JHK 1993

\"Klassengegner gelungen einzudringen ... \". Fallstudie zur Anatomie politischer Verfolgungskampagnen am Beispiel der Sektion Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin in den Jahren 1968 bis

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 197-225

Autor/in: Rainer Eckert, Mechthild Günther und Stefan Wolle 1 (Berlin)

1. Wie aus der Büchse der Pandora kriechen aus den Aktenbergen des untergegangenen SED-Staates immer neue Monströsitäten. Im Rückblick entsteht das Bild einer Gesellschaft, die bis ins Innerste vergiftet war. Manche möchten gerade deswegen einen Schlußstrich unter die Diskussion ziehen. \"Das wirkliche Leben läßt sich nicht auf Akten und Karteikarten reduzieren\", kann man in der gegenwärtigen Diskussion um die DDRVergangenheit immer wieder hören. Dies ist zweifellos richtig. Doch gerade deswegen ist es wichtig, schriftliche Quellen in den historischen Kontext zu stellen, die Akten unterschiedlicher Provenienz miteinander zu vergleichen, Zeitzeugen zu befragen und die Resultate der Forschung mit den eigenen, subjektiven Erinnerungen zu konfrontieren. Dies soll hier anhand eines exemplarischen Vorgangs geschehen. Zum Objekt der Fallstudie wurden Vorgänge an der Humboldt-Universität in den Jahren 1968 bis 1972 gewählt, in welche die drei Projektbetreuer selbst involviert waren. Die Forschungen vollzogen sich aus diesem Grunde nicht im akademischen Elfenbeinturm vermeintlicher Wertfreiheit. Sie waren Teil der Bemühungen um eine politische Erneuerung der Universität. Schon bald nach dem Zusammenbruch des SED-Systems gab ein Brief von Mechthild Günther, die 1971 als Studentin verhaftet und verurteilt worden war, den Anstoß für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Sektion Geschichte. Außer der Umbennung in \"Institut für Geschichtswissenschaften\" hatte sich dort wenig geändert. Die für die DDR-Gesellschaft typische personelle Immobilität hatte dazu geführt, daß alle Verantwortlichen - soweit sie nicht gestorben waren - noch an der HumboldtUniversität arbeiteten. Sie waren im Laufe der Jahre in Ämter und Würden aufgestiegen, hatten als \"Reisekader\" die Welt bereist und waren damit beschäftigt, mit Hilfe ihrer Westbeziehungen den nahtlosen Übergang in die freiheitliche Grundordnung zu vollziehen. Daß sie auf das Auftauchen ihrer ehemaligen Opfer nicht gerade erfreut reagierten, konnte wahrlich nicht verwundern.Der damalige Rektor verschickte lapidare Entschuldigungsschreiben an die Betroffenen und hoffte, damit die Sache erledigt zu haben. Am Institut fand eine gespenstische \"Aufarbeitungveranstaltung\" statt. Nur durch einen Zufall war der Termin der Veranstaltung öffentlich bekannt geworden, so daß einige der Betroffenen und ein Mitarbeiter derDie Arbeit entstand im Rahmen eines Seminars am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität (SS 1992/WS 1992/93) unter Beteiligung der Studenten Heike Hessenauer, Stefan Karsch, Ilko-Sascha Kowalczuk, Stephania Lab6, Stephan Luther, Florian Meesmann, Marye Meyring, Jörg Rudolph und Max Tittel. 2 Aus den handschriftlichen Aufzeichnungen des Parteisekretärs der Sektion Geschichte, Horst Schützler; Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv der SED (im weiteren: ZPA SED), IV B - 7/229/008. 198 JHK 1993Dokumentation\"taz\" anwesend waren. Dieser beschrieb den Auftritt eines der Hauptverantwortlichen für politische Verfolgungen in den sechziger und siebziger Jahren:\" ... umgeben von feixend-zustimmend aufblickenden Studentinnen meldet sich Professor Kurt Pätzold zu Wort ... Selbstbewußt schnarrt der Redner seine \'Erklärungen\', wo nur ein Stocken, das Ringen um jeden Satz seinen Worten Resonanz geben könnte. Kein Beifall. Kein Widerspruch. Kälte. Unfähigkeit zum gemeinsamen Gespräch. Mindestens drei der gemaßregelten, verhafteten, einfach hinausgeworfenen früheren Studentinnen sitzen im Saal. Man hat sie durchaus erkannt, sie übersehen, geschnitten ... Niemand gibt ihnen die Hand, bittet sie gar zum Podium.\"3Doch die Lawine war durch den Zeitungsartikel losgetreten. Der Versuch, \"Vergangenheitsbewältigung\" hinter verschlossenen Türen zu betreiben, war gescheitert. In einem Offenen Brief, der ebenfalls in der \"taz\" veröffentlicht wurde, reagierte Beatrix Herlemann einige Tage später unter dem Titel:\"Ihre Entschuldigung nehme ich nicht an, Herr Pätzold!\".4 Sie schrieb darin: \"Wer wie ich einmal erlebt hat, wie Sie im Frühjahr 1968 die Studenten der Ihnen zugeordneten Historiker Diplomanden-Gruppe .. . immer wieder mit Nachdruck aufforderten, ihre Meinung zum \'Prager Frühling\' zu bekunden, um sie dann im Herbst 1968 eben wegen dieser Meinungsäußerungen unerbittlich anzuprangern und schließlich von der Universität zu jagen, der vergißt das sein Leben lang nicht mehr.\"5Nun war das Institut gezwungen, sich der öffentlichen Auseinandersetzung zu stellen. Am 10. November 1990 versammelte sich im Senatssaal der Universität ein großer Teil der damaligen Institutsangehörigen und viele ehemalige Studenten der Sektion Geschichte.6 Der ehrwürdige Saal schien aus den Nähten zu platzen. Mit einem Jahr Verspätung fand endlich die notwendige Diskussion statt. Die \"friedliche Revolution\", die Wende und die deutsche Einheit waren scheinbar spurlos an der Universität vorüber gegangen. Eine Welt war zusammengebrochen, doch in in den verstaubten Höhlen der Universität hausten immer noch die Lemuren der SED-Vergangenheit. Immerhin wurde im Resultat der Veranstaltung vom Rektor der Universität, Heinrich Fink, eine Kommission eingesetzt, die damit beauftragt war, die Fälle politischer Verfolgung an der Sektion Geschichte zu untersuchen.7 Doch bis zur Kündigung von Kurt Pätzold und einer Reihe durch ihre Stasi-Verstrickungen belasteter Professoren sollten noch zwei Jahre ins Land gehen. Die Erneuerung kam nicht von innen, sondern wurde von einer \"Struktur- und Berufungskommission\" unter Leitung des Münchener Professors Gerhard A. Ritter betrieben. Daß dies sich nicht ohne Reibungen vollzog, war selbstverständlich. Bei aller Kritik an angeblichen oder tatsächlichen Bevorzugungen westlicher Bewerber, muß gesagt werden, daß es der Humboldt-Universität unmöglich gewesen wäre, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Vergangenheit zu ziehen.Im Spannungsfeld dieser Auseinandersetzungen vollzog sich unsere Forschungsarbeit. Im Mittelpunkt der Recherchen standen die Strukturen und Mechanismen politischer Verfolgungskampagnen, wie sie für DDR-Universitäten typisch waren.3 taz, 17.10.1990. 4 taz, 7.11.1990. 5 Ebenda. 6 taz, 14.11.1990; FAZ, 14.11.1990; Tagesspiegel, 13.11.1990, Humboldt-Universität 10-11 und 12-13/1990/91. 7 Ein Gutachten der Kommission ging am 5. Februar 1991 an den Rektor der Humboldt-Universität. Eckert/Günther/Wolle: VerfolgungskampagnenJHK 1993 1992. Im September 1968 wurde im Rahmen der 3. Hochschulreform die Sektion Geschichte gegründet. Die Strukturreform war Teil eines großangelegten Versuchs, die existierenden wissenschaftlichen Institutionen zu zentralisieren, die Forschung effizienter zu gestalten und den Studienablauf zu straffen. Dem lag die Einsicht der Parteiführung zugrunde, daß sich auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik der ökonomische Wettlauf zwischen den Systemen entscheiden würde. Durch die Hochschulreform wurden manche alte Zöpfe und traditionell gewachsene Unübersichtlichkeiten beseitigt. Andererseits ergaben sich aus der Strukturreform Möglichkeiten, unliebsame Professoren zur Seite zu schieben, die letzten Fluchtburgen \"bürgerlich-objektiver Wissenschaft\" zu beseitigen und das Netz der politischen Kontrolle enger zu knüpfen.Die SED-Führung befand sich in einem tiefen inneren Zwiespalt. Auf der einen Seite brauchte man qualifizierte und begabte Wissenschaftler. Auf der anderen Seite fürchtete man selbständiges Denken und geistige Kreativität wie der Teufel das Weihwasser. Dieser Dauerkonflikt, der die Existenz der DDR vom Anfang bis zu ihrem kläglichen Ende begleitet hat, erhielt in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zusätzliche Brisanz. Der Kalte Krieg verlor seine unerbittliche Schärfe, die liebgewordenen Feindbilder begannen zu verblassen und mit der SPD, die 1966 mit der CDU eine Große Koalition eingegangen war, betrat ein Feind die Bühne, der weitaus gefährlicher schien als die liebgewordenen Pappkameraden der eingespielten Propaganda. Der \"Gegner\" tarnte sich in den Augen der SED-Propagandisten neuerdings mit \"sozialistischen Phrasen\", um die DDR ideologisch aufzuweichen. Bevorzugte Zielgruppe dieser \"psychologischen Kriegsführung\" waren Intellektuelle, Künstler und Studenten, jene Kreise also, denen von Hause aus das \"gesunde Klassenbewußtsein\" des Proletariats fehlte und die mit einer fraglosen Akzeptanz der führenden Rolle der SED Schwierigkeiten hatten.Die Universitäten rückten dadurch ins Zentrum obrigkeitlicher Aufmerksamkeit. Als im Frühjahr 1968 von der neuen tschechoslowakischen Parteiführung unter Alexander Dubcek ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz proklamiert wurde, nahm die Angst von SED und Stasi paranoide Züge an. Daß die Sympathien vieler Studenten und Intellektueller auf Seiten des tschechischen Reformkurses waren, war der Stasi und der Parteiführung klar. So atmeten sie hörbar auf, als am 21. August 1968 sowjetische Panzer das Experiment eines demokratischen Sozialismus beendeten.8Als Instrument der Repression trat in der Alltagswirklichkeit den Studenten nicht das MfS entgegen, das weitgehend im Verborgenen wirkte, sondern vor allem die FDJ. In der Regel umfaßte eine FDJ-Gruppe als unterste Struktureinheit die Mitglieder einer Seminargruppe - im verschulten System der DDR-Universitäten entsprach das etwa einer Schulklasse, die im wesentlichen gemeinsam die unteren Semester durchlief. Der FDJ-Gruppenleitung übergeordnet war die Grundorganisationsleitung der Sektion, deren 1. Sekretär gleichzeitig Mitglied der Parteileitung der Sektion war. Die Jugendorganisation legte ein dichtes Netz der politischen und sozialen Kontrolle über die Studentenschaft. Ihr oblag die Ahndung vermeintlicher oder tatsächlicher Disziplinverstöße, die Führung von Anwesenheitslisten, insbesondere bei Sportfesten, Kulturabenden, \"freiwilligen\" Arbeitseinsätzen und den zahllosen Demonstrationen, bei denen rund um das Jahr eine jubelnde Blauhemdkulisse benötigt wurde. Die ausgewählten Funktionäre der FDJ entschieden über Leistungsstipendien und Beurteilungen, sie saßen als Beisitzer in den8 Wolle, Stefan: Die DDR-Bevölkerung und der Prager Frühling, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 42 ( 1992) 36. S. 35-45. 