelle hinter dem Italienischen (4324), dem Englischen (909) und dem Französischen (387). Es steht aber zu erwarten, daß die Bedeutung des Deutschen als \"gramscianische\" Sprache zunehmen wird, was für die Übersetzungen von Gramsci-Texten ebenso gilt wie für die Sekundärliteratur. Vorbei sind die Zeiten, in denen deutsche Gramsci-Herausgeber wie Christian Riechers oder Guido Zamis eigene Auswahlbände mit für die hiesige Leserschaft besonders interessanten Artikeln zusammenstellten. Mittlerweile kann all das, was in Italien bisher noch unveröffentlicht geblieben ist, zeitgleich zur italienischen Ausgabe \"originalgetreu\" auch in deutscher Sprache ediert werden.Das erste Beispiel für eine solche Verfahrensweise war der von Giuliano Manacorda besorgte Band Marxismo e letteratura (Editori riuniti, Roma 1975). Allerdings folgte die deutsche Übersetzung von Sabine Kebir in diesem Falle noch mit einem Abstand von acht Jahren (VSA, Hamburg 1983). Inzwischen liegt Marxismus und Kultur - man beachte die Ausweitung des Themas im Titel der deutschen Ausgabe schon in der dritten Auflage vor.Dabei hätte man annehmen können, angesichts des Erscheinens einer deutschen Übertragung der Quaderni del carcere wäre dem von Sabine Kebir besorgten Buch ein gefährlicher Konkurrent erwachsen. Dem ist bisher wahrscheinlich nur deshalb nicht so, weil die komplette historisch-kritische Edition der Quaderni bislang erst zu etwa einem Drittel (sieben von neunundzwanzig Heften unterschiedlichen Umfangs) in deutscher Sprache vorliegt, so daß auch die dritte Auflage des Auswahlbandes noch ihre Käufer und Leserinnen finden wird.Erst recht gilt dies für den von Antonio A. Santucci bei Einaudi herausgegebenen Briefe-Band (Lettere 1908-1926, Torino 1992), dessen von Klaus Bochmann (Leipzig) besorgte, allerdings gekürzte deutsche Ausgabe in demselben Jahr erschien wie das italienische Original. Das Buch steht für einen persönlichen, geradezu intimen Zugang zu Gramsci, wiewohl der Herausgeber Texte politischer und privater Natur versammelt hat. In der Einleitung betont Santucci, die Lettere 1908-1926 stellten die notwendige Ergänzung zu den in Italien erstmals 1947 erschienenen Lettere dal carcere dar. Er weist zugleich auf einen quantitativen Unterschied zwischen der neuen Briefe-Sammlung und der alten Gefängnisbriefe-Ausgabe hin: Während Gramsci in seiner Haftzeit (November 1926 - Januar 1927) über vierhundert Briefe verfaßte, waren es in den Jahren 1908-1926 nicht einmal halb so viele. 442 JHK 1993SammelrezensionenAllerdings sind die Recherchen in italienischen und sowjetischen Archiven noch nicht abgeschlossen. Insbesondere aus dem Zeitraum 1922-26 könnten noch Briefe zutage gefördert werden, auf die es zum Teil Hinweise in der übrigen Korrespondenz gibt.Als Gymnasiast in Cagliari, als Student und Mitglied der Sozialistischen Partei in Turin, schrieb Gramsei vor allem an seinen Vater, seltener an andere Familienmitglieder. Aus den \"zwei roten Jahren\" (1919/20) ist nur ein am 21. Oktober 1920 verfaßter Brief erhalten. Gramsci erklärte dem Wortführer des maximalistischen Flügels der Sozialisten, Giacinto Menotti Serrati, warum er in Turin zusammen mit Togliatti die politische Plattform des Neapolitaners Amadeo Bordiga unterstützte, obwohl er mit deren extremistischer Zuspitzung (Wahlabstentionismus u.a.) nicht einverstanden sei.Im Juli 1922 nahm Gramsci am 2. Erweiterten Plenum des EKKI in Moskau teil und wurde als Vertreter der italienischen Kommunisten in die Komintern-Exekutive gewählt. Am 22. Juli beklagte er sich in einem Brief an Karl Radek über ein Manifest des EKKI zur Lage in Italien. Der Text mache dem \"drittintemationalistischen\" Flügel der Sozialisten um G.M. Serrati und Fabrizio Maffi zu große Zugeständnisse.Gramsci ging es im Sommer 1922 gesundheitlich so schlecht, daß er in das Sanatorium Serebrjani bor bei Moskau eingeliefert werden mußte. Dort lernte er zunächst Eugenia Schucht, wenig später dann deren Schwester Julia kennen, die seine Frau wurde.Der Herausgeber des Briefe-Bandes scheint sich nicht festlegen zu wollen, ob die beiden sich \"Mitte Juli\" (16) oder \"im September\" (32) erstmals sahen. Für die \"Juli\"-Version spricht vor allem die Tatsache, daß Gramscis erster in der deutschen Ausgabe abgedruckter Brief an Julia Schucht im August 1922 verfaßt wurde.Ein politischer Brief datiert vom 18. Mai 1923: Gramsci warnt Palmiro Togliatti davor, sich der Sozialistischen Partei gegenüber sektiererisch zu verhalten. Darüber hinaus analysiert er die Lage einer zweiten großen Massenpartei, der nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten katholischen Volkspartei (\"Popolari\"). Zwei weitere Briefe überwiegend politischen Inhalts sind an das EKKI gerichtet; die Fusion der Kommunisten mit der Gruppe um Serrati und Maffi bahnt sich an, und es handelt sich darum, die vereinigte Partei mit einem angemessenen Zentralorgan auszustatten.Gramsci schlägt als Namen für die neue Zeitung den symbol- und geschichtsträchtigen Namen L´Unita (Die Einheit) vor und signalisiert damit seine Bereitschaft, die Verschmelzung mit den \"Drittinternationalisten\" zu vollziehen, die Taktik der Einheitsfront gegenüber anderen Organisationen der Arbeiterbewegung und der antifaschistischen Linken einzusetzen und schließlich auf