JHK 1993

Einzelrezensionen

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 452-517

Smaga, Jozef: Narodziny i upadek imperium. ZSRR 1917-1991 [Geburt und Verfall eines Imperiums. Die UdSSR 1917-1991]. Wydawnictwo Znak Krakow 1992, 411 S.; Der Autor, ein Historiker der russischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, war ein Aktivist der \"Solidarsnosc\". Sein Versuch, die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Phänomene in der Sowjetunion nach dem Sturm auf das Petersburger Winterpalais 1917 bis zur Verteidigung des \"Weißen Hauses\" im August 1991 in einer Gesamtschau zu erfassen, zeichnet Präzision der Gedankenführung und eine bestechende Stilform aus. In acht Kapiteln (sieben tragen im Titel die Namen der insgesamt sieben Generalsekretäre des ZK der KPdSU) und einem Postskriptum präsentiert der Verfasser eine quellengesättigte Chronologie des \"roten Imperiums\". Als besonderer Vorzug ist seine Vertrautheit mit meistens schwer zugänglichen russischsprachigen Publikationen und Zeitungen zu werten.Smaga wendet sich dezidiert gegen die Auffassung, daß das \"rote\" Zarentum eine Fortsetzung der \"russischen Despotie\" war und weist mit stellenweise zynisch wirkender Konkretheit auf die gewaltigen qualitativen und quantitativen Unterschiede hin, wenn er die Zahl der Opfer des bolschewistischen Experiments im Zeitraum 1917-1959 auf 110,7 Millionen hochrechnet. Zwar war der \"Sowjetismus\" auch im Zarismus verwurzelt, doch er überbot dessen Despotismus um ein Mehrfaches. Das Weltverständnis der linken russischen Intelligenz des 19. Jahrhunderts, vorrangig ihr atheistischer Materialismus, der Glaube an ein klassenloses Paradies auf Erden und der Amoralismus der Mittel zu dessen Durchsetzung, wie zum gleichen Teil totalitaristische Elemente der Sozialdoktrin des westlichen Marxismus waren die Ursachen dieser historischen Katastrophe.Das russische Imperium sei schon vor dem Ersten Weltkrieg aufgrund seiner Reformunfähigkeit kaputt gewesen, in diesem politischen Chaos übernahmen die Kommunisten die Macht über eine apathische Gesellschaft. Lenin als ihr Führer war Initiator von Exzessen und von Massenterror, der Begründer eines Staates des permanenten Ausnahmezustands. Allein der Bürgerkrieg 1918-21 forderte 550.000 Tote. Von einer Zentralisierung der politischen Macht war auch die Phase der ökonomischen Liberalisierung der \"Neuen Ökonomischen Politik\" nach 1921 begleitet: 1921 Fraktionsverbot in der RKP(B); Lenin trat nach 1920 für Disziplin und Zentralisierung ein, habe weitgehend auf jede demokratische Phraseologie verzichtet. Daher treffe Lenin als den Begründer des verbrecherischen Systems größere Schuld als Stalin, der größere Verbrechen beging. Lenin sei auch der Begründer der \"proletarischen Logik\" als Wahrnehmungs- und Denkstruktur gewesen, in welcher der Klassenkampf als alleinige Ursache von Fehlern und von Schuld funktioniert habe. Konsequenterweise verfolgt der Verfasser Stalins \"zweite Revolution\" bis in das Jahr 1922 zurück (Änderung des Rechssystems), zumal nach seiner Meinung der Terrorismus schon unter Lenin etabliert war.Bei der Darstellung der Ära Stalin nimmt ein Vergleich mit Hitler einen breiten Raum ein. Für deutsche Ohren mögen einige Argumente zu laut klingen, bisweilen sarkastisch wirken, doch als Katholik weiß EinzelrezensionenJHK 1993 453der Verfasser mit Schuldkomplexen souveräner umzugehen. Nach seiner Auffassung überwogen die gemeinsamen Züge beider Systeme: Mit Ausnahme der Gaskammern waren schon alle Methoden der Vernichtung erfunden, Stalin wäre insofern nur eine \"höhere Effizienz\" des Terrors zu bescheinigen, als in dessen System der Mensch auf das biologische, oft zoologische, Maß reduziert worden, den Opfern des \"3. Reiches\" eine größere Würde im Sterben gelassen worden war: Niemand verlangte von ihnen Selbsterniedrigung, Selbstanschuldigung und Bitten um Höchststrafen. Präsentiert wird auch eine Bilanz: Bis zum Beginn des 2. Weltkriegs habe Hitler 10.000 Menschen umgebracht, Stalin mindestens 10 Millionen; im Krieg verlor die Sowjetunion ein Viertel ihrer Bevölkerung, Deutschland sechs von 80 Millionen. Der Hitlerismus, faßt der polnische Autor zusammen, war eine \"einmalige und nicht steigerungsfähige Erscheinung, [... ] im Prinzip auf ein Volk beschränkt, ohne Maske und ohne eine Variationsmöglichkeit in der Form eines \"Hitlerismus mit menschlichem Antlitz\"; der Stalinismus hingegen kannte viele Variationen und Mutationen.\" Hitler war offen und sprach nicht von \"Wohl, Gerechtigkeit, Freiheit, Demokratie\", der Hitlerismus sei irrational und ohne taktische Flexibilität gewesen (198). Daß die ungeteilte Diktatur Stalins 1934-53 und sogar die Jahre der \"Absurdität\" 1936-38 auch westliche Intellektuelle wie Lion Feuchtwanger oder G.B. Shaw als \"wirkliche Demokratie\" faszinierte, gibt Smaga nur zu Protokoll.Ende der dreißiger Jahre setzte in der Sowjetunion eine Tendenz zu einem \"nationalen Totalitarismus\" ein, nachdem schon ab 1925 systematische Russifizierung betrieben worden war und durch ein Dekret vom 13. März 1938 der Russisch-Unterricht an sowjetischen Schulen obligatorisch wurde. 1939-40 um 22 Millionen Einwohner gewachsen und in Folge des Krieges ihren Einfluß in Ostmitteleuropa auf weitere 120 Millionen Menschen ausdehnend, schlug die offizielle Propaganda schon 1943 auslandsfeinliche Töne an, die nach dem Krieg Schdanow verstärkt habe.Eine neue Qualität erreichte die Entwicklung erst nach dem Tod Stalins: Es sei die Geburt der öffentlichen Meinung gewesen. Stalins Nachfolger und ihre Politik porträtiert der Verfasser in ihrem immanenten Spannungsverhältnis zwischen antizipatorischen Modernisierungszielen und konservierender Beharrungsstarre des schwerfälligen Apparates. Der Ära Chruschtschow bescheinigt er zwar Megalomanie in der Außenpolitik, doch gleichzeitig auch tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft, die den Fatalismus überwand und sich vor allem auf kulturellem Gebiet erfolgreich artikulierte. Die Chruschtschowsche Modifikation der Herrschaftsmechanismen zur Verhinderung eines stalinistischen Rezidivs stieß dann aber auf den Widerstand der Parteibürokratie, der Armee und des Geheimapparats. Preiserhöhungen, Mißernten und Verschärfung der Strafgesetze Anfang der sechziger Jahre erleichterten Chruschtschows Rivalen seine Entmachtung. Breschnew griff zwar 1965 die ökonomischen Reformversuche Kossygins auf, doch dieser Kurs wurde 1973/74 liquidiert: Die zentralistische Struktur blieb stabil, die Interessen der Bürokratie wurden vorrangig befriedigt und den Militärs höhere Rüstungsausgaben genehmigt.Mit der amerikanischen Landung auf dem Mond 1969 verlor die UdSSR den Wettlauf mit den USA. Die diplomatischen Erfolge bei der KSZE wogen nicht die ökonomische Katastrophe und die wachsenden Schulden im Westen auf, hinzu kam eine zunehmende Konfusion der politischen Doktrin (Kambodscha 1975-78), die seit der These des XXV. Parteitags der KPdSU von 1976 über den \"hochentwickelten (realen) Sozialismus\" in eine defensive Richtung wies. Bemerkbar machten sich gleichzeitig qualitativ neue innergesellschaftliche Prozesse: Ab 1968 \"Dissidenten\", informelle