200 JHK 1993DokumentationPrüfungen über Marxismus-Leninismus und sogar in den Absolventenkommissionen, die über den späteren beruflichen Einsatz entschieden. Die FDJ-Funktionäre wurden formal zwar gewählt, praktisch entschied aber die Partei über die Verteilung der Posten, die für viele ein Sprungbrett für eine Karriere im Funktionärsapparat oder an der Universität war.Die Leitung der Grundorganisation der SED war das eigentliche Zentrum der Macht. Hier fielen alle wichtigen Entscheidungen. Die SED war territorial strukturiert, also nach Bezirken und Kreisen. Die Humboldt-Universität gehörte innerhalb der Berliner Bezirksparteiorganisation ebenso wie die Akademie der Wissenschaften, das Ministerium für Staatssicherheit und andere Einrichtungen zu den sogenannten nichtterritorialen Kreisleitungen. Auf der Kreisorganisation der hauptstädtischen Universität ruhte zusätzlich das wachsame Auge Professor Kurt Hagers, der sich als das für Kultur und Wissenschaft zuständige Mitglied des Politbüros in viele Entscheidungen unmittelbar einmischte und direkte Anweisungen über die SED-Kreisleitung gab.Demgegenüber hatte die sogenannte Staatliche Leitung geringere Bedeutung. Die Sektionsdirektoren waren in Personalunion auch Mitglied der SED-Parteileitung der jeweiligen Sektion. Diese personelle Verflechtung garantierte den \"kurzen Dienstweg\". Alle rechtlich relevanten Entscheidungen, beispielsweise die Einberufung eines Disziplinarausschusses, lagen zwar formal bei der \"staatlichen Leitung\", man konnte jedoch davon ausgehen, daß nichts ohne die Anweisung der Partei geschah. Dieser merkwürdige Dualismus macht heute die Rekonstruktion der Vorgänge so schwierig.Die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit war für die damals Beteiligten vollkommen undurchsichtig. Erst nach dem Zusammenbruch des SED-Staates wurden schrittweise einige Tatsachen bekannt. Das MfS verfügte über ein Netz von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und Offizieren im besonderen Einsatz (OibE). Zusätzlich war ein erheblicher Teil der Wissenschaftler für die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) tätig. Im Unterschied zu den gesellschaftlichen Organisationen wurde das MfS nur im Extremfall für den Einzelnen sichtbar. Das erklärte Ziel der Staatssicherheit war es, die \"Probleme im Vorfeld zu beseitigen\", nachdem die anderen Mittel der Repression und Disziplinierung versagt hatten.Auch das MfS hatte sich der führenden Rolle der Partei unterzuordnen. In der Alltagspraxis aber war der Respekt vor den \"Genossen von der Sicherheit\" so groß, daß selbst Nachfragen bei Maßnahmen der Staatssicherheit kaum denkbar waren. Innerhalb der Kreisleitung der SED gab es einen Beauftragten für Sicherheitsfragen. In welcher Form solche hauptamtlichen Mitarbeiter des Parteiapparates mit dem MfS zusammengearbeitet haben, ist bis heute unklar. Nach den üblichen Gepflogenheiten durften sie keine IM oder OibE des Ministeriums für Staatssicherheit sein. Ganz offenbar wurden von diesem Prinzip aber Ausnahmen gemacht.Für die Tätigkeit des MfS an den Universitäten spielten einige Dienstanweisungen und Durchführungsbestimmungen eine Rolle. Bereits Mitte der sechziger Jahre rückte aus den oben geschilderten Gründen die Jugend, insbesondere die Studenten, ins Blickfeld bevorzugter Aufmerksamkeit der Stasi. Am 15. Mai 1966 erließ der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke einen speziellen Befehl über die \"Bekämpfung der ideologischen Diversion und der Untergrundtätigkeit unter Jugendlichen\" (Dokument Nr. 1).Auf der Grundlage dieses Befehls wurde ebenfalls am 15. Mai 1966, die Dienstanweisung Nr. 4/66 erlassen (Dokument Nr. 2). Sie enthält seitenlange Aufzählungen aller nur Eckert/Günther/Wolle: VerfolgunxskampagnenJHK 1993 201denkbaren Varianten der Bespitzelung in Bildungseinrichtungen der DDR. Zumindest theoretisch wird ein System der totalen Überwachung entworfen. Bereits im Stadium der Vorimmatrikulation, d.h. in der Zeit zwischen der Vergabe des Studienplatzes und dem Antritt des Studiums sollten die künftigen Studenten systematisch nach geeigneten Kadern für eine IM-Werbung durchmustert werden. Vom Professor bis zu den Kellnerinnen in Studentenkneipen sollte dann ein lückenloses Netz von Spitzeln geknüpft werden. Schließlich hatte das MfS bei der \"Absolventenlenkung\", d.h. bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. \"Durch das inoffizielle Netz sind die wissenschaftlichen Kader ständig zu überwachen, um zu verhindern, daß feindliche Elemente in diesen Bereichen tätig werden können. Erkannte feindliche Elemente sind, wenn keine Strafrechtsnormen angewandt werden können, durch geeignete Legendierung in Zusammenarbeit mit Partei oder staatlichen Stellen zu entfernen.\"9 Selten ist die Verfahrensweise im Umgang mit kritischen Geistern an der Universität in solcher Klarheit formuliert worden.Als sich die Schwierigkeiten in der Tschechoslowakei abzuzeichnen begannen, reagierte die SED-Führung wie stets mit dem Ausbau des Unterdrückungs- und Disziplinierungsapparates. Am 10. Januar 1968 unterzeichnete der Stellvertretende Minister für Staatssicherheit, Generalleutnant Beater, die \"Durchführungsanweisung Nr. 1\" zu der oben zitierten \"Dienstanweisung Nr. 4/66\" (Dokument Nr. 3).Am 2. September 1968, also etwa zwei Wochen nach der Invasion der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei, erging ein Schreiben Mielkes an die Bezirksverwaltungen des MfS, in dem unter Berufung auf die angeführten Dienstanweisung 4/66 und die Durchführungsanweisung Nr. 1 zu dieser Dienstanweisung vom 10. Januar 1968 Maßnahmen zur \"Abwehr feindlicher Handlungen an den Hoch- und Fachschulen\" angeordnet werden (Dokument Nr. 4). In den Tagen nach dem 21. August 1968 hatte es eine Reihe von kleineren Widerstandsaktionen gegeben, bei denen Oberschüler und Studenten maßgeblich beteiligt gewesen waren. Diese Aktionen gefährdeten nicht die Macht der SED. Trotzdem fühlte sich die Parteiführung veranlaßt, mit einem deutlichen Anziehen der Repressionsschraube zu reagieren. Hinzu kam offenbar das Bedürfnis, nun mit allen tatsächlichen und vermeintlichen Sympathisanten des Prager Frühlings abzurechnen, die man aus außenpolitischen Rücksichten bis zum 21. August schonend behandelt hatte.3. Über die Humboldt-Universität brach im September 1968 das Unwetter herein. Am 2. September forderte der Dekan der Philosophischen Fakultät die Entlarvung der inneren und äußeren Konterrevolution, die getarnt als sozialistische Demokratie auftrete. Am 18. September geriet auf einer Aktivtagung der Kreisleitung der SED erstmals die neugegründete Sektion Geschichte ins Schußfeld. \"Wann reihen sich die Berliner Historiker in die Kampffront gegen den Revisionismus ein?\" wurde im Referat des 1. Sekretärs der Kreisleitung demagogisch gefragt.! 0 Zwei Assistenten, Waltraud Wiese und Matthias Springer, hatten sich geweigert, eine Resolution zur Begrüßung der angeblichen Hilfsaktion zu unterzeichnen. Ein dritter Assistent, Wolfgang Eggert, war wegen seiner ablehnenden Äußerung über den Einmarsch von Kollegen denunziert worden. Doch schon im Vorfeld der tschechoslowakischen Ereignisse war die allgegenwärtige Staatssicher-9 Vgl. Dokument Nr. 3. S. 9. 10 Gespräch mit Günther Vogler am 13.6.1992. 202 JHK 1993Dokumentationheit auf eine spezielle Seminargruppe aufmerksam geworden. Im Juli 1968 widerfuhr dem Studenten der Sektion Geschichte, Reinhard Kusch, die seltene Ehre, zum Gegenstand einer sogenannten Einzel-Information zu werden (Dokument Nr. 5). Wer auch immer der Denunziant gewesen sein mag - ein Student oder der namentlich nicht genannte Seminargruppenbetreuer -, er hat ganz offensichtlich das Interesse der höchsten Obrigkeit auf die Studentengruppe gelenkt. Nach Beginn des Semesters im September 1968 suchte man einen Vorwand, eine Kampagne gegen die verdächtigen Studenten zu eröffnen. Man fand einen geeigneten Anlaß in einem Papier mit dem unverfänglichen Titel \"Arbeitsplanentwurf der FDJ-Leitung der Gruppe Hist/Dipl. III/1\" (Dokument Nr. 6). Man muß diesen Arbeitsplan, der sich auf den ersten Blick nicht von tausenden ähnlicher Papiere unterscheidet, dreimal lesen, um die inkriminierte Stelle zu finden. So ist in dem Papier davon die Rede, wie wichtig \"Diskussionen einer Reihe von Grundfragen\" wären. \"Ziel solcher Diskussionen\", heißt es dann, \"soll nicht das Erreichen einer vollkommen einheitlichen Meinung sein\" (Dokument Nr. 6). Einige Sätze aus diesem Arbeitsplan wurden am 17. Dezember 1968 im Referat der Kreisleitung der SED willkürlich aus dem Zusammenhang gerissen und als Beleg für die konterrevolutionären Umtriebe an der Sektion Geschichte zitiert (Dokument Nr. 7).Die Rede des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung machte deutlich, daß es nicht um die vier Studenten ging, die mehr oder weniger unschuldig in ihr Arbeitsprogramm geschrieben hatten, man müsse nach \"allgemeinen Grundsätzen und Prinzipien\" suchen. In dem Referat wurde gegen \"unpolitisches Spezialistentum\", gegen Liberalismus und Selbstzufriedenheit gewettert. Es sollte offenbar eine großangelegte Hexenjagd eingeleitet werden.In ihrer panischen Angst lieferte die Sektionsleitung und die Parteileitung der Sektion Geschichte vier Studenten ans Messer. Der zitierte Jahresarbeitsplanentwurf wurde ihnen zum Verhängnis. Am 22. November gab der Rektor Karl-Heinz Wirzberger dem Sektionsdirektor Günter Vogler die mündliche Weisung, die \"... Dinge aus der Welt zu schaffen\". 11 Beide bangten um ihre Posten und wollten in einem Akt vorauseilenden Gehorsams die Parteiobrigkeit gnädig stimmen. Am 6.Dezember fanden die Disziplinarverfahren statt, die für drei der Beschuldigten, Frank-Rainer Mützel, Reinhard Kusch und Reinhardt Eigenwill, mit der Relegation von der Universität endeten, für den vierten, Wolfgang Klein, mit einem einjährigen Ausschluß vom Studium. Für den erwähnten Seminargruppenbetreuer - in DDR-Universiäten eine Art Klassenlehrer -, für den verantwortlichen Sekretär der SED-Grundorganisation sowie den damaligen Sektionsdirektor blieb der Vorfall eine Episode ihrer Karriere; für die vier relegierten Studenten - die geopfert wurden wie die Bauern in einem Schachspiel - waren die Vorgänge im Herbst und Winter 1968 ein schwerwiegender Eingriff in ihre Lebensbahn.4. Im Herbstsemester 1969 zogen wiederum \"Besondere Vorkommnisse\" die Aufmerksamkeit der Abteilung Wissenschaft im ZK der SED auf die Humboldt-Universität. In einer der obligatorischen \"Gewi-Vorlesungen\", an der ungefähr 140 Studenten verschiedener geisteswissenschaftlicher Fächer des 2. Studienjahres teilnahmen, \"überreichte11 Ebenda. Eckert/Günther/Wolle: VerfolgungskampagnenJHK 1993 203[eine Studentin] dem Dozenten während der Veranstaltung ein Flugblatt, das sie unter ihrem Tisch gefunden hatte\" (Dokument Nr. 8).12Am 8. Dezember 1969 wiederum meldet das Ministerium für das Hoch- und Fachschulwesen in Gestalt des Stellvertreters des Ministers Prof. Schirmer der ZK-Abteilung Wissenschaften wiederum seine Maßnahmen angesichts der \"bekannten Vorfälle an der Humboldt-Universität\": Dienstbesprechung des Ministers am 1. 12. 