die kulturelle, soziale und ökonomische Einigung des tief gespaltenen Landes hinzuarbeiten (Mezzogiorno-Problematik).L`Unita das ist hierzulande einfach nicht bekannt, hieß die Zeitung des Süditalien-Experten und demokratischen Antifaschisten Gaetano Salvemini, der zu den wichtigsten Lehrern Gramscis gerechnet werden darf. Salvemini, dessen Arbeiten Gramsci schon während der Studienjahre beschäftigten, gehört im übrigen zu den am häufigsten erwähnten Autoren in den Gefängnisheften.Nichts wäre einfacher, als an dieser Stelle Gramscis Korrespondenz weiter zu folgen. Statt dessen will ich nur noch auf zwei weitere Briefe verweisen, in denen der italienische Marxist auf die Fraktionskämpfe in der russischen bzw. sowjetischen KP Bezug nimmt. Es handelt sich um das berühmte Schreiben an das Zentralkomitee der KPdSU vom 14. Oktober 1926 und um einen viel weniger bekannten Brief an Togliatti, Terracini und andere Mitglieder des Exekutivkomitees der italienischen Partei, den Gramsci am 9. Februar 1924 in Wien verfaßte.Beide Texte können für den Positionswechsel stehen, den ihr Autor zwischen 1924 und 1926 vornimmt. Zunächst ein vorsichtiger Kritiker der Bürokratisierungstendenzen in der großen Bruderpartei, unterstützt Gramsci 1924 noch Trotzki gegen die \"Troika\" Stalin, Sinowjew und Kamenjew. Zweieinhalb Jahre später - in der KPdSU haben sich wichtige Umgruppierungsprozesse vollzogen und die Bürokratisie- SammelrezensionenJHK 1993 443rung ist weiter vorangeschritten - warnt er die ZK-Mehrheit um Stalin und Bucharin, gegen die Vereinigte Opposition der Trotzkisten und Sinowjew-Anhänger \"einen totalen Sieg\" erringen zu wollen. Inhaltlich hingegen stimmt er mit dem bauernfreundlichen Kurs der Mehrheit überein.Auch wenn es noch zu früh für ein abschließendes Urteil über die von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug besorgte deutsche Ausgabe der Quaderni de/ carcere ist, kann man inzwischen Kritiker verstehen, die wie Christian Riechers feststellen, daß die deutschsprachige Leserschaft von dieser originalgetreuen Kopie der Gerratana-Edition womöglich überfordert sein wird. Wer selbst mit der Herausgabe von Schriften eines marxistischen Klassikers beschäftigt ist, wird mit seiner Kritik trotzdem vorsichtig sein, da er weiß, wie kostspielig und zeitraubend die lesergerechte Kommentierung von Texten aus den zwanziger und dreißiger Jahren ist. Gleichwohl kann man die Frage nach der Notwendigkeit einer auf \"authentisch\" getrimmten deutschen Edition der Quaderni aufwerfen und an einem Beispiel zeigen, wie wenig verständnisfördernd die Authentizität bisweilen ist.Unter§ 35 Italienische Kultur wirft Gramsci in Heft 6 die Frage auf, ob es in Italien einen \"Rassismus\" gebe (vgl. Gefängnishefte, Band 4, 735f.) Er nennt die Ähnlichkeiten zur Situation in Deutschland, um dann die - in diesem Zusammenhang bedeutenderen - Unterschiede hervorzuheben. Am Ende des Abschnitts heißt es: \"Das Seltsame ist, daß es (mit dem Barbarischen Italien [Erzitaliener] und der Strömung des Strapacse) Kurt Erich Suckert ist, der den Rassismus heute verficht, offenkundig Name eines Rassisten und Strapaese Anhängers [...]\" (a.a.O., 736). Man muß schon im Italienischen nachschlagen, um zu verstehen, daß es sich bei \"offenkundig ... Anhängers\" um eine Apposition zu \"Kurt Erich Suckert\" handelt. Ebenso wenig geht aus dem kritischen Apparat des deutschen Bandes hervor, daß Suckert der bürgerliche Name eines italienischen Schriftstellers ist, der seine bekanntesten Werke unter dem Pseudonym Curzio Malaparte veröffentlichte.Hier paart sich also das Streben nach Authentizität mit einer nicht ganz eindeutigen Übersetzung. Der Leser, der vielleicht auch einmal aus Gründen der politischen Aktualität wissen möchte, was Gramsci zum Thema \"Rassismus\" zu sagen hat, versteht wenig bis nichts. Zumindest wird er sich gedulden müssen, bis auch der letzte Band der deutschen Ausgabe erschienen ist, wo man ihn dann über die Identität von Suckert und Malaparte aufklärt. Bei einem Satz könnte er trotzdem für einen Moment verweilen. Nachdem Gramsci erklärt hat, der italienische Rassismus sei nicht über \"Versuche [... ] abstrakten und literarischen Charakters\" hinausgekommen, fügt er hinzu: \"Der Deutsche fühlt die Rasse mehr als der Italiener.\"Manfred Grieger (Bochum)Nicolae CeausescuFischer, Mary Ellen: Nicolae Ceausescu. A Study in Political Leadership. Lynne Rienner Publishers, Bau/der, London 1989, 324 S. O/schewski, Malte: Der Conducator Nicolae Ceausescu. Phänomen der Macht. Ueberreuter, Wien 1990,287 s.Siegerist, Joachim: Ceausescu. Der rote Vampir. Wirtschafts- und Verbands PR GmbH, Hamburg 1990, 480S. Sweeney, John: The Life and Evil Times of Nicolae Ceausescu. Hutchinson, London 1991, 243 S. 444 JHK 1993SammelrezensionenDiktatoren ziehen fast unweigerlich publizistische Aufmerksamkeit auf sich, und Nicolae Ceausescu, der der Entwicklung Rumäniens zwischen 1965 und 1989 seinen Stempel aufdrückte, macht da keine Ausnahme. Die während der Weihnachtstage des Jahres 1989 Westeuropa allgegenwärtige rumänische Fernseh-\"Revolution\", in deren Verlauf Ceausescu und dessen Ehefrau Elena in einem zweifelhaften Schnellprozeß zum Tode verurteilt und anschließend erschossen wurden, hatte das Interesse an dieser schillernden Person noch