Gruppen und Untergrundzeitschriften, 1974 wurde Solschenizyn des Landes verwiesen. Die Kulturkrise und Tendenzen nach nationaler Erneuerung blieben nicht auf Rußland begrenzt, die Demographie der UdSSR geriet immer mehr in Widerspruch mit der fiktiven Föderation und der tatsächlichen Russifizierung. Seit Beginn der siebziger Jahre wurden Fragen der nationalen und religiösen Identität immer dringlicher, vor allem für die 50 Millionen sowjetische Moslems, die geschickt Khadafi nachbeteten, daß Marx seine Ideen aus dem Koran gewonnen hätte. Die fortschreitende Sklerose des Systems komplizierte die Gerontokratie in der Führung und die von den Massenmedien effektiv inszenierte \"titanische \'Leninsche Bescheidenheit\' Breschnews\" trug unmit- 454 JHK 1993Einzelrezensionentelbar zur offenen Zersetzung des sozialen und politischen Lebens ab Mitte der siebziger Jahren bei. Das Fiasko der traditionellen Herrschaftsmethoden habe bereits die Wahl des KGB-Chefs Andropows zum Generalsekretär 1982 signalisiert, der als \"Polizist\" schon aus mentalen Gründen für Disziplin statt für Reformen plädierte, wie der Autor verkürzt. Im Westen mit dem Nachrüstungsbeschluß von 1979 konfrontiert und mit der Erklärung der USA-Regierung von 1980, die demokratische Oppositionsbewegung in Osteuropa unterstützen zu wollen.Gorbatschow bescheinigt er in der ersten Etappe der Perostroika nach der Machtübernahme 1985 die Fortführung der Methoden Andropows. Letztlich bestand das \"Drama Gorbatschow\" darin, daß Gorbatschow nicht gewußt habe, was er mit seiner Machtfülle tun könne, weil sie in ein festes überkommenes System eingebettet war. Die Perestroika als \"Krieg der Partei gegen die Partei unter Führung der Partei mit objektiven Resultaten\" blieb in ihrem Aktionsradius verhältnismäßig beschränkt und fand beispielsweise im ökonomische Bereich überhaupt nicht statt: Der Anteil der Schwerindustrie an der Gesamtproduktion stieg kontinuierlich von 49,5 Prozent (1940) auf 75,3 Prozent im Jahr 1987 an. Die ökologische Katastrophe von Tschernobyl 1986 und der Bergarbeiter-Streik aller sowjetischen Fördergebiete 1989 bewegten das politische Bewußtsein stärker. Durch die Demonopolisierung des politischen Lebens aufgrund der Verfassungsänderung vom März 1990 erklärte sich die Kommunistische Partei zu einem Anachronismus im pluralistischen politischen System. Dennoch reagierte die Gesellschaft nur mit Apathie, weil die neue Politik bis 1988 keine Ergebnisse gebracht habe. Zur gleichen Zeit wurden aber nationale Probleme akut, die internationalistische Fassade der UdSSR bekam irreparable Risse, religiös motivierte Bewegungen wuchsen an. Als die sowjetischen Truppen 1989 Afghanistan verließen, hatte die soziale und kulturelle Bewegung bereits die Bahnen des \"Antistalinismus\" verlassen und war in einen \"Antileninismus\" hinübergewachsen.Die Vorzüge des Buches bestehen vor allem in der Klarheit und Anschaulichkeit der Gedankenführung, weshalb es auch für populärwisenschaftliche Zwecke gut geeignet ist. Allerdings werfen eben diese Eigenschaften Fragen nach den heuristischen Prämissen auf, wecken wohl bei einigen einen ideologiekritischen Verdacht einer ins Negative gekehrten \"rituellen Glorifizierung der Geschichte\". Doch es entspricht nicht nur den Grundsätzen des Wissenschaftspluralismus, sondern ist auch intellektuell redlich, über Detailaspekte des Sowjetsystems eventuell laut zu streiten. Perzeptionsweisen, die hier nur knapp mit den Stichworten \"Katholizismus\" und \"Verwerfungen der westeuropäischen kulturellen Tradition\" in den \"zwischen Deutschland und Rußland\" gelegenen Ländern angedeutet werden können, schimmern bei Smaga nur an einigen Stellen unmittelbar an der Oberfläche. Eine Übersetzung des Buches ins Deutsche erscheint sogar vom marktwirtschaftlichen Standpunkt aus lohnend.Jan FoitzikWillerton, John P.: Patronage and Politics in the USSR. Cambridge University Press, Cambridge u.a. 1992 (Soviet and East European Studies, 82), 302 Seiten.Patronage und persönliche Netzwerke, wiewohl ihre Existenz offiziell entweder verleugnet oder verdammt wurde, bildeten einen zentralen Faktor der politischen Maschinerie in der Sowjetunion. Ähnlich wie der Realsozialismus eine zweite Ökonomie von erheblicher Bedeutung in Gestalt der Schattenwirtschaft hervorgebracht habe, so gebe es auch eine zweite politische Ebene, eine second polity, konstatiert John P. Willerton, Assistant Professor für Politische Wissenschaft an der Universität von Arizona. Dieser zweiten politischen Ebene ist seine Studie gewidmet, in deren Zentrum die UdSSR Breschnews und die Gorbatschow-Ära sowie Regionalstudien zu Litauen und Aserbeidschan stehen. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich bis Anfang 1990. Willerton, der für seine Arbeit 1982/83 auch in der Sowjetunion recher- EinzelrezensionenIHK 1993 455chierte, geht der Frage nach, welche Rolle die Netzwerke bei der Etablierung neuer Führungsfiguren und der Durchsetzung ihrer politischen Konzepte spielten. Dabei vertritt er einen strikt funktionalistischen Ansatz. Die dysfunktionalen Varianten der Patronage interessieren ihn nur am Rande. Es geht in diesem Buch also nicht um Enthüllungen über Nepotismus in der Nomenklatura-Kaste oder Mafia-Connections der sowjetischen Führungsschicht. Stattdessen erwarten den Leser die Ergebnisse einer aufwendigen EDV­ gestützten Analyse aggregierter Karrieredaten von über 2.000 sowjetischen Politikern, ohne daß er über das notwendige Mindestmaß hinaus mit den technischen Fragen belästigt würde. Methodisch knüpft Wil­ lerton dabei an die Untersuchungen des britischen Historikers Lewis Namier über die Struktur der Politik im England des 18. und 19. Jahrhunderts an.Willerton sieht die Sowjetunion von einer unterentwickelten, bäuerlichen politischen Kultur geprügt. in der knappe Ressourcen aufgrund persönlicher Beziehungen verteilt werden. Dies und die Unsicherheit dLOs politischen Lebens, die von dem Fehlen explizit formu!iLOrtcr Regeln für Personalrekrutierung und forrnel­ ler Mechanismen zur Bewertung des Verhaltens von Politikern herrühren, bewirken, daß Patronage funk­ tionell an die Stelle rechtlich normierter Beziehungen tritt. Bereits in der Revolutionsperiode wurde die Vergabe wichtiger Positionen von einer kleinen Gruppe an der Spitze der bolschewistischen Partei kon­ trolliert. Seine souveräne Beherrschung der Personalpolitik verhalf dann Stalin an die Spitze der KP. Die Angehörigen seines Klientelnetzes, die ihrerseits häufig eigene, sekundäre Netzwerke kontrollierten, re­ präsentierten durchaus ein Meinungsspektrum mit gewissen unterschiedlichen Nuancen bis mit dem Kirow-Mord 1934 Stalins blutige \"Kaderrotation\" einsetzte. Das informalle System von checks and balan­ ces, das die Netzwerke des Parteichefs und ctndercr führender Politiker in der späteren Sowjetunion konsti­ tuierten. gab es im Hochstalinismus nicht mehr. Während Willerton feststellt, daß Chruschtschows Reor­ ganisation von Institutionen und seine Praxis der Personalrotation zur Folge hatten, daß sich ihm sein ei­ genes Netzwerk entfremdete, führt er die Stabilität von Lconid Breschnews Herrschaft vor allem auf die Fähigkeit des Patrons zurück, entscheidende