1969, Beratung des Staatssekretärs mit den Abteilungsleitern am 5. Dezember 1969, Beratung mit den Rektoren der Universität am 12. Dezember 1969 ... Der Rektor soll über die Einschätzung der politisch-ideologischen Lage unter den Studenten berichten und eingeleitete Maßnahmen zur Verstärkung der politisch-ideologischen Arbeit einleiten\".l3 Er soll ferner die politisch-ideologische Lage und \"den Stand der Leitungstätigkeit in den Sektionen Geschichte, Philosophie/Germanistik und Ästhetik/Kulturwissenschaften\" untersuchen und dem Ministerium \"Schlußfolgerungen\", Maßnahmen zur Verbesserung der Leitungstätigkeit und zur besseren Durchsetzung der Führungsrolle der Partei vorlegen. Das \"Lenin-Aufgebot\", eine Propaganda-Kampagne zur Durchsetzung der Politik und Führung der SED anläßlich des einhundertsten Geburtstags von Lenin im Jahre 1970, sollte so der Minister an seine Partei - \"eine entscheidene Wende in der politisch-ideologischen Arbeit herbeiführen\"_ 14Am 29. Januar 1970 wurden wieder \"Schmierzettel in der Größe DIN A 5 mit dem Inhalt \'Lenin erwache - Ulbricht verschwinde\' in der Kommode, Unter den Linden, die vornehmlich von Studenten der Pädagogik und Philologien/Germanistik genutzt wird, gefunden\".15 Weiterhin wurden zur selben Zeit \"plakatähnliche größere Zettel\" mit dem Satz gefunden: \"Entlarvt unter schärfstem Lupenglas die rechte Praxis bei linker Phrase Majakowski\". In dem selben Schreiben des amtierenden Rektors der Universität vom 30. Januar 1970, deklariert als \"Vorabinformation\", wird dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen gemeldet: \"Die Genossen der Sicherheit sind von uns gestern verständigt worden und haben alle notwendigen Maßnahmen eingeleitet. Unter den gegenwärtigen Bedingungen möchten wir diese Vorgänge weitgehend vertraulich behandeln, um nicht dem Gegner neue Ansatzpunkte für neue Störaktionen zu geben.\" 16Doch solche Flugblattaktionen waren die Ausnahme. Die hysterischen Kampagnen der SED und der FDJ richteten sich eher gegen einen eingebildeten als gegen einen tatsächlichen Gegner. Sie dienten vor allem der Einschüchterung und Disziplinierung der Studenten und Wissenschaftler. Deswegen wurden immer wieder staatsfeindliche Gruppen entlarvt, Konterrevolutionäre dingfest gemacht und revisionistische Tendenzen aufgespürt. Es fanden Diffamierungskampagnen statt, in denen die absonderlichsten Vorwürfe mit großer Ernsthaftigkeit zu Papier gebracht und zum Gegenstand oft stundenlanger Verhandlungen gemacht wurden. Manche hatten Glück und kamen mit einer re-12 Schottlaender, Rainer: Das teuerste Flugblatt der Welt. Dokumentation einer Großfahndung des Staatssicherheitsdienstes an der Berliner Humboldt-Universität. Eigenverlag Schottlaender, Berlin 1993.13 Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, Stellvertreter des Ministers, Prof. G. Schirmer, an die Abteilung Wissenschaften im ZK der SED, Dr. Martin, 8.12.1969, ZPA SED, IV A 2/9/04/389.14 Ebenda. 15 Vorabinformation des amtierenden Rektors der Humboldt-Universität, Professor Rohde, an die amtie-rende Ministerin für Hoch- und Fachschulwesen, Professor Oeser, 30.1.1970, Bundesarchiv Potsdam, DR 3, 3255. 16 Ebenda. 204 JHK 1993Dokumentationlativ bedeutungslosen Strafe davon, für andere waren solche Kampagnen das Ende der beruflichen Laufbahn, sie gerieten ins soziale Abseits oder ins Gefängnis. Die kläglichste Figur allerdings gaben jene Studenten ab, die sich zu Zuträgern der Parteiobrigkeit machten, die zu Denunzianten ihrer Kommilitonen wurden und mit gebrochenem Rückgrat die Karriereleiter des SED-Staates zu erklimmen begannen.Im Herbst 1971 spitzten sich die Ereignisse an der Sektion Geschichte der HumboldtUniversität erneut zu. Die Staatssicherheit begann im Juni 1971 mit den Ermittlungen, nachdem sie bei einer routinemäßigen Postkontrolle einen Brief gefunden hatte, in dem der Absender den Adressaten in Westberlin um einen Besuch bat, um weiteres zu verabreden.17 Daraufhin wurden von der Stasi \"Sonderleerungen\" von Briefkästen in der Wohngegend des Absenders veranlaßt, bei denen weitere Briefe, u.a. an den RIAS in Westberlin, herausgefischt wurden. Das Belastungsmaterial reichte im August 1971 zur Verhaftung des Geschichtsstudenten.In den Vernehmungen sagt dieser aus, sein Freund habe ihm von Studentinnen der Sektion Geschichte erzählt, die er als \"oppositionellen Kreis\" bezeichnete und zu denen die Studentinnen Wohlers, Martens und Günther gehörten, die sehr zusammenhalten und sich selbst als \"dufte Truppe\" bezeichnen. \"Um die tatsächliche Haltung nach außen hin zu verbergen und ein gutes Ansehen zu genießen, waren die Gruppenmitglieder ausersehen, Funktionen in der FDJ auszuüben.\" Von dem genannten Freund war dem verhafteten Studenten laut Vernehmungsprotokoll vom 20. August 1972 weiter mitgeteilt worden, daß alle drei Studentinnen anläßlich der Ereignisse in der DDR im August 1968 \"kräftig mitgemischt\" hätten, indem sie sich aktiv an der Verbreitung von gegen die militärischen Maßnahmen gerichteten Flugblättern beteiligten. Es hätten angeblich Zusammenkünfte in Privatwohnungen der Studentinnen stattgefunden. Dort wurden - seines Wissens - \"Diskussionen über die gelesenen politischen Schriften und hierbei gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR gerichtete Auffassungen vorgetragen ... Zum Entstehen der Gruppe (habe) auch der regelmäßige Besuch der Veranstaltungen der Evangelischen Studentengemeinde beigetragen.\" Ausgangspunkt sei die Studentin Günther gewesen, deren Vater in Caputh, Kreis Potsdam Pfarrer ist, sagt die Niederschrift. In Vernehmungsprotokollen vom Oktober 1971 wird als Quelle der angeblichen Informationen aus zweiter Hand nun eine der erwähnten, ihm selbst bekannten Studentinnen genannt. Von ihr hätte er sich auch Bücher geliehen (Dokument Nr. 9).Diese Aussagen waren für die Stasi ausreichend, um Ermittlungen einzuleiten. Zunächst wurde der Freund des Studenten verhaftet, dessen Erzählungen Belastungsmaterial geliefert hatten, am 11. Januar Mechthild Günther, und im selben Monat wurden dreizehn weitere Studenten aus ihren Heimatorten nach Berlin verbracht und dort stundenlang verhört. Hausdurchsuchungen und weitere Vernehmungen schlossen sich an. An die SED-Leitung der Sektion Geschichte erging die Mitteilung, daß es an der Sektion zu einer \"Konzentration feindlicher bzw. negativer Kräfte\" gekommen sei. Insgesamt 15 Studenten des 5. Studienjahres hätten \"staatsfeindliche Hetze\" betrieben und antisozialistische Positionen entwickelt (Dokument Nr. 10). Die alarmierende Wirkung dieser Mitteilung hatte mehrere Gründe. Die Studenten der Geschichte der Humboldt-Universität galten als besonders ausgewählte und im Hinblick auf ihre ideologische Linientreue17 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die persönliche Akteneinsicht von Mechthild Günther in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Sie war in der Bezirksverwaltung Berlin des MfS unter dem Operativvorgang \"Student\" (Aktenzeichen 6593/73) erfaßt. Eckert/Günther/Wolle: VerfolgungskampagnenJHK 1993 205genau überprüfte Kader.18 Bereits das bloße Vorhandensein \"feindlicher Kräfte\" mußte die Funktionäre aufschrecken. Handelte es sich doch nicht um einen vereinzelten Fall, sondern um fast zwei vollzählige Seminargruppen, die unter den Einfluß des \"Klassenfeindes\" geraten waren. Mit der Wahl der Studentin Mechthild Günther zur FDJ-Gruppensekretärin im Jahre 1970 schien die staatsfeindliche Gruppe bereits den \"langen Marsch durch die Institutionen\" angetreten zu haben.So wertete die SED-Kreisleitung der Humboldt-Universität die Ereignisse als \"ernstesten Vorfall in der Geschichtswissenschaft der Republik überhaupt\" .19 Auf Anweisung der Kreisleitung wurde sofort eine Arbeitsgruppe zur Aufklärung der Vorfälle gebildet. Diesem Gremium gehörten der Sektionsdirektor Professor Joachim Streisand, der stellvertretende Sekretär der Grundorganisationsleitung der SED, Horst Schützler, der Direktor für Erziehung und Ausbildung, Eberhard Trczionka, sowie der stellvertretende Sekretär der FDJ-Grundorganisationsleitung, Horst Riede!, an. Es wurde die Auflösung der betreffenden FDJ-Gruppe und die Einleitung von Verbandsverfahren verfügt. Dann galt es, mit der Bestrafung der beim MfS auffällig gewordenen Studenten ein Exempel zu statuieren. Man war sich darüber einig, daß die Ursachen für das Vorkommnis nur aus der politisch-ideologischen Gesamtsituation der Sektion Geschichte zu erklären war (Dokument Nr. 12). Eine schier endlose Folge von FDJ- und Parteiversammlungen, von schriftlichen Stellungnahmen, Selbstbezichtigungen und Denunziationen begann. Als treibende Kraft im Zusammenspiel von SED, FDJ und \"staatlicher Leitung\" trat die Parteileitung unter Peter Pankau in Erscheinung. Die Sektionsleitung spielte nur eine untergeordnete Rolle und geriet schließlich selbst ins Kreuzfeuer der Kritik.Der Parteisekretär Peter Pankau übernahm während dieser Auseinandersetzungen die Rolle des inquisitorischen Scharfmachers. Auf einer Versammlung der Grundorganisation der SED prangerte er zunächst die \"abweichlerischen\" Studenten an.20 Ursache für ihre feindliche Haltung sei der westliche Einfluß, der aber nur durch die mangelhafte Erziehungsarbeit einiger Lehrkräfte habe wirken können. Pankau warf diesen Hochschullehrern Individualismus, Subjektivismus, Karrieredenken, nicht ausreichende erzieherische Konsequenz in der ideologischen Arbeit, unzureichende Kaderpolitik und die ungenügende Anerkennung des Primats der Parteipolitik gegenüber der Wissenschaft vor. Er ordnete die Ereignisse in die von Erich Honecker propagierte \"Verschärfung des ideologischen Klassenkampfes\" ein. Mit dem Hinweis auf die Aktivitäten der Staatsicherheit drohte er allen Seiten. Dabei scheute er nicht davor zurück, einzelne Angestellte der Universität aufgrund ihrer bereits erfolgten schriftlichen Selbstkritik vom Rednerpult aus anzuklagen. Er beschuldigte den Sektionsdirektor Streisand, den Überblick verloren und seine erzieherischen Aufgaben vernachlässigt zu haben. Seine Rede gipfelte in der Forderung nach einer neuerlichen Erziehung einzelner Lehrkräfte und vor allem der Studenten durch geeignete Maßnahmen (Dokument Nr. 11 ). Abschließend verkündete er die Einsetzung einer Kommission, vor der sich die namentlich genannten Genossen für ihre Fehler verantworten sollten. Zur Maßregelung der noch nicht inhaftierten Studenten gab er die Einsetzung einer universitären Disziplinarkommission bekannt.18 Eckert, Rainer: Entwicklungschancen und -barrieren für den geschichtswissenschaftlichen Nachwuchs in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 42 (1992) 17-18. S. 28-34.19 Rede des Sekretärs der SED-Grundorganisation der Sektion Geschichte, Dr. Peter Pankau, 29.3.1972, Handakte des Instituts für Geschichtswissenschaften.20 Dokument Nr. 11. S. 1. 