zusätzlich, wenngleich nur kurzfristig gesteigert.Wer war dieser Mann, der sich selbst gern als \"Conducator\", als \"Führer\", seines Landes ansprechen ließ und noch im November 1989 wenig Sorgen zu haben schien, am Ende seiner politischen Laufbahn zu stehen? Vor welchem politischen, ökonomischen und ideologischen Hintergrund agierte Ceausescu? Wie läßt sich die Entwicklung des geradezu byzantinischen Kultes um seine Person erklären? Welche Rolle spielte die Instrumentalisierung des großrumänischen Nationalismus? Vier Biographien versuchen eine Antwort.Die nutzbringendste Publikation zu all diesen Fragen legte die mit den rumänischen Verhältnissen wohlvertraute amerikanische Politologin Mary Ellen Fischer vor, deren Studie nicht allein die wesentlichen Informationen zur Person zusammenträgt, sondern darüber hinaus dessen Strategie der personalen Führung und der politischen Kontrolle Rumäniens aufzeigt. Ihre Biographie thematisiert somit die Rolle Ceausescus als politischer Führer und öffentliche Person. Dabei schert sie sich im Gegensatz zu den ansonsten eher journalistisch orientierten Arbeiten nicht um aufsehenerregende Gerüchte, wie den angeblichen Vampirismus des Ceausescu-Clans, sondern zieht statt dessen die vielbändige Sammlung der \"Schriften und Reden\" Ceausescus heran, um in seinen eigenen Veröffentlichungen die Wurzeln seines Handelns aufzufinden.Auf der Basis umfangreichen Primärmaterials - die intensive Auswertung des Zentralorgans \"Scinteia\" ersetzt ein Stück weit die ansonsten fehlende Aktenüberlieferung - entsteht ein facettenreiches Bild des rumänischen KP-Generalsekretärs, das in einer beachtenswert abgewogenen Analyse der Grundlagen, Struktur und Entwicklung der politischen Herrschaft des späteren Despoten mündet. Drei Grundüberzeugungen prägten nach Ansicht Fischers schon in den dreißiger Jahren das politische und ökonomische Handeln und die ideologischen Auffassungen des 1918 in Scornicesti geborenen Sohnes armer Kleinbauern: die ökonomische Fixierung auf die großtechnologische Industrialisierung des rückständigen Landes, die Hypostasierung des Nationalismus und ein personales Herrschaftskonzept. Die Autorin stellt zutreffenderweise heraus, daß sich in Ceausescu gleichermaßen die rumänischen Verhältnissen autoritär-faschistischer Herrschaft und gesellschaftlicher Unterentwicklung wie auch die Lehrmeinungen des zeitgenössischen Marxismus-Leninismus widerspiegeln. Der \"first-generation revolutionary\" (33) hatte sich seit seiner frühesten Jugend in der außerordentlich schwachen, gleichwohl verbotenen und scharf verfolgten kommunistischen Bewegung Rumäniens engagiert und mußte in den dreißiger und frühen vierziger Jahren das Schicksal vieler seiner Genossen, nämlich Verhaftungen, Verurteilungen und mehrjährige Haft, teilen.Der Sturz der Antonescu-Diktatur am 23. August 1944 brachte ihm die persönliche Freiheit, und als Vorsitzender des 1945 nur wenige hundert Mitglieder zählenden Kommunistischen Jugendbundes nahm Ceausescu Anteil an der unter dem Schutz der sowjetischen Truppen erfolgenden schrittweisen Übernahme der politischen Macht durch Kommunisten. Die sowjetische Balkanpolitik eröffnete Ceausescu die Chance zu einer politischen Karriere, die er, gestützt auf die in der Haft geknüpften persönlichen Beziehungen zum späteren Ersten Mann der Rumänischen KP, Gheorghe Gheorghiu-Dej, zielbewußt ergriff.Der von Fischer als \"Lehrzeit\" bezeichnete Lebensabschnitt führte Ceausescu zwischen 1944 und 1965 rasch in hohe Leitungsfunktionen. Zunächst sammelte er ab Oktober 1945 als lokaler Parteisekretär in verschiedenen Provinzstädten organisatorische Erfahrungen. Die schroffen innerparteilichen Machtkämpfe konnte er dort unbeschadet überstehen. Sein Mentor holte ihn aber 1948 wieder aus dem Schatten der Provinz und machte seinen dreißigjährigen Gefolgsmann auf dem Vereinigungskongreß der Kommunisti- SammelrezensionenJHK 1993 445sehen Partei mit den Sozialisten zum Kandidaten des Zentralkomitees der neuentstandenen Rumänischen Arbeiterpartei. Wenngleich Ceausescu als Stellvertretender Minister mit solch delikaten Aufgaben wie der Kollektivierung der Landwirtschaft (1949) und der Unterwerfung der Armee unter Parteibefehl (1950) betraut wurde, blieb er eher im Hintergrund und spielte insbesondere in den unerbittlichen Fraktionskämpfen keine öffentliche Rolle. Gheorghiu-Dej erwies sich später aber für die effektive Loyalität dankbar und berief Ceausescu, nachdem er seine innerparteilichen Konkurrenten Ana Pauker und Lucretiu Patranescu hatte ausschalten können, im Mai 1952 zum Vollmitglied des Zentralkomitees und des Organisations-Büros der Partei. Damit war er in den engeren Kreis der Herrschaft aufgestiegen und im Windschatten des Nationalkommunisten Gheorghiu-Dej empfahl er sich als möglicher Nachfolger.Der Tod des gleichermaßen auf außenpolitische Eigenständigkeit wie auf Übernahme stalinistischer Herrschafts- und Industrialisierungsmodelle eingeschworenen Staats- und Parteichefs machte Ceausescu dann den Weg für den Sprung an die Parteispitze frei. Es hat aber den Anschein, als sei er am 22. März 1965 als Kompromißkandidat zum 1. Sekretär der RAP aufgestiegen, wobei seine Fähigkeit, die innerparteilichen Kräfteverhältnisse zu berücksichtigen, eine gewichtige Rolle gespielt haben