Machtpositionen mit Anhängern seines Netzwerks zu beset­ zen und zugleich mit den Patronen anderer Netzwerke eine \"Regierungskoalition\" einzugehen. Im L\'.entrum von Breschnews Netzwerk stand die sogenannte Dnjcpropetrowsker Mafia. Die anderen bedeutenden Netzwerke um den Parteiideologen Suslow, das ukrainiscbl.O mit Nikolaj Podgorny an der Spitze, das weiß­ russische unter Kyrill Masurow, dessen Wurzeln bis in den Partisanenkampf des Zweiten Weltkriegs zu­ rückreichten, und die Moskauer Gruppe unter Iwan Kapitonow stellten Brcschnews Vorherrschaft nicht in Frage, wohl aber versuchten sie, dessen Politik ihre jeweils eigenen Akzente aufzuprägen. Unter dem neuen Generalsekretür Andropow, vor allem aber in der Ära Gorbatschow verloren die meisten Mitglieder von Breschnews erweitertem Netzwerk ihre Entscheidungspositionen. Zugleich aber verloren Netzwerk­ beziehungen mit der Perestroika an Bedeutung. Das politische Schwergewicht verschob sich von der Partei zum Staatsapparat. Qualifikation und insbesondere Massenpopularitüt gewannen als Machtressourcen gegenüber den Patronagebeziehungen erheblich an Gewicht. Ein Paradebeispiel hierfür bietet der politi­ sche Aufstieg von Algirdas Brasauskas in Litauen. in Aserbeidschan allerdings konnte sich das von dem ehemaligen stellvertretenden Republikvorsitzenden des KGB. Aliew, installierte Netzwerk noch bis An­ fang der neunziger Jahre relativ stark behaupten. Auch wenn das konkrete historische sich stellenweise in der abstrahierenden Erörterung der Dynamik von Netzwerken aufzulösen droht, hat Willerton mit seiner Studie ohne Zweifel einen wichtigen Beitrag zur politischen Soziologie der Sowjetunion geleistet.Jürgen Zaruskr 456 .!HK 1993EinzelrezensionenFarher, Samuel: Befi;re Stalinism. The Rise and Fall of Soviel Democracv. Polity Press. Camhridie 1990, 288 S.Samuel Farber ist Professor für Politische Wissenschaft in New York. Sein Buch untersucht Theorie und Praxis der Russischen Revolution unter dem Gesichtspunkt der Demokratie. Behandelt wird der Zeitraum zwischen 1917 und 1923. Originell an Farbers Buch sind weder die die Untersuchung leitende Frage, wel­ che Merkmale der stalinistischen Diktatur bereits unter Lenin und Trotzki ausgebildet wurden, noch die Quellen, auf die es sich stützt - die einschlägige westliche Literatur. Was seine Studie von vergleichbaren Arbeiten (etwa Leonard Schapiros klassischer Untersuchung The Oriiin of the Communist Autocracv) ab­ hebt, ist die Perspektive ihres Verfassers: Im Gegensatz zu Schapiro und der Schule der Totalitarismus­ Theoretiker mißt Farber der Oktoberrevolution und dem von ihr etablierten Sowjet-Regime demokratische Legitimität durchaus zu. Sein Standpunkt ist vergleichbar dem der frühen sozialistisch-kommunistischen Kritiker wie etwa Rosa Luxemburg, deren Kritik an der Praxis der Bolschewiki auch dadurch an Schärfe gewann, daß sie deren Prämissen teilte. Die Behauptung verwerfend (die aus einer Geschichtsphilosophie rührt. die nicht minder deterministisch ist als der \"Marxismus-Leninismus\"), die Sowjet-Macht und das bolschewistische Rußland seien nur von ihrem Ende her zu beurteilen, spürt Farber in sieben Kapiteln, die Themen wie den Sowjets und den politischen Parteien, der Rolle und den Aufgaben der Gewerkschaften, der Zensur und der Pressefreiheit. dem nachrevolutionären Rechtssystem, der Struktur und Funktion des staatlichen Repressionsapparats gewidmet sind, den jeweiligen Optionen, den möglichen Alternativen nach, deren Wahl den Niedergang der Sowjet-Demokratie und die Herausbildung der stalinistischen Dikta­ tur hätte verhindern können. Waren Farbers (im Epilog angestellte) Uberlegungen zu den Perspektiven des Wandels in Osteuropa schon kurze Zeit nach Erscheinen seines Buches überholt, so sind seine diesbezügli­ chen Darlegungen für all diejenigen von bleibendem Wert, die am Geschick des Sozialismus im allgemei­ nen und der Geschichte der Russischen Revolution im besonderen Interesse haben.Horst Lauscher\' 456 JHK 1993EinzelrezensionenBucharin, Nikolai: 1929 - Das Jahr des großen Umschwungs. Hrsg., eingel., komment. und übersetzt von Wladislaw Hede/er und Ruth Stoljarowa. Dietz Verlag, Berlin 1991, 245 S.Von Bucharin, einer der bekanntesten \"Unpersonen\" in der Geschichte der UdSSR, blieb jahrzehntelang unbekannt, welchen Inhalt seine mehrstündige Rede hatte, mit der er auf dem Vereinigten Plenum des Zentralkomitees und der Zentralen Kontrollkommission der KPdSU(B) am 18. April 1929 aufgetreten war. Dem russischsprachigen Erstdruck von 1989 folgte die deutsche Erstausgabe im vorliegenden Band, der damit eine hervorragende historische Quelle weithin publik macht. Der Leser wird Zeuge des innerpar­ teilichen Kampfes um Wege und Tempo der Weiterentwicklung des sozialistischen Systems im Sowjet­ land. Während Bucharin sich gegen den Abbruch der Neuen Ökonomischen Politik kehrte, setzte sein Hauptkontrahent Stalin Zug um Zug rigorose Willkürmaßnahmen vor allem gegen die Bauernschaft durch. Erstmalig übte Bucharin detaillierte Kritik an der Stalinschen Konzeption von der Verschärfung des Klas­ senkampfes im Zuge des fortschreitenden sozialistischen Aufbaus, eine Konzeption, die dem Diktator zur Begründung seiner opferreichen Repressionspolitik diente. Bucharins Rede vor dem Vereinigten Plenum ging als letzte umfassende Selbstdarstellung seiner Auffassungen, die als \"rechte Abweichung\" verurteilt wurden, in die Geschichte ein; sie verdient spezielle Beachtung wegen der Auskünfte zu Detailfragen, bei­ spielsweise zu rayonspezifischen Merkmalen der ökonomischen und sozialen Entwicklung.Aufschlußreich für das Niveau der Auseinandersetzung und die politische Kultur in den genannten Par­ teigremien sind die häufigen Zwischenrufe und herausfordernden Fragen an den Referenten. Das Persön- EinzelrezensionenJHK 1993 457lichkeitsbild von J.W. Stalin und seinen engen Anhängern A.I. Mikojan, G.K. Ordshonikidze, W.M. Molotow und anderen erfährt in diesem Zusammenhang manche Vervollkommnung.Der vorliegende Band enthält überdies Nachdrucke von neun zeitgenössischen Beiträgen aus oppositionellen Presseorganen, in denen - achtmal von Seiten der KPD (Opposition) und einmal seitens russischer sozialdemokratischer Emigranten - zur Verurteilung der Gruppe um Bucharin auf dem Aprilplenum 1929 und zur Situation in der KPdSU-Führung Stellung genommen wird.Abgerundet und aktualisiert wird das Bild von Nikolai Bucharin beim großen politischen Kurswechsel Ende der zwanziger Jahre durch einen Erinnerungsbeitrag von Bucharins Witwe, A.M. Larina, und eine Abhandlung des russischen Historikers G. Sokolow über die wachsenden Differenzen innerhalb der Parteispitze. Während Vor- und Nachwort schon wieder partiell überholt sind, verdienen die Anmerkungen zum Anhang besondere Hervorhebung, weil sie wissenschaftlich sehr instruktiv sind und der hohen Qualität der geleisteten Ubersetzungsarbeit entsprechen.Joachim MaiHolmes, Larry E.: The Krem/in and the Schoolhouse. Reforming Education in Soviet Russia, 1917-1931. Indiana University Press, Bloomington, Indianapolis 1991, 214 S.Eine der wichtigsten Aufgaben in der Ausbildung russischer Lehrer ist zur Zeit die Vermittlung eines neuen