206 JHK 1993DokumentationDas Verhalten der Lehrkräfte während dieser Ereignisse reichte vom blanken Opportunismus bis zu Forderungen nach einer weiteren Verschärfung der repressiven Maßnahmen. Versuche, zu relativieren oder die hysterische Atmosphäre zu entspannen, sucht man in den Dokumenten vergeblich. Kurt Pätzold verlangte beispielsweise \"studienverschärfende Sonderregelungen\" (Dokument Nr. 13). Auch der Sektionsdirektor Streisand zeigte sich der Partei willfährig und reichte zwei Tage nach der öffentlichen Kritik durch Pankau die geforderte Stellungnahme ein. In dieser wie in anderen ist die Grenze zwischen Selbstkritik und Anschwärzung anderer Kollegen fließend (Dokument Nr. 14).Das entwürdigende Schauspiel der kollektiven Erniedrigung wiederholte sich dann vor der erwähnten SED-Kommission.21 Die Delinquenten erhielten unterschiedlich schwere Parteistrafen. Allerdings wurde kein SED-Genosse von der Universität entfernt oder dauerhaft an seinem beruflichen Fortkommen gehindert.Jene Studenten, die weder Mitglieder der SED waren noch aus der Funktionärsschicht stammten, waren vor der Disziplinarkommission einem weit schärferen Druck ausgesetzt.22 Vorgeworfen wurden ihnen hier die Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft: das Lesen von feindlicher Literatur, Sympathie mit der Konterrevolution in der CSSR, vorbereitende Gespräche zur Republikflucht und insgesamt mangelnder Klassenstandpunkt. \"Niemand mag glauben, auf einem billigen Wege irgendeiner Stellungnahme [...] davonzukommen,\" hatte Pankau gedroht (Dokument Nr. 11). Dies bewahrheitete sich im Verlauf der Disziplinarverfahren. Ein Teil der Mitglieder der Disziplinarkommission stand selbst unter dem Druck von Parteiverfahren und sah in einer unnachgiebigen Haltung gegenüber den Studenten eine Chance, Linientreue unter Beweis zu stellen. Beschimpfungen und Einschüchterungen bestimmten den Verlauf der Verfahren. Sachliche Argumente und der Verweis auf geltende Rechtsnormen wurden als gegenstandslos von Tisch gewischt. Allen Beteiligten war klar, daß hier ein politisches Verfahren stattfand, dessen Urteil von vornherein feststand.23 Tatsächlich entsprachen die Entscheidungen der Disziplinarkommission entsprachen den \"Empfehlungen\" des Staatssicherheitsdienstes. 24Einige Wochen später wurden die Studenten Johannes Haack und Peter Timm wegen des \"Widerspruchs zwischen persönlichem Verhalten und den Aufgaben eines Studenten an einer sozialistischen Universität\" für zwei Jahre von der Universität ausgeschlossen bzw. relegiert. Timm wurde kurze Zeit darauf verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Andere Studenten entgingen einem förmlichen Disziplinarverfahren, indem sie sich \"freiwillig\" zu einer \"Bewährung in der Produktion\" verpflichteten. Nach massiven politischen Denunziationen durch zwei Kommilitoninnen wurde der Student Stefan Wolle gezwungen, die Universität zu verlassen.25 Das gleiche Schicksal traf die Studen-21 Mitglieder der Kommission waren: Prokop, Zückert, F. Rose, Naß, Hausner, Grünert. Aussprachen fanden statt mit: Müller-Mertens, Brachmann, Trczionka, Köller, Maskolat, Wiese, Mokry, Zugt, Gebauer, Schneider, Lamberz, Hofmann.22 Mitglieder der Disziplinar-Komrnission waren u.a. Maetzing (Vorsitz), Streisand, Vogler, Brachmann, Maskolat, Hoffmann, Schuster (FDJ), Torke (FDGB), Gäste: Müller-Mertens, Stulz, Trczionka, Ließ.23 Die Studenten Schäfer und Martens wurden für zwei Jahre relegiert, Morsbach für ein Jahr, Klinze! erhielt einen Verweis, Günther und Wohlers wurden in Abwesenheit, da sie sich in Untersuchungshaft befanden, auf Lebenszeit relegiert.24 Parteiinforamtion, Bericht des MfS vom 28.2.1972, OV \"Student\". Vgl. Anm. 16.25 Mitteilung an die Parteileitung der GO Geschichte von Janine Haschker, 25.11.1971, Handakte Institut für Geschichtswissenschaften. Eckert/Günther/Wolle: VerfolgungskampagnenJHK 1993 207ten Ulrich Geyer und Edda Voigt. Die Maßnahmen der Universität waren in der Regel begleitet von Bespitzelungen und Erpressungsversuchen des MfS, denen z.B. der Student Rainer Eckert ausgesetzt war, nachdem er die Universität verlassen hatte. Er stand bereits seit 1970 als Operativer Vorgang \"Demagoge\" unter der Observation der Staatssicherheit.26Zur Vervollständigung noch ein Wort zu den Helfern der Staatssicherheit und der Justizorgane. In der Verhandlung gegen Erika Wohlers wegen staatsfeindlicher Hetze vor dem Stadtgericht Berlin vom 16. bis 18. September 1972 trug die vom Gericht als Wissenschaftlerin bezeichnete Frau Eva Schubert ein Gutachten zum Charakter der Hetzliteratur der in der Anklage aufgeführten Bücher vor, daß sich hauptsächlich mit den Veröffentiichungen Alexander Solschenyzins beschäftigte.Weiterhin hat ein promovierter Philosoph der Sektion Marxismus-Leninismus als Inoffizieller Mitarbeiter für spezielle Einsatzgebiete (IME), im direkten Auftrag der Staatssicherheit speziell den Kontakt zu einer Studentin unter Anwendung einer Legende aufgenommen, um für das MfS Informationen aus dem Kreis der durch die Verhaftungen bereits verunsicherten Studenten zu beschaffen. Sein Deckname lautete \"Tiger\", er war als Schürzenjäger und als extrem geltungsbedürftig bekannt. Später wurde er Professor.Der Geschichtsstudent, der unter dem Druck der Verhöre die drei Studentinnen belastet und dadurch die Lawine ins Rollen gebracht hatte, wurde strafrechtlich verurteilt und Ende 1972 aus der Haft entlassen. Er arbeitete dann in der Universitätsbibliothek, wurde 1974 zum Fernstudium Geschichte an die Humboldt-Universität delegiert und erhielt 1976 das Abschlußzeugnis. Für das Ministerium für Staatssicherheit arbeitete er als Inoffizieller Mitarbeiter unter dem Decknamen \"Schreiber\" und berichtete u.a. über seine Kolleginnen und Kollegen am Museum für Deutsche Geschichte in Berlin. Vom damaligen Direktors und nachmaligen Sektionschefs Dr. Ingo Materna betreut, durfte er schließlich sogar promovieren. Seine Spitzelberichte wurden in den Stasi-Unterlagen aufgefunden. 1973 wurde der Operative Vorgang \"Student\" abgeschlossen und zu den Akten gelegt.5. Das SED-Regime bewies mit solchen Verfolgungskampagnen, daß es in der Lage war, den geringsten Widerstand im Keime zu ersticken. Viele Professoren, Assistenten und Studenten machten sich dabei zu Handlangern der Unterdrückung. An den Universitäten herrschte schließlich Ruhe und Ordnung. Aber es war eine Friedhofsruhe, die jede freie geistige Regung erstickte. Notgedrungen zerstörte die SED dabei das intellektuelle Potential, das sie gebraucht hätte, um ihr System effizienter und flexibler zu gestalten. Die wissenschaftlichen Einrichtungen der DDR glichen schließlich einer psychischen Trümmerlandschaft. Als das Volk im Herbst 1989 auf die Straße ging, herrschte an den Universitäten und Akademieinstituten verwirrtes Schweigen. In der Phase des Zusammenbruchs der DDR waren diese Institutionen nicht einmal zu einer Scheinerneuerung fähig. Lethargisch erwarteten sie das Urteil der neuen Obrigkeit. Ein Schlüssel für dieses Verhalten liegt in den sechziger und siebziger Jahren, als jedes kritische und selbständige Denken von der SED-Führung erfolgeich unterdrückt wurde.26 Archiv des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Außenstelle Potsdam, OV \"Demagoge\". 208 JHK 1993DokumentationDokument Nr. lMinisterium für Staatssicherheit Der Minister15. Mai 1966 VVS MfS 008-366/66BEFEHL NR. 11/66 ZUR POLITISCH-OPERATIVEN BEKÄMPFUNG DER POLITISCH-IDEOLOGISCHEN DIVERSION UND UNTERGRUNDTÄTIGKEIT UNTER JUGENDLICHEN PERSONENKREISEN DER DDRDie Mehrheit der Jugend in der DDR nimmt aktiven Anteil beim umfassenden Aufbau des Sozialismus und zeigt auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens vorbildliche Leistungen. Diesen Entwicklungsprozeß versucht der Gegner zu stören, um junge Bürger der DDR dem Einfluß der sozialistischen Erziehung zu entziehen, sie zur Passivität zu verleiten, den Zusammenschluß negativer Kräfte unter Anleitung von Organisatoren feindlicher Handlungen zu fördern mit dem Ziel, kriminelle und staatsfeindliche Handlungen zu provozieren und auszulösen.Vorkommnisse der letzten Zeit und der hohe Anteil jugendlicher Bürger bis zu 25 Jahren an kriminellen und staatsfeindlichen Handlungen zeigen, daß die Sicherung und der Schutz der Jugend in der DDR vor feindlichen Einflüssen von entscheidender Bedeutung in der politisch-operativen Arbeit der Organe des Ministeriums für Staatssicherheit ist und von allen Mitarbeitern unseres Organs mit großem Verantwortungsbewußtsein und in umsichtiger Weise zu lösen ist.In Auswertung der von Partei und Regierung erlassenen und grundsätzlichen Beschlüsse und Maßnahmen zur Sicherung der Durchführung der sozialistischen Jugendpolitik in der DDR ist eine allseitige Verbesserung der politisch-operativen Arbeit zur Entlarvung und Bekämpfung der Feindtätigkeit unter der Jugend durch die Organe des MfS zu erreichen:Zur Sicherung der sich daraus ergebenden politisch-operativen Aufgaben befehle ich: Die Leiter der Bezirksverwaltungen [...] haben zu gewährleisten, daß - von allen Linien ihres Verantwortungsbereiches politisch-operative Maßnahmen zur Lösung der Aufgaben unter jugendlichen Personenkreisen der DDR eingeleitet und durchgeführt werden, alle Erscheinungsformen der Feindtätigkeit, Vorkommnisse und die Angriffsrichtungen des Gegners unter jugendlichen Personenkreisen ständig erfaßt, analysiert und ausgewertet werden, - eine exakte Koordinierung und Abgrenzung der einzuleitenden und durchzuführenden Maßnahmen sowohl innerhalb der Diensteinheiten im Verantwortungsbereich als auch mit den Organen der Deutschen Volkspolizei und den staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen erfolgt. (S. 1-2)Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (im folgenden: MfSArchiv), Dokumentenverwaltung Eckert/Günther/Wolle: VerfolgungskampagnenJHK 1993 209Dokument Nr. 2Minsterium für Staatssicherheit Der Minister15. Mai 1966 VVS MfS 008-365/66DIENSTANWEISUNG NR. 4/66 ZUR POLITISCH-OPERATIVEN BEKÄMPFUNG DER POLITISCH-IDEOLOGISCHEN DIVERSION UND UNTERGRUNDTÄTIGKEIT UNTER JUGENDLICHEN PERSONENKREISEN IN DER DDRDie Jugend der DDR stellt im System der psychologischen Kriegsführung einen besonderen Angriffspunkt dar. Ein koordiniertes Zusammenspiel zwischen dem Bonner Staatsapparat, den westlichen Geheimdiensten, den Agentenzentalen und Zentren der ideologischen Diversion, zwischen westdeutschen Jugendorganisationen, Film- und Starclubs, kirchlichen Institutionen, Rundfunk, Presse und Fernsehen u.a. ist darauf ausgerichtet, die Jugend der DDR vom Einfluß der sozialistischen Ideologie zu isolieren, in die Passivität zu drängen, eine Atmosphäre der allgemeinen Unsicherheit und zeitweilig in bestimmten Territorien Bedingungen zu schaffen, die zu Zusammenrottungen und Ausschreitungen Jugendlicher führen sollen. (S. 3)Ausgehend von der Einschätzung der politisch-operativen Situation unter jugendlichen Personenkreisen und den gegenwärtigen Erscheinungsformen der Feindtätigkeit weise ich an: I. Arbeit mit IM1. Zur gründlichen Einschätzung der politisch-operativen Situation unter jugendlichen Personenkreisen, zur rechtzeitigen Erkennung und Verhinderung feindlicher Handlungen Jugendlicher, zur richtigen Einschätzung der Angriffsrichtung des Gegners sowie zur Einleitung wirksamer vorbeugender Abwehrmaßnahmen sind verstärkt Werbungen von inoffiziellen Mitarbeitern unter diesen Personenkreisen durchzuführen. 2. Alle operativen Linien des MfS, der Bezirksverwaltung, Verwaltungen und Kreisdienststellen haben bei den Werbungen davon auszugehen, daß vor allem solche IM geworben werden, die in der Lage sind, in die Konspiration des Gegners einzudringen und die aufgezeigten politisch-operativen Schwerpunkte und Gruppierungen zu bearbeiten. Die Kandidaten sind vorrangig unter Kreisen Haftentlassener, Rückkehrer und Neuzuziehender, politisch Schwankender, jugendlicher Studenten, Anhänger westlicher Dekadenz, gefährdeter und krimineller Gruppierungen jugendlicher Personen und kirchlich gebundener Jugendlicher auszuwählen. 