dürfte. Zudem grenzte er sich publikumswirksam von den stalinistischen Verbrechen Gheorghiu-Dejs und dessen autokratischem Führungsstil ab, was zusätzlich Hoffnung verbreitete. Der beschrittene Weg - Aufgabe der vorherigen Ämterbündelung und ein betont kollektiver Führungsstil - erbrachte dem neuen Triumvirat aus Ceausescu, Chivu Stoica und Ion Gheorghe Maurer eine Menge Vorschußlorbeeren, und der IX. Parteikongreß segnete im Juli 1965 den Prozeß der Machtteilung und Entstalinisierung ab.Ceausescu war zu diesem Zeitpunkt allenfalls erster unter gleichen, und Mary Ellen Fischer verwendet vergleichsweise viel Platz, um die vier Jahre zwischen dem Tod Gheorghiu-Dejs und der Eroberung uneingeschränkter Herrschaftsmacht durch Ceausescu darzustellen. Detailliert weist sie nach, wie der neue Parteisekretär seine Hausmacht durch die Berufung loyaler ZK-Mitglieder stärken konnte. Auch die anderen gesellschaftlichen Machtfaktoren, Armee und Polizei, fanden durch materielle Zugeständnisse und eine geschickte Personalpolitik zum Schulterschluß mit dem ambitionierten Ersten Sekretär der Rumänischen Kommunistischen Partei. Von besonderer Bedeutung war, daß er sich einer breiten gesellschaftlichen Unterstützung versiche1t hatte, deren Basis der rasche, die Lebensverhältnisse spürbar verbessernde Ausbau der industriellen Basis des Landes, die politischen Liberalisierungen und auch die neugeschaffenen partizipatorischen Elemente des politischen Systems bildeten. Sein Trumpf, das Primat einer Außenpolitik der nationalen Unabhängigkeit, stach und die Ablehnung der militärischen Intervention der Warschauer-Vertragstaaten in der Tschechoslowakei brachte im August 1968 die Sonderrolle, die Rumänien in politischer, militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht in Osteuropa spielte, auf den Punkt.Trotz aller Krisen, die die Umstrukturierung der ökonomischen politischen und bürokratischen Entscheidungswege auch für die Stellung Ceausescus mit sich brachten, festigte sich dessen Position im Herrschaftszentrum, so daß er innerhalb von vier Jahren zur unbestrittenen Zentralperson aufsteigen konnte. Diese Entwicklung brachte 1969 der X. Parteikongreß zum Ausdruck, der im Rahmen eines umfangreichen personellen Revirements Stoica und Maurer von der Macht verdrängte und quasi als \"Nachspiel\" die Führungsrolle Ceausescus in Partei und Staat ausdrücklich bestätigte.Auf der Basis persönlicher Herrschaft, die gleichwohl ein feines Geflecht aus materieller Saturierung und politischer Repression zur Grundlage hatte, erwuchs nach 1971 der in seinen Ausdrucksformen für einen kritischen Betrachter kaum nachvollziehbare Personenkult, dessen Beschreibung und Analyse vielleicht zu den lesenswertesten Kapiteln des Buches gehört. Alle Merkmale des modernen Personenkultes, wie die Überhöhung der Führerpersönlichkeit, die Monumentalisierung und die Mythisierung, lassen sich nachweisen, und die rumänischen Medien verliehen Ceausescu fast wie im Lehrbuch Eigenschaften der Unfehlbarkeit, Allwissenheit und Allgegenwart, die das Kultobjekt der Alltagssphäre enthoben, Erniedrigung der Untertanen einforderten und Selbsterniedrigung erheischten. 446 JHK 1993SammelrezensionenCeausescu vertraute jedoch nicht allein auf die Macht der Illusion, sondern gab auf allen Parteiebenen dem permanenten Austausch von politischen Funktionsträgern den Vorzug, wie das von Fischer mühsam aufbereitete statistische Material offenbart. Mithilfe dieser Herrschaftstechnologie und der Forcierung eines Clan-Systems, wobei seine Frau Elena seit 1971 zusehends in das Machtzentrum aufrückte, verhinderte der autokratische Herrscher, daß auch nur die Scheme einer personellen Alternative entstand. Daß Ceausescu konsequenterweise die Schaffung einer kommunistischen Dynastie anstrebte, gibt einen Einblick in die voluntaristische Maßlosigkeit, wiewohl sein Sohn Nicu allenfalls die Hauptrolle in einem farcehaften Nachspiel zu einer allenthalben vorhandenen Tragikomödie hätte besetzen können. Es zeigt aber auch, in welcher Weise der Conducator in die personenkultische Herrschaftsfiguration verwoben war, die eine quasi Unsterblichkeit verlangt. Fischer deutet den Personenkult um Ceausescu als spezifische Form charismatischer Herrschaft, die vornehmlich Surrogatfunktion erfüllte, da sie die realen Probleme des Landes nur zeitweise überdecken konnte, aber keineswegs zu kompensieren vermochte.Die ursprüngliche Hoffnung, die in Rumänien mit der Person Ceausescus verknüpft worden waren, wandelte sich in den siebziger und achtziger Jahren zusehends in Verzweiflung. Die Ansätze partizipatorischer Politik und die megalomanen Entwicklungsprogramme der Industrie und der Landwirtschaft wurden zurückgenommen oder scheiterten kläglich. Die dem ökonomischen Mißerfolg geschuldete zunehmende Verschlechterung der Lebenslage der Bevölkerung führte zu einem Stimmungswechsel, dem einerseits durch die Ausweitung der Repression, die von der berüchtigten Geheimpolizei Securitate ausging, begegnet wurde. Andererseits knüpfte Ceausescu verstärkt an alte Grundüberzeugungen an, indem er einer nationalistischen Politik das Wort redete, die die \"mitwohnenden Nationen\", wie die Ungarn und Roma, zunächst benachteiligte und später offen diskriminierte.Im Gegensatz zu dieser sauber gearbeiteten Studie