Bildes über die Geschichte der Pädagogik in Rußland. Besonders die Interpretation des sowjetischen Kapitels dieser Geschichte fällt heutzutage schwer. Daher liefert das Buch von Larry E. Holmes russischen Historikern bei ihren Versuchen zur Aufarbeitung der Entwicklungsgeschichte von Pädagogik und Schulsystem seit der Oktoberrevolution eine unschätzbare Hilfestellung.Die in vier selbständige, aber durchaus miteinander verbundene Teile gegliederte Arbeit bemüht sich, ein objektives Bild des sowjetischen Bildungssystems in den Jahren 1917-193 l nachzuzeichnen. Dabei trachtet der Autor nicht danach, die damals handelnden Personen zu entschuldigen oder zu verleumden. Ihm geht es vielmehr um die objektive Vermittlung von Tatsachen. Daß ihm dies gelingt, beweist ein Blick in das Quellen- und Literaturverzeichnis am Ende des Buches, das Zeugnis ablegt von der profunden und dichten Quellenbasis, auf die sich der Autor stützen konnte. Dies gilt um so mehr, als eine Reihe der Quellen - vor allem die, die Probleme der Volksbildung auf lokaler Ebene behandeln - bislang wissenschaftlich nicht verwertet worden sind bzw. werden konnten.Besonders hervorzuheben ist das Bemühen von Holmes, das komplexe und bisher kaum erforschte Problem der Wechselwirkung und wechselseitigen Abhängigkeit zwischen der offiziellen staatlichen Politik und der alltäglichen Schulpraxis in den Blick zu nehmen. Betroffen von dieser Wechselbeziehung waren nach Holmes alle, die mit dem Volksbildungssystem und seiner Entwicklung in Berührung kamen: die Narkompros, die Offentlichkeit, die gesellschaftlichen Organisationen (Komsomol, Pionierorganisation), die lokalen Machthaber, Lehrer, Schüler und Eltern. Diese Sichtweise gestattet es dem Autor, darzulegen, daß und wie sowohl spontane als auch zielgerichtete Faktoren Einfluß auf die Entwicklung des Bildungssystem ausübten.Der Kreis der im Buch erörterten Fragen ist sehr weit: Die Tätigkeit der Narkompros bei der Suche nach einer neuen Richtung in der Bildungspolitik; die Beziehungen zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Volksbildung; die Ausbildung der Lehrer und ihr Einfluß auf die Umsetzung der Bildungspolitik in die Praxis; die Unterrichtsmethodik - traditionell oder experimentell - in der Schule; schließlich im dritten und sehr wichtigen Teil des Buches die schwierige Suche nach (Kompromiß-)Lösungen der Bildungsprobleme in den zwanziger Jahren. 458 JHK 1993EinzelrezensionenObgleich Holmes sich in seiner Darstellung auf die ersten 14 Jahre nach der Revolution von 1917 konzentriert, behält er gleichwohl die aktuellen Probleme auf dem Gebiet der Volksbildung im Blick. Erbestätigt damit, daß eine Aufarbeitung dieses Kapitels der Bildungsgeschichte notwendigerweise auch Bezugspunkte liefert, die für das heutige Verhältnis von Kreml und Schulhaus von Belang sind.Natürlich mag man manches anders bewerten als Holmes. Doch dies ändert nichts daran, daß seine Arbeit namentlich dem russischen Leser eine neue Sichtweise auf die Ereignisse eröffnet, die von der sowjetischen/russischen Wissenschaft in ideologisch gefärbtem Einheitsbrei verkocht worden sind. Gerade deshalb wäre es wünschenswert, daß das Buch in russischer Sprache erschiene, nicht zuletzt um den russischen Wissenschaftlern bei der Aufarbeitung der Geschehnisse in den Jahren 1917-1931 den Weg zu weisen.Natalija SergeevaGribkow, Anatoli l.: Im Dienste der Sowjetunion. Erinnerungen eines Armeegenerals. Edition q, Berlin 1992, 526 S.In einer Mischung aus recht persönlichen Erinnerungen und der Bewertung zeitgeschichtlicher Vorgänge schildert A. Gribkow seine militärische Laufbahn in fünf Jahrzehnten. Angefangen von seiner Ausbildung an einer Offiziersschule für Panzertruppen und der Teilnahme am sowjetisch-finnischen Krieg 1939/40 sowie den Abwehrschlachten der Roten Armee im Sommer 1941 zeichnete sie sich durch nichts Außergewöhnliches aus. Durch die Entsendung in den Generalstab erhielt Gribkow größere Einsichten in den Gesamtverlauf des Krieges, stieg dann auch Stufe um Stufe auf, um in den Jahren 1976 bis 1989 als Stabschef des Warschauer Pakts zum zweithöchsten Militär dieses Bündnisses zu avancieren.Zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges tragen die Erinnerungen nichts Wesentliches bei. Bemerkenswert sind höchstens seine Ausführungen über die Aufgaben und Rechte der speziellen Bevollmächtigten des Generalstabs, die von diesem an die Frontgruppen und weitere Verbände des Feldheeres entsandt wurden. Man könnte sie als Beobachter und Ratgeber in den Frontstäben bezeichnen. Mehr noch waren sie Informanten für den Generalstab, der den Berichten der Oberbefehlshaber und Frontstäbe wohl nicht immer voll vertraute. Aber auch in dieser Hinsicht war ihr Einfluß auf das militärische Geschehen nicht übermäßig groß. So konnte diese zusätzliche Einrichtung von \"Kontrolloffizieren\" zwar die Aussagefähigkeit des Generalstabs und damit seine strategische und operative Planungsarbeit erleichtern, trug aber zugleich zu bestimmten Unsicherheiten in den Frontstäben bei, da diese stets von der Anwesenheit von Lauschposten ausgehen mußten.Am aufschlußreichsten sind zweifellos die Ausführungen, die Gribkow zu seiner Mission während der Kuba-Krise 1962 macht. Als Leiter der Operativen Verwaltung des Generalstabs der Sowjetarmee hatte er unmittelbaren Anteil an den Vorbereitungen zur Stationierung von sowjetischen Truppen auf der \"Insel der Freiheit\", die Mitte Mai 1962 begannen. Von Mitte Oktober bis Ende November 1962 war er Leiter einer speziellen Gruppe von Beauftragten des sowjetischen Verteidigungsministers, die wiederum mehr eine beratende und kontrollierende Funktion hatte, da der Befehlshaber der sowjetischen Truppen unmittelbar Moskau unterstand und in seinen Entscheidungen nur noch von der Zustimmung der kubanischen Führung abhängig war.Dennoch werfen Gribkows Ausführungen einiges zusätzliches Licht auf die dramatischen Ereignisse des Herbstes 1962, als die sowjetisch-amerikanische Konfrontation die Welt bis vor den Abgrund der nuklearen Katastrophe brachte. Die zunächst unbemerkte Verlegung sowjetischer Truppenteile und Einheiten samt ihrer Waffen auf dem See- und nur teilweise auf dem Luftweg - über den halben Erdball - war zweifellos eine bemerkenswerte militärische Leistung. Sture Befehlsdurchführung führte unter den tropischen EinzelrezensionenJHK 1993 459Bedingungen des getarnten Seetransports zu ersten Menschenopfern. Nach Gribkows Darstellung hatten die sowjetischen Truppen, einschließlich der Raketeneinheiten, nur Verteidigungsaufgaben für den Fall einer amerikanischen Invasion sowie eine Abschreckungsfunktion im Rahmen der globalen Konfrontation zwischen den beiden atomaren Großmächten. Zudem war ihre Einsatzbereitschaft Ende Oktober, also zum Höhepunkt der Krise, noch nicht abgeschlossen, die unmittelbare Gefahr für die USA demnach noch gering, aber potentiell schon gegeben. Ihre möglichen Folgen wurden, wie das Buch letztlich beweist, von den unmittelbaren Teilnehmern der Ereignisse, auch der kubanischen Führung, unterschätzt.Bei der Beilegung der Krise durch Chruschtschow und Kennedy agierte der sowjetische Staatsmann so, daß er Castro vor vollendete Tatsachen