3. Aufgrund der Tatsache, daß eine Anzahl Jugendlicher unter 18 Jahren staatsfeindliche bzw. kriminelle Handlungen begehen, ist es erforderlich, auch solche Personen zu werben, die guten Kontakt zu jugendlichen Personen unter 18 Jahren haben bzw. herstellen können. [...] (S. 9a- l 9) II. Bearbeitung operativer Materialien und Vorgänge 1. Operative Materialien und Vorgänge, in denen Jugendliche bearbeitet werden, sind schnellstens abzuschließen. Alle Hinweise über feindliche Handlungen Jugendlicher (als Einzelpersonen und in Gruppen) sind intensiv zu bearbeiten und die Tatbestände allseitig zu klären. Es ist zu verhindern, daß von jugendlichen Personen während der Zeit der Bearbeitung neue Verbrechen bzw. Vergehen begangen werden. 210 JHK 1993Dokumentation2. Auf Grund des engen Zusammenhangs zwischen kriminellen und staatsgefährdenden Delikten bei jugendlichen Tätern ist in Zusammenarbeit mit der Volkspolizei zu sichern, daß eine intensive Bearbeitung krimineller und gefährdeter Gruppierungen jugendlicher Personen erfolgt. Alle bestehenden und sich entwickelnden negativen Gruppierungen jugendlicher Personen sind ständig zu erfassen, ihr Charakter aufzuklären und Maßnahmen zur kurzfristigen Zersetzung und Auflösung einzuleiten und mit Hilfe staatlicher und gesellschaftlicher Organisationen soweit als möglich ihre Tätigkeit in positive Bahnen zu lenken. Es sind vor allem folgende Gruppierungen durch das MfS zu bearbeiten, bzw. es ist bei den von der VP [Volkspolizei] oder der Trapo [Transportpolizei] bearbeiteten Ermittlungsverfahren und operativen Materialien durch die Hauptabteilungen VII oder XIX - soweit es sich um Ermittlungsverfahren des Arbeitsgebietes II der Kriminalpolizei handelt, durch die Hauptabteilung IX - zu sichern, daß jederzeit ein unmittelbarer Einfluß möglich und bei Notwendigkeit die Übernahme durch das MfS gewährleistet ist: - Untergrundgruppen mit staatsfeindlichen Konzeptionen und festen Organisationsformen (z.B. Vorbereitung von Grenzdelikten, illegaler Waffenbesitz, anonyme und pseudonyme Feindtätigkeit, Vorbereitung und Durchführung terroristischer Handlungen, Vorbereitung der politisch-ideologischen Diversion usw.); - Gruppierungen kriminell angefallener Jugendlicher. Bei diesen ist teilweise zu verzeichnen, daß keine festen Organisationsformen vorhanden sind. Sie bilden auf Grund ihrer labilen politischen und moralischen Haltung eine Basis zur Vorbereitung und Durchführung staatsfeindlicher Verbrechen. - Gruppierungen gefährdeter Jugendlicher. Dazu gehören solche Jugendliche, die sich bewußt oder unbewußt vom sozialistischen Erziehungsprozeß isolieren und damit für die politischeideologische Diversion des Gegners besonders empfänglich werden. Es kommt besonders darauf an, diese Kategorie zu erfassen und solche politisch-operativen Maßnahmen einzuleiten, welche die Einbeziehung dieser Personen in den sozialistischen Erziehungsprozeß gewährleisten. [...] (S. 11-13) IV. Kontrolle und Absicherung operativer Schwerpunkte [...] Studentische Jugend Durch geeignete Maßnahmen ist, insbesondere durch eine qualitative und quantitative Erweiterung des IM-Netzes unter Kreisen der schwankenden sowie unter negativem Einfluß stehenden Studenten, zu sichern, daß politisch-operative Schwerpunkte, wie negative Konzentrationen, Kontakte, Gruppenbildungen, feindliche ideologische Plattformen und das Wirken der westlichen Dekadenz festgestellt, bearbeitet bzw. in Verbindung mit den staatlichen Organen und gesellschaftlichen Organisationen beseitigt werden. (S. 22)MJS Archiv, Dokumentenverwaltung Ecke rt/Gün ther/Wolle: VerfolgungskampagnenJHK 1993 211Dokument Nr. 3Ministerium für Staatssicherheit Stellvertreter des Ministers10. Januar 1968 VVS MfS 008/63/68DURCHFÜHRUNGSANWEISUNG NR. 1 ZUR DIENSTANWEISUNG NR. 4/66 DESMINISTERIUMS FÜR STAATSSICHERHEIT[... ]Auf Grund der versteckten Angriffe des Gegners von außen und der Aktivität einiger feindlicher Elemente im Innern ist die politisch-operative Arbeit offensiver und umfassender zu gestalten und zu intensivieren. Die politisch-ideologische Einflußnahme des Gegners auf die studentische Jugend, die Schüler der Hoch-, Fach- und Erweiterten Oberschulen und den Lehrkörper ist systematisch zurückzudrängen. Die politisch schädlichen und andere nicht im staatlichen Interesse bestehenden Kontakte sind unter Kontrolle zu bringen und zu unterbinden. [...] I. Inoffizielle Arbeit1. Zur gründlichen Einschätzung der politisch-operativen Situation unter den Studenten, Schülern und dem Lehrkörper, zum rechtzeitigen Erkennen und zur ausreichenden Beweisführung geplanter feindlicher Handlungen, negativer Konzentrationen, begünstigender Faktoren im Innern und zur Feststellung der Angriffsrichtung des Feindes sind auf der Grundlage der Analyse des inoffiziellen Netzes Maßnahmen zur zahlenmäßigen Erweiterung, politisch-idologischeen Erziehung, operativen Qualifizierung und zur stärkeren Ausnutzung des IM-Netzes durchzuführen. Die Werbung inoffizieller Mitarbeiter hat [...] vorrangig bei folgenden Personenkreisen zu erfolgen:1.1. Studenten und Schüler, die negativen Gruppierungen angehören, ihnen nahe stehen, oder die Möglichkeiten und Fähigkeiten besitzen, in solche einzudringen. [...] Dabei ist stärker als bisher Wert auf Werbungen aus den ersten Studienjahren zu legen, um eine kontinuierliche und perspektivvolle IM-Arbeit zu organisieren. Bei Notwendigkeit, Jugendliche unter 18 Jahren zur Lösung operativer Aufgaben heranzuziehen, ist vom Standpunkt der vielseitigen Formen der Zusammenarbeit mit patriotischen Kräften heranzugehen. Dabei ist der Reifegrad des Jugendlichen zu beachten und ein enges Zusammenwirken mit den Eltern, Lehrern, Lehrkörper und anderen Erziehungsberechtigten zu gewährleisten. 1.2. Assistenten, Dozenten und Professoren, die auf Grund ihrer Lehrtätigkeit einen großen Personenkreis operativ erfassen und in der Lage sind, sowohl unter den Studenten als auch im Lehr- und Verwaltungskörper operativ wirksam zu werden. Sie müssen insbesondere in der Lage sein, die raffinierten Methoden der politischideologischen Diversion zu erkennen und zu bearbeiten. Die Werbung unter diesem Personenkreis ist gleichzeitig vom Standpunkt der Absicherung der Reisekader sowie des Erkennens und Bearbeitens der feindlichen Kontaktpolitik/Kontaktfähigkeit durchzuführen. [...] 1.4. Zur allseitigen Lösung der operativen Aufgaben sind zusätzlich in den Internaten, Studentenclubs, kirchlichen Organisationen,Gaststätten, in denen vorwiegend Studenten und Schüler verkehren, und unter bekanntwerdenden Personenkreisen, 212 JHK 1993Dokumentationbesonders weiblichen Personen, die engen Kontakt zu Studenten und Schülern unterhalten, Werbungen durchzuführen. 1.5. Zur Erweiterung der operativen Möglichkeiten und der Informationsbasis des MfS sind inoffizielle Mitarbeiter aller Diensteinheiten, deren Kinder und Verwandte an den Universitäten, Hoch-, Fach- und Erweiterten Oberschulen studieren bzw. tätig sind, in die operative Aufgabestellung einzubeziehen. [...] 1.6. Um die Wirksamkeit der politisch-operativen Abwehrarbeit besonders im 1. Studienjahr zu erhöhen, sind vorhandene IM und Kontaktpersonen aller Diensteinheiten unter den vorimmatrikulierten Studenten rechtzeitig, vor Aufnahme des Studiums, der für die Universität verantwortlichen BezirksverwaltungNerwaltung zwecks Übernahme mitzuteilen, wenn andere operative Interessen dem nicht entgegenstehen. [...]Die Werbung unter Oberschülern, Studenten, Hoch- und Fachschülern muß vom Standpunkt der Bearbeitung jetziger und perspektivischer operativer Schwerpunkte unter gleichzeitiger Berücksichtigung eines inoffiziellen Einsatzes mit hohem Nutzeffekt nach dem Studium im eigenen Bereich oder im Bereich anderer Diensteinheiten erfolgen. Das erfordert eine zielgerichtete Einflußnahme auf den späteren beruflichen Einsatz unter Beachtung der bestehenden Schwerpunkte im Bereich der Politik, Ökonomie, Wissenschaft und der ideologisch-kulturell-erzieherischen Aufgaben. [...] (S. 4-7)MJS Archiv, DokumentenverwaltungDokument Nr. 4Ministerium für Staatssicherheit Der Minister2. September 1968 VVS MfS 008-619/68WEISUNG AN DIE LEITER DER BEZIRKSVERWALTUNGEN UND OPERATIVEN HAUPT- BZW. SELBSTÄNDIGEN ABTEILUNGEN DES MFSDie konterrevolutionären Versuche in der CSSR, die führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse und die sozialistische Staatsmacht zu beseitigen, sowie eine Reihe Vorkommnisse in der DDR erfordern eine noch konsequentere und umfassendere Durchsetzung der Dienstanweisung Nr. 4/66 zur politisch-operativen Bekämpfung der politischideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen und die Durchführungsanweisung Nr. l zur Dienstanweisung Nr. 4/66 über politisch-operative Maßnahmen zur Abwehr feindlicher Handlungen an den Hoch- und Fachschulen und der Sicherung ihrer planmäßigen sozialistischen Entwicklung.Unter Beachtung der vergangenen konterrevolutionären Vorgänge in der CSSR und besonders ihrer ideologischen Auswirkungen sind sofort folgende politisch-operative Maßnahmen durchzuführen.1. Unter Leitung des zuständigen Stellvertreters Operativ ist mit den verantwortlichen Mitarbeitern der Stand der Durchführung der Dienstanweisung Nr. 4/66 und der Durchführungsanweisung Nr. 1 zur Dienstanweisung Nr. 4/66 einzuschätzen und eine poli- Eckert/Günther/Wolle: VerfolgungskampagnenJHK 1993 213tisch-operative Analyse der Lehrkräfte und Studenten/Schüler an den Universitäten, Hoch-, Fach- und Oberschulen vorzunehmen.Dabei ist besonders zu beachten: - Feststellung der Kräfte, die offen oder versteckt die konterrevolutionären Vorgänge in der CSSR verherrlichen bzw. als Folge feindlicher Handlungen vorzubereiten oder durchzuführen versuchen. - Aufklärung des Charakters und operative Kontrolle der persönlichen, postalischen und anderen Verbindungen nach der CSSR und solchen sozialistischen Staaten, die gegen die Maßnahmen der Staaten des Warschauer Vertrages auftreten, sowie dem Sitz des Internationalen Studentenbundes in Prag, die zu einem großen Teil unter Ausnutzung von Ferien- und Besuchsreisen während der Semesterferien 1968 geschaffen wurden. -Kontrolle der Verbindungen mit aufgeweichten Elementen in sozialistischen Staaten. Nicht außer acht zu lassen sind bestehende Verbindungen, die der Festigung der Einheit und Geschlossenheit des sozialistischen Lagers dienen.2. Auf der Grundlage der politisch-operativen Analyse sind qualifizierte und geeignete Maßnahmen auszuarbeiten, wie - operative Kontrolle der bestehenden Kontakte und Verbindungen von Lehrkräften, Studenten und Schülern zu Einrichtungen des Hoch- und Fachschulwesens in der CSSR und dem nichtsozialistischen Ausland. Dabei sind gleichzeitig in geeigneter Weise die Maßnahmen auf solche Personen zu konzentrieren, die in letzter Zeit in der CSSR und im nichtsozialistischen Ausland weilten bzw. nach diesen Ländern aktive Kontakte und Verbindungen unterhalten. - Schaffung weiterer inoffizieller Mitarbeiter und gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit zur zielgerichteten operativen Bearbeitung und Kontrolle der Vorgänge und operativen Materialien, in denen Personen oder Personengruppen erfaßt sind, die bei besonderen