von Mary Fischer ist der Gebrauchswert der anderen Publikationen deutlich geringer. Dies liegt zum einen daran, daß die Autoren kaum Primärmaterial verwenden, sondern sich auf ihre mehr oder weniger intimen Landeskenntnisse verlassen oder aber unüberprüfbare Informationen aus z.T. doch recht zweifelhaften Interviews ziehen. Zum anderen sind die Darstellungen durch eine Aneinanderreihung von Episoden, Skandalen und Anekdoten gekennzeichnet, die Ceausescus Weg an die Macht und die Herrschaftsstruktur seines Regimes weitgehend im Dunkeln läßt und hierdurch ein analytisches Verständnis des rumänischen Karpatensozialismus verhindert. Schließlich neigen Olschewski, Siegerist und Sweeney zu einer Begrifflichkeit, die kaum Schattierungen kennt, sondern sich allein bemüht zeigt, die politische Ablehnung des Ceausescu-Regimes möglichst scharf zu formulieren.Dies mag zu den Pflichtübungen journalistischer Arbeiten gehören, aber dieses Verfahren wird dem Gegenstand nur unzulänglich gerecht. Gleichwohl kommt insbesondere dem Buch von Malte Olschewski, der Mitarbeiter der Osteuroparedaktion des ORF ist und schon allein durch seine langjährige Beschäftigung mit dem südosteuropäischen Land über eine Vielzahl von Informationen verfügt, eine gewisse Bedeutung zu. Nicht allein, daß er den Verlauf und die Probleme der rumänischen Dezemberrevolution in seine Betrachtung einbezieht, darüber hinaus erlauben seine aus dem Jahre 1975 herrührenden persönlichen Kontakte zum rumänischen Diktator einen eigenständigen Blick auf den Machtmenschen Ceausescu und sein schließliches Scheitern.Olschweski zeigt die starke Machtbesessenheit und Skrupellosigkeit des kommunistischen Oberhauptes Rumäniens, die sich mit Bauernschläue und Naivität paarten. Selbst auf dem Höhepunkt der Bevölkerungsproteste gegen Ceausescu zeigte sich dieser Widerspruch: So wenig Ceausescu zögerte, den spontanen Volksaufstand mit Waffengewalt niederschlagen zu lassen, so sehr verwundert, daß er das abgekartete Spiel, das seine Nachfolger Ion Iliescu und Petre Roman sowie die entstehende \"Front der Nationalen Rettung\" mit ihm trieben, nicht durchschaute. Noch am 17. Dezember 1989 fuhr er zu einem lang angekündigten Staatsbesuch in den Iran, was den Drahtziehern des Umsturzes größere Handlungsmöglichkeiten SammelrezensionenJHK 1993 447eröffnete. Selbst der Videomitschnitt des zweifelhaften Militärtribunals gegen das Ehepaar Ceausescu offenbart auf beeindruckende Weise dessen Desorientierung. Obgleich er und seine Frau Elena ahnten, daß die Inszenierung für sie kein gutes Ende nehmen konnte, trösteten sie sich damit, daß das ganze Volk \"zur Beseitigung dieser Bande von Landesverrätern\" kämpfe, und die Präsidentengattin, die sich gern als \"Landesmutter\" gerierte, nannte die Soldaten des Erschießungskommandos ungläubig \"Kinder\". Die instrumentelle Funktion der rechtswidrigen Tötung des Herrscherpaares, die der \"Front\" zusätzliche Unterstützung durch die Bevölkerung erbringen sollte, sticht sofort ins Auge und der vollständige Abdruck dieses erschütternden Dokumentes, das die drohende Fortsetzung autokratischer Herrschaft in Rumänien ankündigte, gehört sicherlich zu den besonderen Aktivposten des Buches.Die Darstellung des Reporters des \"Observers\", John Sweeney, fällt demgegenüber stark ab. Seine Darstellung lebt vom Wissen aus zweiter Hand, das er sich nach den Weihnachtstagen 1989 aus Anlaß seiner Entsendung als Sonderkorrespondent angeeignet hat. Der Text weist an verschiedenen Stellen verdächtige Anklänge an die Studie von Mary Ellen Fischer auf und die an Schachbegriffen aufgehängte Biographie schreibt eine \"Horrorgeschichte\", die vom Leben eines \"Monsters\" (1) handelt, aber außer harschen Worten Neues nicht zu bieten hat.Der offenkundig der extremen Rechten zuneigende Joachim Siegerist treibt den ressentimentgeladenen Enthüllungsjournalismus auf die Spitze. Schon der Untertitel \"Der rote Vampir\" zeigt die beschrittene Richtung an. Ihm gilt Ceausescu abwechselnd als Kommunist in Teufelsgestalt oder als Teufel in Kommunistengestalt. Das Phänomen Ceausescu wird durchweg mit Charaktereigenschaften erklärt. Wen wundert es, daß dieser als ein von Beginn an schlechter Mensch geschildert wird. Gewürzt mit Blutsaugergeschichten versammelt Siegerist ein unglaubliches Sammelsurium aus Vorurteilen, Lügengeschichten und eitler Besserwisserei, das vorgibt, Ceausescu und die Geschichte des kommunistischen Rumäniens zu erklären. Nur einige Kostproben seiner intellektuellen wie sprachlichen Entgleisungen: Die hauptberuflichen Mitarbeiter der Securitate werden schlicht als \"Schweine in Menschengestalt\" (257) bezeichnet, an anderer Stelle heißt es: \"Die Zigeuner in Rumänien sind wie eine Heimsuchung für das Land\" (436).Solche vorurteilsgeleiteten und personalistischen Bewertungen helfen aber bei der Analyse der Herrschaft Ceausescus nicht weiter. Vielmehr bündelte die Person Nicolae Ceausescu die antidemokratischen und nationalistischen Traditionen der rumänischen Geschichte. Die personale Herrschaftsstrategie des \"Conducators\" stand geradezu paradigmatisch für die poststalinistische Machtausübung in Osteuropa. Zutreffenderweise endet Mary Fischer, deren Buch vor dem blutigen Umsturz im Dezember 1989 veröffentlicht wurde, mit der Prognose, daß auch nach Ceausescu die Möglichkeiten eines Wandels \"nicht unbegrenzt\" sind. Wir wissen heute, wie recht sie hatte. Die derzeitigen politischen Verhältnisse in Rumänien basieren eindeutig auf den gesellschaftlichen Erfahrungen der Ceausescu-Zeit. Ein tieferes Verständnis dieser autoritären Herrschaft erfordert dringend eine intensive Beschäftigung mit den späten Amtsjahren Ceausescus. 