stellte. Die bekannte Verstimmtheit der kubanischen Führung wird in dem Buch recht plastisch geschildert, aber auch die sowjetische Selbstherrlichkeit, selbst wenn sie in den letzten Oktobertagen des Jahres 1962 einem guten, friedenserhaltenden Ziel diente. Die im Anhang des Buches beigefügten Dokumente sind eine echte Bereicherung der wissenschaftlichen Literatur in deutscher Sprache. Die Ausführungen Gribkows über seine dreizehnjährige Tätigkeit als Stabschef der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Pakts enthalten kaum neue Erkenntnisse. Sie weisen deutlich die völlige sowjetische Dominanz in den Kommando- und Stabsstrukturen nach, auch die Bedeutungslosigkeit der Tagungen des Politischen Beratenden Ausschusses, da alle wichtigen Entscheidungen vom Politbüro der KPdSU vorbestimmt waren. Sie bestätigen die ohnehin bekannte Tatsache, daß Rumänien zwar eine Sonderrolle spielte, diese aber nicht ins Gewicht fiel, und daß der Warschauer Vertrag keine Vorbereitungen für einen Angriffskrieg oder sonstige über die Grenzen seiner Staaten hinausgehende militärische Handlungen traf. Nach Gribkows Ausführungen gab es im Oberkommando des Warschauer Pakts auch keine Vorbereitungen für eine Invasion in Polen. Er bestätigt aber mit einem Satz, daß es bei einigen Militärs und Politikern solche Überlegungen gegeben habe. Alles in allem, ein Erinnerungsbild mit begrenztem Informationswert.Stefan DoembergSmith, Hendrik. Die neuen Russen. Gekürzte, deutsche Ausgabe. Rowohlt, Reinbek 1991, 672 S.Über die \"Perestroika\" werden wahrscheinlich Hunderte von Büchern geschrieben werden, die unter verschiedenen Aspekten und von verschiedenen Standpunkten aus jene bewundernswerten und für die westliche Mentalität mitunter schlechthin unverständlichen Vorgänge behandeln werden, die im Verlaufe der \"Gorbatschow-Ära\" auf das Leben von Millionen Menschen in der Sowjetunion von derart gewaltigem Einfluß gewesen sind. Das Buch des US-amerikanischen Journalisten Hendrik Smith sollte jedoch, wie ich meine, in dieser Masse nicht untergehen. Und zwar nicht allein deshalb, weil es von einem Augenzeugen vieler Ereignisse in verschiedenen Teilen des Sowjetreiches aus kürzestem zeitlichem Abstand geschrieben ist. Smith\' Buch enthält u.a. Interviews mit Politikern, Wissenschaftlern, Funktionären unterschiedlicher Ebenen sowie mit ganz gewöhnlichen Bürgern, die bis dahin unter ihren Mitmenschen durch nichts aufgefallen und erst dank der \"Perestroika\" zu politisch engagierten und zu selbständigen Urteilen und Handlungen fähigen Persönlichkeiten geworden, ja manchmal sogar an die \"Vorderfront\" des politischen Lebens geraten waren. Allein dadurch ist dieses Buch schon ein Zeugnis seiner Epoche. Die Einmaligkeit des von Smith \"festgehaltenen\" Moments bestand auch darin, daß ungehinderter Umgang mit ausländischenen Journalisten in jenen Jahren für die absolute Mehrheit der Sowjetbürger nicht nur neu war, sondern mitunter auch eine Form der kritischen Haltung gegenüber der offiziellen Politik darstellte.Der größte Vorzug dieses Buches ist jedoch seine Objektivität, und diese wiederum fußt erstens auf hohem beruflichen Können eines Journalisten mit Forschungsdrang, der sich nicht nur auf das moderne Verständnis des Landes, seiner Menschen und Probleme, sondern auch auf tiefe Kenntnis der Geschichte 460 JHK 1993Einzelrezensionenund der Vorgeschichte unserer Situation stützt; zweitens aut der Unerschütterlichkeit der moralisch-ethischen Bewertungen (die Tragödie der Armenier in Sumgait könne nicht die Gewaltanwendung gegen Aserbaidschaner rechtfertigen) und drittens darauf, daß der Autor kein abseits stehender Beobachter ist, der den kaleidoskopartigen Wechsel der Vorgänge bloß registriert: Ohne seine demokratischen Ansichten und damit auch seine Sympathien zu verhehlen, ist er zugleich bestrebt, nicht nur die \"neuen\", sondern auch die \"alten\" Russen zu begreifen. Sympathie erwecken muß auch das Taktgefühl, mit dem Smith die Worte seiner Gesprächspartner zitiert und mitunter davon Abstand nimmt, gewisse, ziemlich zweifelhafte, Äußerungen zu kommentieren. Ein mitdenkender Leser wird alles auch ohne Kommentar richtig begreifen.Das Gesagte bedeutet keineswegs, daß es nichts gibt, worüber man mit Smith hätte diskutieren können. Beispielsweise erscheint die Gegenüberstellung der \"Perestroika\" mit der \"Öffnung\" Japans Mitte des 19. Jahrhunderts, der Bildung des deutschen Reiches durch Bismarck, der Modernisierung der Türkei durch Atatürk oder mit der Bewegung von Mahatma Gandhi (12) angesichts sowohl der qualitativen Dimensionen der von der \"Perestroika\" eingeleiteten Veränderungen in der UdSSR als auch ihrer Wirkung auf die Weltgemeinschaft - einschließlich der eventuellen globalen Folgen eines Mißerfolgs des Reformkurses nicht ganz korrekt. Einer realen Basis entbehrt wohl auch die Mutmaßung des Autors, ein Bündnis von Gorbatschow und Jelzin Mitte des Jahres 1990 hätte das Land \"aus der politischen Sackgasse herausführen\" und \"symbolisch zum Inbegriff der nächsten Phase der Perestroika werden\" können (637).Smith widmet natürlicherweise Gorbatschow große Beachtung, und es kann sogar der Eindruck entstehen, gerade dieser letztere sei der Held des Buches, doch dem ist nicht so. Gorbatschow war - das haben viele in Rußland heute bereits vergessen oder wollen es vergessen - zweifelsohne der Motor jenes überaus dynamischen Prozesses gewesen, der sich so oder anders in der Zeit zwischen März 1985 und August 1991 entwickelt hatte. Gorbatschows Porträt ist auf vielen Seiten des Buches ohne Retusche gezeichnet, zugleich aber mit hoher Achtung, wie es sich gegenüber einem Menschen auch gehört, der es in weniger als sieben Jahren seiner Tätigkeit an der Spitze der Macht geschafft hatte, die Welt wahrhaftig zu verändern und durch improvisierte, mitunter zwangsläufige (dadurch aber retrospektivisch nicht weniger glanzvolle) Schritte Prozesse anzuregen und Kräfte ins Leben zu rufen, die letztendlich ohne Blutvergießen das grausamste und langlebigste totalitäre Regime in der Menschheitsgeschichte zerstört hatten.Die wirklichen Helden des Buches von Smith werden indes bei weitem nicht immer namentlich genannt, es sind Tausende und aber Tausende von Menschen. Der Preis ihres Heldenmuts war sehr unterschiedlich gewesen: Es gab den Heldenmut Einzelner und den der Massen, es gab Helden die ihren Mut in der Legalität, Halblegalität und Illegalität bewiesen, es gab einen Heldenmut, den man auf Millionen von Bildschirmen miterlebte, und solchen, der in der Stille einer Gefängniszelle bewiesen wurde. Doch in jedem Fall, ungeachtet der öffentlichen Resonanz, war dieser Heldenmut immer ein kleiner oder ein großer Sieg eines Menschen über sich selbst, über all das, was im Verlaufe der Jahrzehnte totalitärer Herrschaft mit derartiger Beharrlichkeit indoktriniert worden war, es war jedesmal ein Sieg der \"neuen Russen\".Serge} SlutschMorrison, John: Boris Jelzin. Retter der Freiheit. Ullstein Verlag, Berlin, Frankfurt/M. 1991, 415 S.Der Journalist, langjähriger Reuters-Korrespondent in Moskau, legt mit dieser Biographie einen interessanten Einblick in den \"einzigartigen politischen Werdegang\" Boris Nikolajewitsch