politischen Ereignissen insbesondere während der Konterrevolution in der CSSR - negativ auftreten. - Einleitung wirksamer Maßnahmen als vorbeugende Tätigkeit gegenüber anfälligen Personen oder Personengruppen unter Ausnutzung des Einflusses klassenbewußter Kräfte (Eltern, Bekannte u.a.) - Durchführung von entsprechenden Maßnahmen zur Gewährleistung einer wirksamen Kontrolle der in den Universitäten, Hoch-, Fach- und Oberschulen tätigen Lehrkräfte aus der CSSR und dem nichtsozialistischen Ausland; - Durchführung von Maßnahmen zur Sicherung der Vorbereitung und Durchführung der Anfang September 1968 beginnenden Lehrgänge der vormilitärischen und militärischen Ausbildung und zur Verhinderung aller feindlicher Handlungen; - Erarbeitung auswertbarer politischer Informationen und Empfehlungen für die Partei- und FDJ-Leitungen der Universitäten, Hoch-, Fach- und Oberschulen, die es ermöglichen, vorbeugende und politisch-erzieherische Maßnahmen unter Einbeziehung aller fortschrittlichen Kräfte einzuleiten und durchzuführen.3. In Zusammenarbeit mit den Leitungskräften der Universitäten, Hoch-, Fach- und Oberschulen und den Partei- und FDJ-Leitungen sind Maßnahmen durchzuführen, die gewährleisten, daß - die Bestimmmungen über die innere Ordnung in den Universitäten, Hoch-, Fach- und Oberschulen einschließlich der Festlegungen über die Regelung des Besucherverkehrs vom Standpunkt der Erhöhung der Sicherheit überprüft und konsequent durchgeführt werden; -die Ordnung zur Sicherung der Studentenwohnheime, der Klubs und Mensen eingehalten wird; -die Ordnungen über den vorbeugenden Brandschutz, die Verhütung von Havarien, den Mißbrauch von Giften sowie von Chemikalien zur Sprengmittelherstellung konsequent durchgesetzt werden; -bei der Anreise der Studenten und Schüler zu Beginn des Studienjahres keine Schwierigkeiten in der Unterbrin- 214 JHK 1993Dokumentationgung und sozialen Betreuung eintreten, die zu negativen Handlungen oder Provokationen ausgenutzt werden könnten.4. In den entsprechend der Durchführungsanweisung Nr.1 zur Dienstanweisung Nr. 4/66 auszuarbeitenden Halbjahresanalysen sind besonders die Maßnahmen entsprechend dieser Weisung einzuschätzen und zu berücksichtigen. Zur Lösung dieser Aufgaben sind die Möglichkeiten aller operativen Linien und Diensteinheiten voll auszunutzen. (S. 1-4)MfSArchiv, DokumentenverwaltungDokument Nr. 5Ministerium für Staatssicherheit Verwaltung Groß-Berlin19. Juli 1968EINZEL-INFORMATION ÜBER NEGATIVES VERHALTEN DES STUDENTEN DER HUMBOLDT-UNIVERSITÄT ZU BERLIN, FACHRICHTUNG HISTORIKER, II. STUDIENJAHR, KUSCH, REINHARDAm 28.5.1968 trat der Student Kusch, Reinhard [...] in einer FDJ-Versammlung zu Problemen der internationalen Arbeiterbewegung mit einem provokatorischen Schreiben auf, in dem die Studenten ihren Protest zum Abriß der Ruine der Garnisonskirche in Potsdam zum Ausdruck bringen sollten.Durch den Seminarbetreuer wurde die Diskussion und die Annahme der Protestresolution verhindert.KUSCH war mit der vorgeschlagenen Lösung nicht einverstanden und brachte zum Ausdruck, daß ihm eine andere Klärung nicht genehm ist. Es käme ihm darauf an, zum Ausdruck zu bringen, daß es noch andere Ansichten in der DDR gäbe.Es muß eingeschätzt werden, daß ein großer Teil der Studenten des Seminars mit den Ansichten von KUSCH sympatisiert. Das kommt u.a. dadurch zum Ausdruck, daß während der Versammlung Fragen zur gegenwärtigen Entwicklung in der CSSR gestellt wurden, die von ihrem Inhalt her den Schluß zulassen, daß bei einem Teil des Seminars Sympathien für die Entwicklung in der CSSR vorhanden sind.So wurden folgende Fragen gestellt: - Gibt es irgendwelche Parallelen zwischen dem Zustand in der CSSR und der DDR, muß nicht auch in der DDR eine Veränderung, ähnlich wie in der CSSR, eingeleitet werden? - Gibt es nicht bei uns eine völlig einseitige Presseinformation über die Ereignisse, die an der Entwicklung in der CSSR nichts Gutes läßt? - Gab es einen Personenkult um den ehemaligen Präsidenten unserer Nachbarrepublik?Besonders für die Fragestellungen zum \"Demokratisierungsprozeß\" zeigte KUSCH eine eindeutige Sympathie. Über K. ist bekannt, daß er in der Vergangenheit schon mehrmals in ähnlicher Art und Weise provokatorisch und negativ in Erscheinung getreten ist. [...] (S. 1-2)Es ist auch bekannt geworden, daß die Parteigruppe schon mehrmals darauf aufmerksam gemacht hat über die schlechte politische Arbeit in diesem Seminar. Dazu werden Eckert/Günther/Wolle: Verfolgungskampagnen- - - - - - - - ~JHK 1993 215Meinungen bekannt, daß die staatliche Leitung nur ungenügend wirkt, um die positiven Kräfte zu stärken bzw. ihren politischen Einfluß zu verstärken. (S. 3)MJS Archiv, BV Berlin, A 1140/2, Bl. 22-24Dokument Nr. 6Humboldt-Universität zu Berlin[Oktober 1968]ARBEITSPLANENTWURF DER FDJ-LEITUNG DER GRUPPE HISTORIKER/DIPLOM UI/1[...] Was können wir tun? Hauptschwerpunkt unserer Arbeit sollte die Durchführung politischer Diskussionen im Rahmen des FDJ-Studienjahres sein. Die generellen Themen des FDJ-Studienjahres erscheinen uns für effektive Auseinandersetzungen ungeeignet, wir werden uns selbst etwas einfallen lassen müssen. Neben jeweils auftauchenden Fragen der Tagespolitik ist dabei besonders wichtig die Diskussion einer Reihe von Grundfragen . über die bei uns verschiedene Auffassungen vorhanden sind. Themen dazu zu könnten sein: - Klassenstandpunkt, Parteilichkeit, Objektivität - Volksmassen und Persönlichkeit in der Geschichte - Demokratie im Sozialismus - Probleme der Entwicklung der internationalen kommunistischen und Arbeiterbewegung - Entwicklungsmöglichkeiten progressiver Kräfte in kap[italistischen] Ländern - Soz[ialistischc] Informationspolitik u.a.Ziel solcher Diskussionen soll nicht das Erreichen einer vollkommen einheitlichen Meinung sein, sondern das Feststellen von Gr[u]ndsätzen und Prinzipien für eine Beurteilung der jeweiligen Problematik, wobei die Widcrspiegelung dieser Prinzipien in der Politik der SED und der Regierung besonders behandelt werden muß. [...J (S. l)Handakte Institut für Geschichtswissenschaften Humboldt-Universität zu BerlinDokument Nr. 7Humboldt-Universität zu Berlin SED-Kreisleitung17. Dezember 1968REFERAT DES 1. SEKRETÄRS DER SED-KREISLE1TUNG, HERBERT ElßRIG[... ] Seit Monaten war es bei den Historikern erforderlich, entschiedene Kritik daran zu üben, daß die Parteileitung Erscheinungen der Entideologisierung der Hochschulreform zuließ und nicht konsequent genug darum kämpfte, daß solche Grundprobleme wie die Rolle der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft im Klassenkampf unserer Zeit geklärt wurden. Drei Angehörige des wissenschaftlichen Nachwuchses bezogen falfalschPeositionen zu unseren Maßnahmen vom 21. August.[ ...] Im November erhielt der Lehrkörper eine Quittung für seine unverantwortliche Vernachlässigung der klassen- 216 JHK 1993Dokumentationmäßigen Erziehung unter den Studenten. In einer FDJ-Gruppenversammlung des 3. Studienjahres traten einige Studenten gegen die 5 Genossen dieser Gruppe mit einer Plattform auf, in der sie den politisch-ideologischen Inhalt des FDJ-Schuljahres angriffen, Diskussionen über Demokratie im Sozialismus, Informationspolitik u.a. verlangten und den Standpunkt vertraten: wörtlich \'Ziel solcher Diskussionen soll nicht das Erreichen einer einheitlichen Meinung sein.. .\' usw. [...]Abgesehen von dem angemaßten Gutachterstandpunkt dieser Studenten wird hier die Forderung nach einer pluralistischen Ideologie in unserer Gesellschaft, d.h. nach der Zulassung falscher und feindlicher Auffassungen propagiert. Und das bei HistorikerStudenten des 3. Studienjahres, die schon mehr als 2 Jahre die marxistische Geschichtswissenschaft studieren und sich mit der marxistisch-leninistischen Theorie und der Politik der Partei befaßt haben. [...] Die erwähnte Situation bei den Geschichtsstudenten ist [ein] sehr ernster Hinweis darauf, wie groß das Maß unklassenmäßiger Denkund Verhaltensweise ist. Es gibt im Prinzip keinen Bereich, an dem nicht ähnliches geschehen ist. [...]Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Bezirksparteiarchiv der SED (im folgenden: BPA SED) Berlin, IV 4/12/005Dokument Nr. 8Zentralkomitee der SED Abteilung Wissenschaften28. November 1969INFORMATIONAm 27.11. kam es in einer Vorlesung des gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudiums an der Humboldt-Universität Berlin zu einer politischen Provokation. An der Vorlesung nahmen ca. 140 Studenten des 2. Studienjahres der Sektionen - Germanistik/Philologie [...] - Geschichte, Bibliothekwissenschaft und Archäologie - Kommunikationswissenschaften und Rehabilitationspädagogik - Ästhetik und Kunstwissenschaften - Asienwissenschaften teil. Eine Studentin überreichte dem Dozenten während der Veranstaltung ein Flugblatt, das sie unter ihrem Tisch gefunden hatte. Das Flugblatt hat folgenden Text: \"KOMMILITONEN, Ist es nicht bedrückend, daß nach 20 jahren sozialistischen aufbaus die struktur unserer gesellschaft noch immer undemokratisch und autoritär ist? Es werden doch die elementarsten freiheiten unterdrückt und jede nicht opportune aktivität im keime erstickt. Zeigt sich das hier an der Uni nicht besonders deutlich in der gesellschaftswissenschaftlichen ausbildung? Es besteht doch eine tiefe diskrepanz zwischen der exakten denkweise unserer studienfächer und der pseudowissenschaftlichen lehre, die man uns jeden donnerstag predigt. Doch was können wir dagegen tun? Eckert/Günther/Wolle: VerfolgungskampagnenJHK 1993 217Wir erfahren immer wieder, daß jede offizielle diskussion auf taube ohren stößt. Diskussion untereinander? Ja, aber das genügt nicht. Wir müssen unsere forderung nach beseitigung dieser dogmatischen lehrform klar zum ausdruck bringen deshalb: GEHT NICHT MEHR ZU DIESER GE\"WI\"VORLESUNG [...] (S. 1)ZPA SED, Abt. Wissenschaften, IV A 2/904/389Dokument Nr. 9Ministerium für Staatssicherheit26. Januar 1972ÜBERGABEPROTOKOLL (FÜR BÜCHER ZWISCHEN EINEMUNTERLEUTNANT DES MINISTERIUMS FÜR STAATSSICHERHEIT UNDEINEM STUDENTEN DER HUMBOLDT-UNIVERSITÄT ZU BERLIN)[ ... ]l) Wolf Biermann: Mit Marx- und Engelszungen 2) Wolf Biermann: Die Drahtharfe 3) Robert Havemann: Dialektik ohne Dogma? 