448 JHK 1993SammelrezensionenVolker Gransow (Toronto)Jürgen KuczynskiKuczynski, Jürgen: Probleme der Selbstkritik. Sowie von flacher Landschaft und vom Zickzack der Geschichte. PapyRossa Verlag, Köln 1991, 256 S.Kuczynski, Jürgen: Asche für Phönix. Aufstieg, Untergang und Wiederkehr neuer Gesellschaftsordnungen. PapyRossa Verlag, Köln 1992, 122 S.Jürgen Kuczynski, geboren 1904, galt als Nestor der Sozialwissenschaften in der DDR. Kuczynski ist Autor einer Vielzahl von Schriften, darunter nicht zuletzt einer vierzigbändigen Geschichte der Lage der Arbeiter. Er war während seines gesamten erwachsenen Lebens aktiver Kommunist, erst in der KPD, dann in der KP Großbritanniens, danach in der SED und jetzt in der PDS. Im instruktiven Nachwort Georg Fülberths zu \"Asche für Phönix\" heißt es, daß Kuczynski seine 1989 erschienenen \"Studien zum Historischen Materialismus\" sein \"letztes Buch\" genannt habe. Damit habe er auch \"nahegelegt, daß er nicht die Absicht habe, sein Schriftenverzeichnis um neue Bände zu bereichern\" (107). Aber, wie Fülberth weiter notiert, erlaubte es der Zusammenbruch der DDR dem alten Gelehrten nicht, bei der damaligen Bilanz zu bleiben. \"Der Untergang seiner politischen Welt konnte unmöglich die eigene Biographie unversehrt lassen. Er war zugleich eine Herausforderung an den Wissenschaftler: Was war falsch? Was bleibt?\" (108).Vor diesem Hintergrund sind beide hier zu besprechenden Texte wie auch weitere neuere Veröffentlichungen Kuczynskis zu sehen. Läßt man die implizite wie explizite Neigung des Autors zum ausgedehnten Selbstzitat einmal beiseite, so unterscheiden sich die beiden Bände u.a. dadurch, daß der erste Band, eine Aufsatz- und Vortragssammlung, vor und nach 1989 entstandene Texte enthält, während das zweite Büchlein eine spezielle Reaktion auf den Umbruch von 1989 und danach darstellt. Die Antwort auf die von Fülberth genannten Fragen heißt in beiden Fällen eigentlich: Es war weniger falsch und es bleibt mehr vom eigenen Werk, als es die Tiefe des Umbruchs zunächst nahelegen könnte.Der flotte Untertitel \"Probleme der Selbstkritik\" bezieht sich zum einen darauf, daß Kuczynski das Niveau der DDR-Gesellschaftswissenschaften im allgemeinen als niedrig ansah: \"Wie ich von den Besten, zu denen ich auch mich zählte, dachte, zeigt meine oft geäußerte Formulierung: \'Wir sind kleine Hügel in einer recht flachen Landschaft\"\' (99). Zum anderen ist der Untertitel Ausdruck von Kuczynskis inzwischen etwas angeschlagen wirkendem historischem Optimismus. \"Friedrich Engels hat einmal festgestellt: Die Geschichte bewegt sich im Zickzack. Und so wird der gegenwärtigen Zackperiode auch wieder eine Zickperiode folgen\" (34).Der erste Teil von \"Probleme der Selbstkritik\" handelt von der Gegenwart. Recht krude wird hier von der \"Tragödie\" der \"neuen Spaltung\" Deutschlands gesprochen oder die Ex-DDR als \"Armenkolonie\" charakterisiert. Aber auch die mit der Vereinigung verbundenen Verbesserungen wie freie Wahlen, freies Reisen usw. werden positiv gewürdigt. Anregend sind die Überlegungen zur deutschen Identität, wo der Verfasser zwei neue Identitäten (BRD; Deutschland) und Reste einer alten (DDR) bei den ehemaligen Bürgern der DDR beobachtet. Ob freilich sein Diktum zutrifft: \"Der ehemalige DDR-Bürger hat eine neue Identität: er ist Deutscher\" (44)? Vielleicht war die deutsche Ethnizität in der DDR sogar stärker ausgebildet als in Westdeutschland? Alles in allem zeugen diese Passagen eher von Verbitterung denn von Selbstkritik, zumal Kuczynski sich zugute hält, daß er als \"orthodoxer Dissident\" die ostdeutschen Zustände gelegentlich schon früher scharf kritisiert hatte.Der zweite und dritte Teil befassen sich mit Kultur und Wissenschaft sowie marxistischer Theorie. Hier sind zum Teil ältere Texte abgedruckt, die belegen, mit welcher Courage der alte Herr sich seinerzeit ge- SammelrezensionenJHK 1993 449gen die meisten seiner Kollegen stellte, wenn er etwa eine radikale Arbeitszeitverkürzung forderte oder für die Anerkennung von antagonistischen Widersprüchen (also möglicherweise systemsprengenden Konflikten) im realen Sozialismus eintrat. Die Grenzen der Kritik sind allerdings da erreicht, wo es um Lenin geht. Vor und nach 1989 ist Lenin für Kuczynski nahezu sakrosankt. Besonders rühmt er den Leninschen Realismus, der etwa der SED-Führung weitgehend mangelte (vgl. 228).Abgeschlossen wird die Sammlung mit einem Text über Stalinismus, einem sehr lesenswerten Dokument, und zwar weniger wegen seiner analytischen Dimensionen denn als autobiographisches Zeugnis. Der Beitrag entstand schon im August 1966, wurde versiegelt und als \"nicht zu öffnen vor meinem Tode\" 1987 an das Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR gegeben. Der Text beginnt sehr ehrlich mit der Frage: \"... aber wie kann ich abschätzen, in welchem Maße, sehr wahrscheinlich großem Maße, ich selbst noch so im Stalinismus