Jelzins vor. Faktenund facettenreich dokumentiert der Autor den Aufstieg aus einfachen Verhältnissen über eine für sowjetische Verhältnisse eher typische Parteikarriere zum wichtigen Gegenspieler Gorbatschows und schließlich zum ersten frei gewählten Präsidenten Rußlands. Die Darstellung endet mit den dramatischen Ereignissen EinzelrezensionenIHK 1993 461vom August 1991 und Jelzins beherztem Eintreten für die demokratische Umgestaltung Rußlands. Hat dabei der Originaltitel From Bolshevik to Democrat bereits einen Vorgriff auf die Kernaussage des Buches, so ist der vom deutschen Verlag gewählte Untertitel allzu emphatisch.Als Journalist versteht es der Autor, eine Vielzahl an unterschiedlichen Informationen und Meinungen in ein Gesamtbild des nach eigenem Bekunden komplizierten Charakters Jelzins (365) zu fassen. Über weite Passagen bedient sich Morrison in seiner Darstellung einer Komplementärtechnik, indem er Jelzins Biographie mit derjenigen Gorbatschows vergleicht und sie gegeneinander abzusetzen versucht: Hier der \"Apparatschik\" Gorbatschow, der dem traditionellen System verpflichtet bleibt, dort der \"Technokrat\" Jelzin, der die Zeichen der Zeit und die Problematik des zerfallenden Imperiums erkannte und energisch handelte.Die eigentliche Stärke des Buches liegt auf de Präsentation einer beeindruckenden Fülle an Material, für das der Autor allerdings mehrmals den Beleg vermissen läßt. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem politischen \"Menschen\" Jelzin bleibt aber außen vor. Auch wirkt der mehrmalige Versuch, historische Analogien zu den Ereignissen von 1917 oder gar vom Anfang des 17. Jh. (\"Zeit der Wirren\") bemüht und wenig überzeugend.Der deutschen Übersetzung merkt man an, daß sie unter dem Druck einer schnellen Veröffentlichung für den von der Tagespolitik bestimmten Markt stand. Neben oftmals allzu lapidaren Sätzen (\"Wie Jelzin war er [Siljew] Großvater, Ingenieur und Tennisspieler ... \", 214) stört vor allem die uneinheitliche Wiedergabe der russischen Termini und Namen.Hermann-Josef VerhoevenVan Oudenaren, John: Detente in Europe. The Soviet Union and the West since 1953. Duke University Press, Durham, London 1991, 490 S.Korrekterweise müßte der Titel dieses Buches lauten: sowjetisch-westeuropäische Kontakte 1953-1990 unter besonderer Berücksichtigung (West)Deutschlands, Großbritanniens und Frankreichs. Es handelt sich um eine positivistisch anmutende Auflistung solcher Kontakte auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Bereichen. Die Darstellung beginnt mit der Regierungsebene (Gipfeltreffen und reguläre Diplomatie) und den Kontakten zwischen Parlamenten, Parteien und Gewerkschaften. Die folgenden Kapitel wenden sich den Bereichen Rüstungskontrolle und Wirtschaft zu, bevor Kultur, Kirchen und Friedensbewegungen behandelt werden. Das abschließende Kapitel ist den Bemühungen um eine europäische Sicherheitskonferenz und der KSZE-Diplomatie gewidmet. Als Quellengrundlage dienen Dokumentensammlungen (in Auswahl), Memoiren und Pressematerialien. Die internationale Forschung wird selektiv herangezogen.Die Hauptthese ist bemerkenswert einfach und erinnert an Stimmen, die man im Westen vor allem in den fünfziger Jahren und seit Beginn der Perestroika in der damaligen Sowjetunion oft hören konnte: Schuld ist Stalin! Nach seinem Tod sei ein scharfer Bruch eingetreten, der den Prozeß der Entspannung eingeleitet habe, ja die Detente habe recht eigentlich 1953 Schritt für Schritt eingesetzt. Zu Recht stellt der Autor fest, daß Entspannungspolitik im Kern auf die Anerkennung des Status quo gerichtet war und sich prozeßartig entwickelt hat. Wie er dann aber die fünfziger und frühen sechziger Jahre mit roll back- und Wiedervereinigungspropaganda, mit Berlin- und Kubakrise unter denselben Detente-Begriff subsumieren will wie die Vertragspolitik der Folgezeit, bleibt sein Geheimnis. Der Verfasser läßt nur zwei Hauptunterscheidungen zu, nämlich Stalins seit 1947 verfolgte Politik der militanten Selbstisolierung und die davor und danach praktizierten Formen der Kommunikation, der Kooperation und der vertraglichen Vereinba- 462 JHK 1993Einzelrezensionenrungen. Derart grobe Raster eignen sich indes weder für eine präzise Erfassung der Phasen im Übergang vom Kalten Krieg zur Entspannung, noch für ein angemessenes Verständnis der Außenpolitik Stalins.Gottfried NiedhartBredow, Wilfried von: Der KSZE-Prozeß. Von der Zähmung zur Auflösung des Ost-West-Konflikts. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1992, 199 S.Was aus sowjetischer Sicht der Festschreibung des Status quo dienen sollte, entwickelte einen dynamischen Prozeß, ohne den die Auflösung des sowjetischen Herrschaftssystems und des Ost-West-Konflikts nicht zu denken ist. Freilich ähnelte der KSZE-Prozeß, zu dem der Verfasser in einem von der Nachkriegszeit bis zum KSZE-Gipfel im Jahr 1990 reichenden Überblick auf knappem Raum solide und übersichtlich informiert, nicht dem, was sich die sowjetische Führung unter der von ihr immer wieder geforderten europäischen Sicherheitskonferenz vorgestellt hatte. Die sowjetische Interessenlage war durch den Wunsch nach Herrschaftsstabilisierung und Ausbau wirtschaftlicher und technologischer Kontakte bestimmt. Der Verfasser zeigt auf, wie im Westen darauf reagiert wurde. Die einen lehnten ein Abkommen auf der Basis des Status quo ab, weil damit die sowjetische Hegemonie in Osteuropa bestätigt wurde und die Breschnew-Doktrin ihren westlichen Segen erhielt. Die anderen wollten den Status quo anerkennen, um ihn gerade dadurch mittelfristig verändern zu können. Letztere Position, die den Kern der Entspannungspolitik und der für den KSZE-Prozeß unverzichtbaren Neuen Ostpolitik ausmachte, wurde in ihrer Paradoxie oft nicht verstanden und darum mit entsprechender Skepsis begleitet. Der Autor untersucht sowohl die konkreten Interessenlagen als auch die Entscheidungsabläufe und betont zu Recht, daß das KSZE-Projekt zu Beginn der siebziger Jahre ein Element des Ost-West-Konflikts war, an dessen Beseitigung niemand ernsthaft denken konnte. Im zweiten Teil des Buches, das eine Fülle von eingestreuten Dokumenten und Informationen zu Verhandlungstechnik und Konferenzdiplomatie enthält, wird die Entfaltung des KSZE-Prozesses mit all seinen Rückschlägen und Erfolgen beschrieben. Den Abschluß bildet ein eher skeptisches Kapitel über die \"Last des Erfolgs\" der KSZE angesichts der Konflikte, die das \"europäische Haus\" erschüttert.Gottfried NiedhartVorholt, Udo: Die Sowjetunion im Urteil des sozialdemokratischen Exils 1933 bis 1945. Eine Studie des Exilparteivorstandes der SPD, des Internationalen Sozialistischen Kampfbund, der Sozialistischen Arbeiterpartei und der Gruppe Neu Beginnen. Peter Lang Verlag, Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1991 (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXX], Bd. 174), 322 Seiten.Udo Vorholt stellte sich in seiner Promotionsschrift die Aufgabe, eine \"Perzeptionstopographie\" zu erstellen, die verdeutlichen soll, inwiefern die sowjetische Innen- und Außenpolitik für die Meinungsbildung des sozialdemokratischen Exils in der Auseinandersetzung zwischen demokratischem Sozialismus und