4) Milovan Djilas: Die unvollkommene Gesellschaft 5) Abram Terz: Der Prozess beginnt 6) Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit 7) Theodor W. Adorno: Ohne Leitbild 8) Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur, Band I, II, IIl 9) Herbert Marcuse: Triebstruktur der Gesellschaft 10) Herbert Marcuse: Kultur und Gesellschaft l und 2 11) Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde 12) Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch 13) Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte,Anstiftung zum Unfrieden 14) A. Mitscherlich: Versuch, die Welt besser zu bestehen 15) A. Mitscherlich: Die Idee des Friedens und die menschliche Aggressivität 16) Roger Garaudy: Marxismus im 20. Jahrhundert 17) Theodor Heuss: Die grossen Reden 18) Günter Grass: Über das Selbstverständnis (Politische Schriften) 19) Albert Camus: Verteidigung der Heimat 20) Albert Camus: Kleine Prosa 21) Frantz Fanon: Aspekte der Algerischen Revolution 22) Hans-Eckehard Bahr: Weltfrieden und Revolution(Herausgeber) 23) Uwe Johnson: Zwei Ansichten 24) Ernst Bloch: Wegzeichen der Hoffnung 25) Tintenfisch l 1968 Jahrbuch für Literatur (Westberlin) 218 JHK 199326) Tintenfisch 2 1969 27 Tintenfisch 3 1970 [...] (S. 1)MfSArchiv, OV \"Student\", Bd. 4, Bl. 1307DokumentationDokument Nr.10Humboldt-Universität zu Berlin 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Herbert Eißrig25. April 1972REFERAT ZUR 5. KREISLEITUNGSSITZUNG[...] Die KPKK [Kreispartei-Kontrollkommission] hat im Institut [für Bibliothekswissenschaften] Untersuchungen begonnen. In einer vom Sekretariat [der SED-Kreisleitung Humboldt-Universität] gegebenen Information heißt es zu den bekannt gewordenen Fällen: \"Am 2. März 1972 erhielt der 1. Sekretär der Kreisleitung Humboldt-Universität vom Ministerium für Staatssicherheit, Verwaltung Groß-Berlin, ein schriftliche Information über eine Konzentration von insgesamt 15 Studenten mit feindlichen bzw. negativen politisch-ideologischen Einstellungen und Verhaltensweisen in Seminarkollektiven des 5. Studienjahres der Sektion Geschichte (Bereich Archivwissenschaft) und des Instituts für Bibliothekswissenschaften und wissenschaftliche Information. Gegen 5 Studenten wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet (4 davon sind in Haft), die weiteren 10 sind in unterschiedlichem Maße an ernsten politischen Verfehlungen gegen unsere Republik beteiligt (9 von den insgesamt 15 sind Studentinnen).Unter dem unmittelbaren Einfluß von fünf staatsfeindlich eingestellten Studenten darunter auch eines Forschungsstudenten der Sektion Marxismus-Leninismus( hervorgegangen aus der Sektion Geschichte) und in direktem Kontakt mit gegnerischen Kräften aus dem kapitalistischen Ausland einschließlich Westberlin wurden in beiden Studentengruppen antisozialistische Positionen entwickelt und vertreten. Einzelne Studenten betrieben staatsfeindliche Hetze, diskriminierten die Staatsführung und die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR. 8 Studenten waren beteiligt an versuchter Republikflucht bzw. an deren Vorbereitung. In einem Falle gab es einen direkten Kontakt zur Hetzzentrale des RIAS. Bei Treffen in Wohnungen und Gaststätten,durch Kontakte mit Ausländern, auch Westdeutsche und solchen aus dem nichtsozialistischen Ausland (teilweise intime Beziehungen), durch Verbindungen zur \"Evangelischen\" und \"Katholischen Studentengemeinde\", ständiges Abhören und Austauschen über westliche Rundfunk-und Fernsehsendungen und vor alllem durch illegalen Bezug und Vertrieb von antisozialistischer und revisionistischer Hetzliteratur bestärkten sie sich gegenseitig in ihrer negativen Grundhaltung zur Politik von Partei und Regierung. Die positiven Kräfte wurden isoliert. Durch verschiedene Manipulationen gelang es diesen Kräften, die FDJ- Funktionen in diesen beiden Seminargruppen zu besetzen.\" (Soweit der Wortlaut der Information.) Eckert/Günther/Wolle: VerfolgungskampagnenJHK 1993 219Das Sekretariat wertet diese ernsten Vorkommnisse als Einbruch des Klassenfeindes an der Universität.[...] (S. 3-4)BPA SED Berlin, IV C-4/12/003Dokument Nr. 11Humboldt-Universität zu Berlin Parteisekretär der Sektion Geschichte Dr. Peter Pankau29. März 1972REFERAT AUF DER MITGLIEDERVERSAMMLUNG DER SED-GRUNDORGANI­ SATION (Handschriftliches Manuskript)[...] Die Parteileitung wertet die staatsfeindlichen Handlungen und Haltungen der betei­ ligten Studenten nicht als Zufälligkeit. Unsere Sektion bzw. die ehemalige Fachrichtung Geschichte hat auf diesem Gebiet ihre eigene Geschichte. Daß der Gegner nunmehr schon über Jahrzehnte wiederholt an einem wichtigen Platz der gesellschaftswissen­ schaftlichen Forschung, Erziehung und Ausbildung eindringen konnte, läßt nur den Schluß zu, daß unsere Sektion über für den Gegner günstige Bedingungen verfügen muß, die ihm eine langfristig angelegte und systematisch betriebene Feindtätigkeit unter unse­ ren Augen ermöglichen. Niemand möge glauben, daß diese Tätigkeit mit der Auf­ deckung durch unsere Staatsorgane mit Relegierungen, Exmatrikulationen, Ausschluß bzw. Streichung aus der FDJ, mit staatlichen Disziplinarmaßnahmen und parteierzieheri­ schen Konsequenzen erledigt ist. Der Klassenkampf hat sich verschärft! Da der Gegner die Kräfte des Sozialismus in der Welt realistischer einzuschätzen begonnen hat, sich bestimmten Gegebenheiten anpaßt, verläuft der Klassenkampf auf dem Gebiete der Ideologie besonders zugespitzt. Diese Tatsache hat, wie die jüngsten Vorkommnisse deutlich zeigen, an unserer Sektion ihre Auswirkungen. Alle Erfahrungen lehren: Unter dem Eindruck eingeleiteter Maßnahmen agiert der Gegner vorsichtiger oder zieht sich zurück, aber er wird wieder hervortreten, wenn es uns nicht gelingt, den ideologischen Sumpf, den Nährboden der Feindtätigkeit trockenzulegen.[ ... ] (S. 1-2)Das Ziel der Mitgliederversammlung besteht darin,[...] die erforderliche parteimäßige Atmosphäre zur grundsätzlichen Veränderungen der Lage zu schaffen und erste Konse­ quenzen im Sinne des eigenen Umdenkens zu ziehen. Zu dieser Zielstellung gehört, daß in dieser Mitgliederversammlung und ausgehend von ihr, alle Genossen mithelfen: - die Ursachen für den gelungenen Einbruch des Klassengegners allseitig aufzudecken - den Widerspruch zwischen durchaus erreichten Fortschritten in Lehre und Forschung und dem ernsten Zurückbleiben und Mißerfolgen in bestimmten Bereichen und auf verschie­ denen Gebieten zu klären - eine realistische Einschätzung der Kampfkraft der Grundor­ ganisation und des parteimäßigen Verhaltens aller Genossen zu erreichen - eine klare Marschroute für unsere weitere Arbeit abzustecken. An dieser Aufgabenstellung kommt kein Genosse unserer GO, auch der in der politischen Arbeit erfahrenste, vorbei. [... 1 (S. 3-3a) 220 JHK 1993DokumentationDie Auseinandersetzung mit dem Sozialdemokratismus ist eine kompromißlose Auf­ gabe. Wenn wir die ideologische Situation unter den Studenten und Sektionsangehörigenzu analysieren haben, so ist vor allem einzuschätzen, was sie über die Sozialdemokratie wissen und wie sie über die Regierung Brandt denken. Es dürfen keinerlei Illusionen über die Regierung Brandt und ihre proimperialistischen Rolle zugelassen werden. Jeder Genosse und darüberhinaus jeder Sektionsangehörige muß die gegenwärtigen Funktio­ nen der Sozialdemokratie kennen, braucht eine klare Erkenntnis des Klassencharakters des Sozialdemokratismus als bürgerliche Ideologie und der Grundaufgabe der Sozialde­ mokratie, die überlebte Herrschaft des Imperialismus zu verlängern, womit die Sozial­ demokratie gegen den Charakter der Epoche und die historische Grundaufgabe der Epo­ che angeht. [...] (S. 6-7)Die Dinge sind nicht akademisch zu klären. Was bisher eingeleitet wurde, ist nur der Anfang. Niemand mag glauben, auf einem billigen Wege irgendeiner Stellungnahme oder Unterschrift davonzukommen. Dafür ist die Lage zu ernst. Gleichzeitig haben wir jedoch die Pflicht, die ideologischen Ursachen bis zu Ende zu klären. Dazu gehört, daß wir uns gegenseitig offen die Meinung sagen, nicht taktieren oder diplomatisieren, nichts verschweigen, damit keine Ansatzpunkte für Wiederholungsfälle übrigbleiben. [...]Im Verhältnis zur Partei gibt es bei Vielen einen ausgeprägten Subjektivismus und Individualismus bis hin zur selbstständigen Entscheidung über die Normen des Parteile­ bens im Sinne der Teilnahme. Viele setzen die Geschichtswissenschaft nur in irgendein Verhältnis zur Politik der Partei, weil nicht bis zum Ende klar ist, daß Wissenschaft nur vom Standpunkt der Politik der Partei zu betreiben ist. Wenn wir uns Beurteilungen über Studenten oder auch Wissenschaftler ansehen, dann wird in fast allen Fällen die \"fachliche\" Arbeit und Leistung von der \"gesellschaftlichen Aktivität getrennt. Also wird die Wissenschaft von der Politik getrennt. [...] Die politische Entwicklung wurde dem Selbstlauf überlassen. [...] (S. 11-13)[...] der Sekretär der GO [war] gezwungen, im Schlußwort klar und deutlich das ganze Ausmaß und die Tiefe der Verantwortung der Hochschullehrer zu verdeutlichen. U.a. wurden die Genossen vom Parteisekretär aufgefordert, die Frage aus der Diskussion \" Für welchen Studenten ist der Hochschullehrer bereit, im Sinne des sozialistischen Staatsbewußtseins eine Bürgschaft zu übernehmen?\"In ihren Stellungnahmen zu beantworten. Bis auf einige haben das die Genossen nicht getan! Wie ist das zu werten? Ist das fehlende Einsicht? Wissen sie nichts zu dieser Frage? Warum sagt der Einzelne nicht, daß er es nicht weiß oder kann? Hat jemand dar­ über nachgedacht, warum er es nicht kann? Oder steht mehr dahinter ? Etwa Ignoranz gegenüber der politischen Notwendigkeit ? Sind es subjektive Erscheinungsvorbehalte gegenüber dem Parteisekretär oder ist es Disziplinlosigkeit? Alle diesen Fragen werden zu beantworten sein! [...] (S. 17-18)Handakte Institut für Geschichtswissenschaften Humboldt-Universität zu Berlin Eckert/Günther/Wolle: VeifolgungskampagnenJHK 1993 221Dokument Nr. 12Humboldt-Universität zu Berlin22. März 1972Sektion GeschichteDr. Horst Schützler, Stellvertretender Parteisekretär der SED-Grundorganisation Ge-schichte, Prof. Dr. Joachim Streisand, Direktor der Sektion GeschichteZWISCHENBERICHT ZU DEN VORKOMMNISSEN IM V. STUDIENJAHR[...] II. Zur Reaktion in der Sektion Nach der Bekanntgabe des Sachverhalts herrschte überall Betroffenheit. Partei- undSektionsleitung werteten die staatsfeindlichen Haltungen und Handlungen der beteiligten Studenten nicht als Zufälligkeit an unserer Sektion, sondern als Ausdruck vorhandener politischer Sorglosigkeit, ungenügender Wachsamkeit, als Mißerfolg in der Erziehung und Ausbildung der Studenten, als Schande für die Sektion, insbesondere der Genossen Hochschullehrer.Davon ausgehend wurde die Notwendigkeit eines tiefen Umdenkens, die Erarbeitung gründlicher Schlußfolgerungen und ihre entschiedene Verwirklichung, einschließlich kaderpolitischer Konsequenzen herausgearbeitet und dementsprechend die oben genannten Maßnahmen eingeleitet, wozu auch die sofortige Auseinandersetzung mit dem politisch sorglosen Verhalten der Genossen Brachmann und Trczionka (BeurteilungWohlers) gehört. Von besonderer Bedeutung sind die Stellungnahmen der Hochschullehrer, derengründliche Auswertung noch erfolgen muß. Es kann bereits jetzt gesagt werden, daß diese Stellungnahmen ein sehr unterschiedli-ches Bild zeigen. Die Stellungnahmen eines Teils der Hochschullehrer wie der Genossen Pätzold, Müller-Mertens, Grünert und des Kollegen Töpfer zeichnen sich dadurch aus, daß sie selbständig zu Schlußfolgerungen für die Arbeit der Parteiorganisation und der Sektion sowie auch für die eigene Arbeit zu kommen suchen, während andere Genossen wie Bünger, Woeller und Osburg nicht viel mehr als eine Wiederholung von Feststellungen auf der Beratung der Hochschullehrer geben. Das beweist, wie unterschiedlich das ideologisch-theoretische Niveau unserer Hochschullehrer ist und ist zugleich Ausdruck des unterschiedlichen persönlichen Engagements unserer Genossen Hochschullehrer in der Wahrnehmung ihrer Hauptaufgabe, der klassenmäßigen Erziehung der Studenten. Aus den Stellungnahmen geht einhellig hervor, daß gemeinsame Beratungen der Hochschullehrer zu den Erziehungsfragen, die bisher an der Sektion nicht stattfanden, notwendig und nützlich sind. Durchgehend wird auch die Notwendigkeit der tieferen persönlichen politisch-ideologischen Einwirkung der Hochschullehrer auf die Studenten unterstrichen und die Bereitschaft dazu erklärt, woran durch die Leitungen anzuknüpfen sein wird.Die bisher durchgeführten Versammmlungen der FDJ-Gruppen zeigen, daß sich alle Studenten von den staatsfeindlichen Haltungen und Handlungen distanzieren, daß die Diskussion zumeist sehr schleppend in Gang kam und dann relativ schnell auf die Probleme der eigenen FDJ-Gruppenarbeit überging. Dabei wurden erste Schlussfolgerungen für eine gründlichere politisch-ideologische Arbeit gezogen. 