befangen bin, daß ich nur Ungenügendes sagen\" kann (234). Dann werden Zentralismus, Autokratie, Machthunger, Terror als Elemente des Stalinismus genannt, die \"auch heute noch bei uns vorherrschen\". Dem werden freilich \"Inseln der Annäherung an ein echtes marxistisch-leninistisches Gesellschaftsleben\" entgegengehalten \"wie - ich hoffe es - mein Akademieinstitut\" (235). Schonungslos schildert Kuczynski seine eigene Naivität gegenüber dem Terror der dreißiger Jahre, seine Bewunderung und Verehrung für Stalin. Aber noch 1966 meint er: \"Die meisten Stalinschen Werke sind großartige Einführungen in die Probleme und in die Analysemethoden des Marxismus-Leninismus - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Strachey und Sweezy zeigten in ihren besten Werken auf niederer Ebene eine ähnliche Fähigkeit\" (246). Dem Rezensenten scheint, daß der Autor damit in der Tat demonstriert, daß er zumindest dann, wenn man den \"Marxismus-Leninismus\" als weitgehend stalinistisches Konstrukt betrachtet, trotz aller Kritik und allen moralischen Entsetzens noch \"im Stalinismus befangen\" ist (234).Das wird teilweise auch im zweiten, hier zu rezensierenden Büchlein demonstriert. \"Asche für Phönix\" - d.h. aus der Sicht des Verfassers, daß neue Gesellschaftsordnungen aufsteigen, untergehen und wiederkehren können. Dafür wählt er drei Beispiele. Erstens den Übergang zum Feudalismus innerhalb der römischen Sklavenhaltergesellschaft, zweitens Norditalien und England in der Transformationsperiode vom Feudalismus zum Kapitalismus und schließlich den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus. Im ersten Abschnitt konzentriert er sich auf Entstehen und Untergang der Kolonen seit etwa einem Jahrhundert vor Beginn der heutigen Zeitrechnung. Diese Kolonen waren Kleinpächter, die eine eigene Sozialschicht darstellten und vom 4. bis zum 6. Jahrhundert wieder zu Quasi-Sklaven absanken. Der zweite Abschnitt handelt von einer \"Frühblüte des Kapitalismus\" (51) im Norditalien des 14. und 15. Jahrhunderts. Im dritten Teil geht es um den \"Untergang der ersten, rohen, deformierten Anfänge des Sozialismus\" (7). Und wenn man Kuczynski zufolge den \"Weg Lenins\" gegangen wäre, dann wäre dieser erste Versuch nicht gescheitert (vgl. 106 u.a.).Zur Methodik vermerkt Fülberth im Nachwort lakonisch: \"Analogien sind am treffsichersten, wenn sie auf dem Felde der Historie bleiben, wenn also Vergangenes mit Vergangenem nicht etwa ineinsgesetzt, sondern verglichen wird. Für Prognosen sind sie anregend, aber ohne Beweiskraft\" (110). Anders gesagt: Daß es Feudalismus in der Antike und Kapitalismus im Feudalismus gegeben hat, beweist noch nicht, daß eine idealsozialistische oder demokratisch-sozialistische Gesellschaftsordnung dereinst entstehen wird. Im Gegenteil kann man die hochgebildet vorgeführten Fallstudien auch als Gegenbeispiele zur starren stalinistischen (\"marxistisch-leninistischen\") Theorie der Abfolge von Gesellschaftsformationen von der Urgesellschaft bis zum Kommunismus verstehen, die Kuczynski hier - komplexer und intelligenter - letztlich doch zu retten versucht. In diesem Sinn zeigt auch \"Asche für Phönix\" die stalinistische Befangenheit eines gleichzeitig innovativen Denkers. 450 JHK 1993 Gunter Ehnert (Mannheim)SammelrezensionenRobert HavemannHavemann, Robert: Dokumente eines Lebens. Zusammengeste/lt und eingeleitet von Dirk Draheim, Hartmut Hecht, Dieter Hoffmann, Klaus Richter, Manfred Wilke. Mit einem Geleitwort von Hartmut Jäckel. Ch. Links Verlag, Berlin 1991, 312 S.Havemann, Robert: Fragen - Antworten - Fragen. Aus der Biographie eines deutschen Marxisten. Mit einem Geleitwort von Fritz Rudolf Fries, einer Ballade von Wolf Biermann und einem Nachwort von Dieter Hoffmann. Aufbau Verlag, Berlin, Weimar 1990, 294 S.Ein fünfköpfiges Wissenschaftlerteam aus Physikern, Historikern und Politologen legte mit dem Band Dokumente eines Lebens eine \"schlaglichtartige\" (11) erste biographische Gesamtdarstellung und Dokumentation der Vita Robert Havemanns vor. 1910 als Sohn eines promovierten Lehrers und einer Kunstmalerin aristokratischer Herkunft geboren und in einem \"national\" gesinnten (13), bürgerlichen Elternhaus aufgewachsen, beendete Havemann 1932 sein Chemiestudium, das ihn von München nach Berlin führte. Bis zu seiner Verhaftung im Jahre 1943 führte Havemann im Nationalsozialismus ein \"gespaltenes\" Leben (24). Trotz seines Eintritts in die KPD 1932 und seiner - bis 1935 auch im Rahmen der Gruppe \"Neu-Beginnen\" in Berlin geleisteten - Widerstandsarbeit, bewerkstelligte er eine durchaus erfolgreiche Karriere als Physikochemiker, die im März 1943 mit seiner Habilitation endete. Schon im September des gleichen Jahres wurde Havemann als Mitbegründer und Leiter der Widerstandsgruppe \"Europäische Union\" verhaftet, die sich zum Ziel gesetzt hatte, mit einem international projektierten Kadertransfer in die \"neue Zeit\" einen ersten Schritt auf dem Weg eines sozialistischen Gesamtdeutschlands in europäischer Verankerung zu machen. Nur seine als \"kriegswichtig\" deklarierten Forschungsarbeiten verschoben bis zum Zusammenbruch immer wieder die Vollstreckung des Freislerschen Todesurteils.Havemann empfand sein weiteres Leben als \"Zugabe\" (64), was zweifelsohne nicht unwesentlich dazu