Marxismus-Leninismus ursächlich war (l lf.).Er weist nach, daß die drei Gruppierungen ISK, SAP und Neu Beginnen, die zwischen SPD und KPD standen, ihre grundsätzlich positive Haltung gegenüber der Sowjetunion erst nach dem Hitler-Stalin-Pakt revidiert und sich sodann konzeptionell dem sozialdemokratischem Exilvorstand angenähert haben. Dieser sprach dem Stalinschen System konsequent jeglichen demokratischen oder sozialistischen Gehalt ab, hielt an den Totalitarismus-Vorstellungen fest, optierte jedoch gleichzeitig, aus übergeordneten staatspolitischen Gründen, für \"normale\" außenpolitische Beziehungen mit der Sowjetunion. EinzelrezensionenJHK 1993 463Kommunisten verfolgen Kommunisten. Stalinistischer Terror und \'Säuberungen\' in den kommunistischen Parteien seit den 30er Jahren. Hrsg. von Hermann Weber und Dietrich Staritz in Verbindung mit Siegfried Bahne und Richard Lorenz. Akademie Verlag, Berlin 1993.Mit dem vollständigen Zusammenbruch des \"real existierenden Sozialismus\" in der Sowjetunion und den Staaten Osteuropas bzw. der DDR haben sich wesentliche Grundlagen der historischen wie aktuellen Kommunismusforschung gewandelt. Die geschichtlichen Veränderungen machen es in der fachwissen­ schaftlichen wie öffentlichen Diskussion erforderlich, sowohl den erreichten Stand der quellengestützten Forschung zu bilanzieren, als auch die Konzeptionen sowie Methoden zu erfutern. Auf diese Art werden wichtige Vorausetzungen für die weiteren Untersuchungen und Darstellungen geschaffen. Die Tagung an der Universität Mannheim \"\'Weiße Flecken\' in der Geschichte des Weltkommunismus - Stalinscher Terror und \'Säuberungen\' in den kommunistischen Parteien Europas seit den dreißiger Jahren\" im Februar 1992, deren Beiträge im vorliegenden Band zusammengefaßt werden, stellte sich diesem Anspruch. Die Heraus­ geber verweisen in ihrem Vorwort zu Recht darauf, daß die seit den zwanziger Jahren einsetzenden \"Säuberungen\" kommunistischer Parteien von oppositionellen Funktionären und ihren Sympathisanten im Westen immer wieder untersucht und in übergreifende Zusammenhänge gestellt wurden. Die Forschung erreichte u.a. durch systematisierende Arbeiten von Conquest und Brzezinski einen beachtlichen Stand. Dennoch mußten jene, die genauer wissen wollten, \"wer die Täter, wer die Opfer waren, welche Verfol­ gungsinstanzen in Partei und Staat wann und wie repressiv agierten, wer warum entschied, vor allem wer erfahren wollte, wie groß die Zahl derer war, die ins mörderische Räderwerk gerieten\", feststellen, daß sie \"auf einen weißen Fleck in der Geschichte des Kommunismus gestoßen\" waren (14).Gegenwärtig - mit der schrittweisen Öffnung der Archive der kommunistischen Parteien - besteht die Chance, den lückenhaften Wissensstand durch umfassende Forschungen zu ergänzen und konkret nachzu­ weisen, wie terroristische Disziplinierungen und ständige \"Säuberungen\" zentrale Strukturelemente kom- 464 JHK 1993Einzelrezensionenmunistischer Herrschaft waren. Mit 35 Aufsätzen von 37 Autoren aus 11 Ländern Europas und Amerikas leistet die Publikation hierzu einen wichtigen Beitrag. Die Artikel sind von den Herausgebern, entsprechend dem Verlauf der Konferenz, so veröffentlicht, daß allgemeine Aspekte und zeitliche wie nationale Besonderheiten gleichermaßen deutlich werden. Nach einen Beitrag zu den ideologischen Wurzeln des Terrors von A. Watlin werden im ersten Komplex die Stalinschen \"Säuberungen\" der dreißiger Jahre in der KPdSU, der Komintern und einzelnen kommunistischen Parteien behandelt. F. Firsow widmet sich den \"Säuberungen\" im Apparat der Komintern, N. Steinberger beleuchtet ihre Hintergründe, P. Huberbeschreibt die Zusammenhänge der Ermordung von lgnaz Reiss, und M. Keßler untersucht den Stalinschen Terror gegen jüdische Kommunisten. Die Rolle und Funktion der Komintern im Kontext der Stalinschen \"Säuberungen\" stellt B. Bayerlein dar. Die Ereignisse in der österreichischen, der ungarischen, der jugoslawischen, der italienischen, der spanischen und der lateinamerikanischen Geschichte behandeln B. McLoughlin und H. Schafranek, J. Jemnitz, U. Vujosevic und V. Mujbegovic, R. Wörsdörfer, R. Tosstorff und J. Mothes.Dem Beispiel der KPD haben die Herausgeber einen gesonderten, umfangreichen Teil vorbehalten. S. Bahne analysiert die Verfolgungen deutscher Kommunisten im sowjetischen Exil und R. Müller die Genesis der \"Parteisäuberungen\" in der KPD. Anhand von Akten aus dem Moskauer KGB-Archiv rekonstruiert I. Scherbarkowa das Schicksal von Emigranten, die vom NKWD zwischen 1936 und 1941 an Deutschland ausgeliefert wurden. Dem Konflikt zwischen der Moskauer Parteiführung und dem Sekretariat des ZK der KPD in Paris 1939/1940 widmet sich E. Lewin. C. Tischler behandelt die Reaktion der Internationalen Roten Hilfe auf die Massenverhaftungen deutscher Emigranten in der Sowjetunion.Die weiteren Beiträge untersuchen die politischen und literarischen \"Verarbeitungen\" der Moskauer Prozesse. K. Kröhnke schreibt über autobiographische Reflexionen ehemaliger Kommunisten über die Jahre des Stalinschen Terrors, S. Barck über die Spezifik des deutschen literarischen Exils in der UdSSR. Der Brite M. Johnstone stellt die Haltung der Kommunistischen Partei Großbritaniens zu den Moskauer Prozessen dar, H.A. Walter widmet sich deren Rechtfertigung durch Ernst Bloch. Auf die gleichen historischen Vorgänge und die Kampagne gegen Andre Gide geht B. Studer ein. Die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf die frühen Schauprozesse in der Sowjetunion rückt W. Müller in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit.Die Stalinschen \"Säuberungen\" nach 1945 stehen als übergreifendes Thema für sieben Artikel. Einen vergleichenden Überblick zu den Entwicklungen in den kommunistischen Parteien Osteuropas gibt J. Foitzik. Die Entwicklung in der CSR, Bulgarien und der griechischen KP werden von J. Osers, St. Troebst und P. Noutsos dargelegt. Die geschichtlichen Erscheinungen und Hintergründe in der SBZ bzw. DDR untersuchen P. Eder, H. Weber und M.F. Scholz. Sie behandeln die Rückführung deutscher Opfer des Stalinismus aus der Sowjetunion und ihre Eingliederung in das gesellschaftliche Leben, die Vorbereitungen von Schauprozessen sowie die Anfänge der Beziehungen der SED zur Norwegischen KP.Welche Auswirkungen die Stalinschen \"Säuberungen\" auf die Tschechoslowakei noch nach 1969 hatten, beschreibt V. Mencl. Ihren Auswirkungen auf die Juden in der DDR widmet sich H. Eschwege. Die Nomenklatura in Polen analysiert St. Ehrlich. Übergreifende Aspekte stellt P. Broue dar, der Rolle und Funktion von \"Säuberungen\" im Rahmen des kommunistischen Herrschaftssystems aufzeigt.Die Beiträge sind keinesfalls von gleich hoher Qualität, nicht auf jeden Artikel werden künftig die Fachwissenschaftler gleichermaßen zurückgreifen. Doch die Herausgeber taten gut daran, die Unterschiede und inhaltliche Widersprüche bestehen zu lassen, denn auf diese Weise entsteht ein lebendiges, reales Bild der gegenwärtigen Forschung. Das vorliegende Buch wird auf lange Sicht den Standard der internationalen Kommunismus-Forschung mitbestimmen. Zum einen, weil es zeigt, daß sich Wissenschaftler mit unterschiedlicher