222 JHK 1993DokumentationSolche Schlussfolgerungen wurden auch in den Parteigruppenwahlversammlungen der Bereiche und Studenten, die unter dem Eindruck der Vorkommnisse standen, in sehr kritischer Weise gezogen (Parteigruppe des V. Studienjahres, Parteigruppe des Bereichs Allgemeine Geschichte, die den Rechenschaftsbericht nicht bestätigte und den Parteiorganisator ablöste).Die zur feindlichen Gruppe gehörenden Studenten des V. Studienjahres gaben keine Erklärungen zu ihrem Verhalten ab, (bei Eröffnung des Disziplinarverfahrens bzw. bei der Auflösung der FDJ-Gruppe). Lediglich der Student Künzel erklärte, er wisse nicht, wofür er zur Rechenschaft gezogen werden solle. [...] (S. 3-4)BPA SED Berlin, IV C-4/12/019Dokument Nr. 13Humboldt-Universität zu Berlin Kurt Pätzold15. März 1972STELLUNGNAHME[...] Heute, rückblickend und angesichts der Fortschritte, die in der politischen Arbeit unter einem Teil der Studenten von der Parteiorganisation im letzten Jahr erreicht wurden, erscheint mir ein Mangel in der Tätigkeit der früheren Parteileitung besonders wichtig: die ungenügende Mobilisierung aller Genossen Lehrkräfte für die politischeideologische und erzieherische Arbeit unter den Studenten und der oft nicht von langfristigen Überlegungen geleitete Einsatz der Parteikader und der Assistentenschaft. Besonders sonders das letzte betrifft direkt auch die staatliche Leitung, die täglich über den Einsatz von Parteikadern entscheidet. [...]Der schlechte politische Zustand der Gruppe [Pätzold leitete das aktuell-politische Seminar in der Seminar-Gruppe Diplomanden V] hängt m.E. auch mit einer permanenten Unterforderung zusammen. Trotz allen Drucks wird die Literatur nur lückenhaft gelesen lesen, (wobei die Genossen keine Ausnahme bilden und längst jede Möglichkeit vergeben haben, Parteilose zu kritisieren.) Im Februar 1972 ist deshalb eine Seminarveranstaltung abgesetzt worden. Es ist zu fragen, ob wir nicht noch in den letzten Monaten einige studienverschärfende Sonderregelungen einführen sollten. So beispielsweise können wir für einige Studenten Sonderprüfungen ansetzen, müßten uns aber, für den Fall des negativen Ausgangs, vorher über die Konsequenzen klar werden.[...] (S. 1-2)Ich bin dafür, daß wir den Genossen und allen Sektionsangehörigen die Klassenkampfsituation und die Probleme der DDR-Entwicklung allseitig, gründlich erklären und sie zum tieferen Verständnis für die Beschlüsse und die Entwicklung nach dem Parteitag führen. Es existiert jedenfalls die Bereitschaft, über vieles gründlicher nachzudenken, was man früher wohl gedankenärmer hingenommen hat. Allzu einfache Formeln sind Barrieren gegen dieses Denken mit der Partei, das zum Handeln mit der Partei führen soll.Wir müssen die Fragen von vornherein so stellen, daß ein allgemeines akademisches Herumgerede möglichst erschwert wird. Für die Selbstverständigung des Aktives der Eckert/Günther/Wolle: VerfolgungskampagnenJHK 1993 223Kreisparteiorganisation reicht der Appell des Genossen Hörnig [Leiter der Abteilung Wissenschaften im ZK der SED] \"Jeder tue das, wofür er bezahlt wird\" völlig aus. Jeder weiß, wer und was gemeint ist. Gebe ich diesen Appell \"an alle\" weiter, so wird er aber seine Fruchtbarkeit verlieren, wenn ich ihn nicht konkretisiere. In unserer Sektion sind die Vorstellungen, wofür ein Hochschullehrer eigentlich bezahlt wird, verschieden. Diese verschiedenen Vorstellungen müssen wir herausarbeiten und konfrontieren.Wir haben die Verantwortung der Genossen Hochschullehrer (im engeren Sinne) klarer herauszustellen. Diese Verantwortung ist sachlich, aber auch sprachlich-begrifflich verwischt. Ist vom Lehrkörper oder den Hochschullehrern die Rede, kann heutzutage der Professor denken, der Assistent sei gemeint. (Der Assistent kann das Umgekehrte weniger denken, denn er hat die Erfahrung gemacht, daß er immer gemeint ist.) Diese Verantwortung ist praktisch: sie betrifft solche Fragen, wie die Stundenzahl pro Woche, in denen der Professor oder Dozent vor den Studenten steht, die Zahl seiner politischen und wissenschaftlichen Einzel- und Gruppenkonsultationen usw. [...] (S. 4)Wir stehen vor langwierigen Anstrengungen zur Erziehung der Hochschullehrer (im engeren Sinne) und müssen eine Verbesserung der staatlichen Führung ihrer Tätigkeit durchsetzen. Die Meinungsverschiedenheiten über die Praxis der Hochschulreform führten damals weniger zu ideologischen Auseinandersetzungen zwischen den Genossen Hochschullehrern. Sie äußerten sich im Rückzug aus parteilicher und staatlicher Verantwortung, der wiederum durch einen gewissen Opportunismus in der Auseinandersetzung mit solchen Verhaltungsweisen begünstigt wurde. Das Schielen nach der Akademie, ungerechtfertigte Klagen über Zeitmangel für die Wissenschaft, vor allem aber Passivität in Mitgliederversammlungen der Grundorganisation u.a. Tatsachen bezeugen die ungenügende Verbundenheit mit dem politischen Platz, an dem einige unserer Ge-nossen stehen. Es scheint mir (aus einem freilich begrenzten Blickwinkel), als habe die politischeAuseinandersetzung unter den Genossen Hochschullehrern außerhalb der Parteigruppen, untereinander praktisch aufgehört. Selbst in Mitgliederversammlungen der Partei ist siewohl seltener geworden. [...]Das missing link, das von dieser Arbeit die Brücke zum praktischen Erfolg schlägt, ist aber doch die kollektive und individuelle Erziehung dieser Genossen im täglichen Arbeitsprozeß. Diese ideologische und charakterliche Erziehung muß, wie die Dinge jetzt liegen, ganz wesentlich von \"oben\" in Gang gesetzt werden. Dabei müssen wir uns mit den nicht so wenigen Genossen verbünden, die als Studenten eine gesunde, mitunter treffende politische Urteilskraft besitzen und in deren Handlungen sich mitunter ein höheres kommunistisches Bewußtsein ausdrückt als in denen mancher ihrer Lehrer. (S. 5)Handakte des Instituts für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin 224 JHK 1993DokumentationDokument Nr. 14Humboldt-Universität zu Berlin Sektion Geschichte Sektionsleiter, Professor Joachim Streisand31. März 1972PERSÖNLICHE STELLUNGNAHME ZUR STAATSFEINDLICHEN HALTUNG UND TÄTIGKEIT EINER GRUPPE VON STUDENTEN DER SEKTION GESCHICHTEDaß sich unter einer Gruppe von Stundenten unserer Sektion seit Jahren staatsfeindliche Handlungen und Haltungen entwickeln konnten, hat nicht nur zur Folge, daß wir unsere Planaufgaben in bezug auf die Ausbildungsziele nicht erfüllen können, sondern ist vor allem eine Niederlage im ideologischen Kampf und hat im politischen Klassenkampf gegen den Imperialismus über unseren unmittelbaren Verantwortungsbereich hinaus ernsten Schaden angerichtet. [...] Als Direktor der Sektion trage ich selbstverständlich gegenüber Partei und Staat eine besonders große Verantwortung für dieses Versagen, und ich muß zugleich prüfen, welche Fehler ich selbst begangen habe. [...]Ich war von 1948 bis 1951 wissenschaftlicher Aspirant, dann einige Monate Assistent des Genossen Alfred Meusel und kehrte nach mehr als 10 Jahren, im Frühjahr 1963, an die Universität zurück. Schon wenige Monate später wurde mir die Leitung des Institut für deutsche Geschichte übertragen. Rückblickend scheinen mir drei Eindrücke in diesem Zusammenhang wesentlich:1. Ein staatlicher Leiter hatte es insofern recht leicht, als er keinem offenen Widerspruch gegen seine Anweisungen begegnete, wenn er nur halbwegs wußte, was er wollte, und seine Anweisungen der Politik unserer Partei entsprachen. Er hatte es aber zugleich insofern schwer, als die formelle Zustimmung durchaus nicht bedeutete, das diese Anweisung auch konsequent durchgeführt wurden. [...]2. Als ich 1963 an die Universität kam, gab es am Institut für deutsche Geschichte zwei Hauptwege der Arbeit mit den Studenten. Zum einen bildeten qualifizierte Spezialisten wieder Spezialisten aus [...], zum anderen gaben sich Genossen und Genossinnen [...] viel Mühe vor allem um die fachliche Förderung von Seminargruppen und Studenten, deren Betreuung ihnen übertragen war. Eine zielbewußte Entwicklung eines Nachwuchses, bei der politische Anforderungen den ersten Platz einnahmen, bildete die Ausnahme [...], während qualifizierter Nachwuchs etwa im damaligen Institut für allgemeine Geschichte von einigen Genossen geradezu als gefährliche Konkurrenz angesehen wurde [...]. Diese Haltung ist noch immer nicht völlig überwunden, insofern politische und \"fachliche\" Ausbildung und Erziehung nicht genügend in ihrer Einheit auf der Grundlage des Primats der Politik gesehen werden.3. Bereits in den ersten Auseinandersetzungen nach dem Bekanntwerden der Ergebnisse, zu denen die staatlichen Ermittlungsorgane kommen mußten, wurde festgestellt, daß unsere Sektion zwar Fortschritte in bezug auf den Inhalt der Lehrveranstaltungen erzielt hat, die politische Erziehung der Studenten aber mit den theoretischen Fortschritten in bezug auf die Aneigung der Politik der Partei nicht Schritt hielt. Eine Ursache dafür ist, daß auch die Anforderungen der Hochschullehrer- und Mitarbeiterverordnung allzusehr auf ihre theoretische Seite reduziert wurden. Das Gesamtverhalten eines Ge- Eckert/Günther/Wolle: VerfolgungskampagnenJHK 1993 225nossen und Kollegen erscheint danach nur noch als Frage seines individuellen Charakters, nicht aber in genügendem Masse in seiner Bedeutung für die Praxis der täglichen Arbeit in der Parteiorganisation und bei der Erfüllung seiner staatlichen Aufgaben. Hier gibt es das Ausweichen vor Schwierigkeiten. Daß Gen[osse] Pätzold den Alltag als Feld täglicher Bewährung im Klassenkampf zu behandeln vermag, wird von den meisten Genossen anerkannt und berücksichtigt, wenn Aufgaben zu lösen sind. Negative Erscheinungen in dieser Hinsicht werden aber allzu \"akademisch\" behandelt. [...]Ökonomen oder Juristen sind auch in ihrer wissenschaftlichen Arbeit unmittelbar mit der Praxis konfrontiert. Der Gegenstand des Historikers scheint - ich betone: scheint die Vergangenheit zu sein, und deshalb ist hier die Gefahr, einen Betrachterstandpunkt zur Politik unserer Partei und zur politischen Erziehung einzunehmen, besonders groß. Wenn in der Hauptstadt unserer Republik der imperialistische Klassengegner besonders intensiv ideologische Diversion zu betreiben versucht, dann müssen wir diesen Versuchen durch eine besonderes qualifizierte politische Erziehungsarbeit begegnen. [...] (S. 1-3)Handakte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin

Inhalt – JHK 1993

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