beitrug, daß er in der psychischen Konstitution eines \"glücklich verfaßten Naturells\" (7) in den sechziger und siebziger Jahren zu einem der bekanntesten und wichtigsten Binnenkritiker der DDR-Diktatur wurde.Obgleich der \"distanzierte Skeptiker\" (73) sich stets um geistige Unabhängigkeit bemühte und zunächst zwischen den politischen Ost-West-Fronten in Berlin lavierte, wohl auch deshalb bei der SED-Führung als schillernde Persönlichkeit galt, wurde er insbesondere vor dem Hintergrund des eskalierenden \"Kalten Krieges\" an der Wende zu den fünfziger Jahren zu einem beflissenen und überzeugten Mitglied der Partei neuen Typus und zu einem hochdekorierten \"Multifunktionär\" (133) der DDR-Nomenklatura in Wissenschaft und Politik.Nur schrittweise vollzog sich seine Abkehr vom diktatorisch-bürokratischen Kommunismus. Die Impulse waren zunächst eng mit den \"Tauwetter-Perioden\" der DDR-Geschichte verknüpft. So wirkten die Enthüllungen über die Stalin-Ära auf dem XX. Parteitag der KPdSU auch auf den Naturwissenschaftler Havemann 1956 ernüchternd und setzten einen Umdenkungsprozeß in Gang, an dessen Ende ein typischer Repräsentant des Reformkommunismus stand, der sodann massiven politischen Repressionen ausgesetzt war und sämtliche Positionen verlor. Auf die Realpolitik der kommunistischen Staatsparteien bezugnehmend, forderte er die Demokratisierung und damit die Pluralität und Modernität der DDR-Gesellschaft, insbesondere die \"demokratische Kontrolle der Regierung von unten\", also das \"Recht auf Opposition, sowohl in der Öffentlichkeit[...] wie auch im Parlament und den Volksvertretungen, dessen Mitglieder durch freie und geheime Wahlen bestimmt sind\" (243). Die führende Rolle der SED sollte nicht auf einem instrumentalisierten \"Marxismus-Leninismus\" basieren, der die immer richtige Politik einer privilegierten SammelrezensionenJHK 1993 451Oberschicht \"belegte\" und eine Apparatherrschaft absicherte, sondern auf einem Vertrauensverhältnis zur Bevölkerung, weshalb er für den unbehinderten Meinungsstreit als notwendigen Vorlauf bei der Festlegung der Parteilinie plädierte.Havemanns Weg in die \"Häresie\" wird von den Autoren im Wechsel von Darstellung und Quellendokumentation ausführlich beschrieben und in den zeithistorischen Kontext eingebettet. Auch durch den Abdruck von zahlreichen bislang verschlossenen Akten, so beispielsweise aus dem ehemaligen Zentralen Parteiarchiv der SED, der Humboldt-Universität und des privaten Havemann-Nachlasses, werden die Verkrustung des DDR-Regimes und insbesondere seine perfektionierte Perfidie gegen politische Opponenten am Fall Havemann instruktiv veranschaulicht.Gleichzeitig bleibt das reformkommunistische Selbstverständnis von Havemann schemenhaft und tritt zeitweilig in den Hintergrund, was mit seiner unreflektierten Stilisierung zum \"Helden der friedlichen Revolution\" (123) korrespondiert. Nicht zuletzt deshalb sei ergänzend Havemanns 1970 veröffentlichte und nunmehr neu aufgelegte Autobiographie Fragen-Antworten-Fragen empfohlen. Sie ist eine literarische Verarbeitung von Vernehmungen bei der Staatssicherheit im Jahre 1966, in der er die ihm gestellten Fragen nach selbstreflexiver Bilanz des eigenen Lebens und politischen Bekenntnisses durch Gegenfragen beantwortet und damit die Rollen des Verhörten und der anonymen Stasi-Verhörer vertauscht.In dem Band findet sich denn auch seine zentrale Zwei-Stufen-Theorie, wonach der \"stalinistische Gulaschkommunismus\" (143) zwar die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zerstört, diese aber nicht durch sozialistische, sondern durch staatsmonopolistische Produktionsverhältnisse ersetzt habe, weshalb sich weithin kein \"sozialistisches Bewußtsein\" (134) an der Basis gebildet habe. Diese sozialistischen Produktionsverhältnisse seien nur durch einen zweiten, entscheidenden Schritt, durch die Umwälzung des Überbaus und die Errichtung der sozialistischen Demokratie möglich, \"die nicht nur alle Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie [so auch die persönliche Freiheit, G.E.] aufrechterhält, sondern überhaupt erst das Prinzip der Demokratie wirklich realisieren kann\" (55). Das \"tiefere Wesen des sich entwickelnden Sozialismus ist das Absterben des Staates, auch des sozialistischen Staates, dessen Formung und Festigung am Anfang, dessen Auflösung und Überflüssigwerden am Ende der Entwicklung steht. Und dieser sozialistische Staat ist erst dann verwirklicht und existent, wenn er die Strukturen der permanenten Selbstauflösung frei entfaltet. \"Die freie Entfaltung permanenter Selbstauflösung ist das Wesen der sozialistischen Demokratie. Sie kann in den sozialistischen Ländern nur durch radikale Überwindung der stalinistischen Struktur geschaffen werden\" (142). Gleichwohl habe die DDR \"zumindest\" den ersten Schritt absolviert, weshalb Havemann diesen Staat Zeit seines Lebens für den besten deutschen Staat hielt, der jemals existierte. Diese \"unvollendete Revolution\" sei jedoch eine \"tragische Halbheit\", die ständig von der \"Konterrevolution\" bedroht werde. \"Das Schlimme dieses Zustandes liegt darin, daß die latente Bedrohung die Aufrechterhaltung der stalinistischen Struktur notwendig zu machen scheint\" (133).

Inhalt – JHK 1993

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