Biographie und Denkart sowie verschiedener Generation produktiv ergänzen. Zum anderen, weil deutlich wird, daß die seit Jahren, vor allem im Westen favorisierten und anerkannten Methoden und EinzelrezensionenJHK 1993 465Konzepte die Wissenschaft auch weiterhin bestimmen werden. Darüber hinaus enthält der Band eine Vielzahl interessanter und wichtiger detaillierter Erkenntnisse, die z.T. erst durch die veränderte Situation in den Archiven der kommunistischen Parteien gewonnen werden konnten. Zusätzlich überzeugt die Publikation durch ihre fundierten und sachlichen Beiträge. Das erscheint um so wichtiger, bedenkt man, wie schnell Kommunismusforschung gelegentlich für durchsichtige Interessen in Anspruch genommen wird. Insgesamt macht das Buch deutlich, welchen Stand die internationale Forschung bisher erreicht hat. \"Weiße Flecken\" in der Entwicklung des Kommunismus, besonders der in den zwanziger Jahren einsetzenden, historisch folgenreichen \"Säuberungen\" der Kommunistischen Parteien werden noch lange bestehen. Der Band vermittelt aber die Erkenntnis, daß die gewählten Forschungsansätze und Richtungen weitergeführt werden sollten.Daniel KüchenmeisterFondation Jules Humbert-Droz: Centenaire Jules Humbert-Droz. Colloque sur L\'lnternationale communiste. La Chaux-de-Fondes 1992, 566 S.Nikolai Bucharin, mit dem er befreundet war, widmete ihm eine seiner zahlreichen Karikaturen: Mager; ein dürrer, aus einem offenen Hemdkragen ragender Hals; das vorn schon ein wenig gelichtete Haar über einer hohen Stirn; die Brille auf der spitz zulaufenden Nase. Bucharins Zeichnungen waren nie besonders schmeichelhaft, aber in diesem Fall wurde - durchaus glaubwürdig - ein Mann dargestellt, der viel sah, hörte und möglicherweise auch roch.\"Das Auge Moskaus\", so nannte man Jules Humbert-Droz im frankophonen Raum. Der protestantische Pfarrer aus dem mitten im Schweizer Jura gelegenen La Chaux-de-Fonds hatte sich im Verlauf des Ersten Weltkriegs politisch radikalisiert. Kriegsdienstverweigerer, Pazifist und Internationalist, war er in die Sozialistische Partei eingetreten. Deren linken Flügel vertrat er auf dem II. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale in Moskau. Für die Kommunistische Partei der Schweiz ins EKKI gewählt, war er bis zum 7. Erweiterten Plenum Sekretär der Komintern-Exekutive.Er leitete das lateinisches Sekretariat, das für die romanischsprachigen Länder Süd- und Westeuropas sowie für ganz Lateinamerika zuständig war. Zu seinen vielfältigen Aufgaben gehörten Reisen nach Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und in die Niederlande. Auf dem VI. Weltkongreß der Internationale hielt er den Bericht über Lateinamerika, wo gerade eine Reihe neuer Sektionen gegründet worden waren.Wie Claudia Natoli in seinem Beitrag \"Jules Humbert-Droz und die italienischen Kommunisten\" (8196) hervorhebt, war das \"Auge Moskaus\" südlich der Alpen besonders wachsam. Zwischen 1921 und 1926 nahm Humbert-Droz an allen Parteitagen der italienischen KP teil. Auf dem Kongreß von Livorno betrieb er 1921 die Abspaltung der kommunistischen Gruppen um Amadeo Bordiga (II Soviet in Neapel) und Antonio Gramsci (Ordine nuovo in Turin) von der Sozialistischen Partei.Zwei Jahre später warb er in Rom für die von Bordiga und den meisten italienischen Kommunisten strikt abgelehnte Politik der \"Einheitsfront\". Als 1924 die Fusion zwischen den Kommunisten und dem \"drittinternationalistischen\" Flügel der Sozialisten um Giacinto Menotti Serrati anstand, war HumbertDroz wieder zur Stelle. In den Jahren 1924-1926 arbeitete er auf die Ablösung der alten KP-Führung in Italien hin; Amadeo Bordiga sollte durch Antonio Gramsci ersetzt werden.Auf dem V. Weltkongreß leitete Humbert-Droz die italienische Kommission; aus seiner Feder stammen viele Beschlüsse und Resolutionen zu Fragen der Arbeiterbewegung und der Kommunistischen Partei auf der Apenninenhalbinsel, Beschlüsse und Resolutionen, die allesamt vom Weltkongreß und von den Leitungsgremien der Internationale gefällt bzw. verabschiedet wurden. Als die Bordiga-Anhänger 1925 eine parteiinterne Fraktion, das sogenannte \"Verständigungskomitee\", bildeten, sorgte Humbert-Droz für deren 466 JHK 1993EinzelrezensionenAuflösung. Er trug damit zum Sieg Gramscis und Togliattis auf dem Parteitag von Lyon 1926 bei. Im Oktober 1926 nahm er an der ZK-Sitzung teil, auf der die italienischen Kommunisten Gramscis berühmten Brief an das ZK der KPdSU diskutierten und schließlich zurückzogen.Humbert-Droz\' Freundschaft zu Bucharin beruhte auch auf einer gewissen Affinität im politischen Denken und Handeln. Anfänglich \"linker Kommunist\", gehörte er sehr bald zu jener Führungsgruppe, die Gramsci einmal - allerdings bezogen auf die KPR(B) - als den \"leninistischen Kern\" bezeichnete. Als dieser Kern sich spaltete, ging der Mann, dessen Aufgabe es war, die westlichen Komintern-Sektionen auf den Kurs der jeweiligen sowjetrussischen (und dann: internationalen) Mehrheit zu bringen, mit der Mehrheit. Das hieß 1923 mit Stalin, Sinowjew und Kamenjew gegen Trotzki, 1925/26 dann mit Stalin und Bucharin gegen die Vereinigte Opposition.In einen Loyalitätskonflikt geriet Humbert-Droz erst, als es zum Bruch zwischen Stalin und Bucharin kam. Dieses Mal wählte er einen anderen Weg als die Leitung der italienischen Kommunisten, in der Togliatti nach der Verhaftung Gramscis und nach dem Parteiausschluß Angelo Tascas tonangebend war. Während Togliatti in der Internationale mit Stalin und Thälmann zusammenging, um die von ihm zuvor bekämpfte \"ultralinke\" Wende (Sozialfaschismus-Theorie, sogenannte \"Dritte Periode\") zu vollziehen, blieb Humbert-Droz ein standhafter \"Rechter\".Als er schließlich Ende doch eine Unterwerfungserklärung abgab, nutzte ihm dies nicht mehr viel: Nach und nach aus allen wichtigen Organen der Internationale entfernt, gehörte er am Ende noch dem Politbüro der Schweizer Partei an, wurde aus dieser aber 1943 ausgeschlossen. Er trat in die Sozialdemokratische Partei ein und war von 1947 bis 1958 deren Sekretär.Humbert-Droz\' Bedeutung für die Geschichte des internationalen Kommunismus erschöpft sich nicht darin, daß er viel sah und hörte oder daß er es verstand, ganze Parteien auf die jeweilige taktische Linie der Moskauer Zentrale zu bringen. Wie kaum einem anderen Kommunisten der ersten Generation gelang es ihm vielmehr, alle wichtigen Dokumente, die durch seine Hände gingen, zu archivieren. \"Für einige Parteien, (so zum Beispiel für die französische) stellte dieses Material für lange Zeit die einzige archivalische Quelle dar, um die \'interne Geschichte\' ihrer Führungsgruppen in den 20er Jahren zu rekonstruieren. Für andere Parteien wie zum Beispiel die italienische ergänzte es in einigen nicht unwesentlichen Aspekten die Dokumentation, die die Veröffentlichung des Tasca-Archivs und vor allem die Ende der 60er Jahre erfolgte Öffnung des Parteiarchi vs bot.\" (83.)Verwunderlich ist es daher nicht, daß sich zu Humbert-Droz\' hundertstem Geburtstag im Schweizer Jura Kommunismusforscher und Historikerinnen der Arbeiterbewegung aus Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Belgien, Italien, Spanien, den Niederlanden, Jugoslawien, den GUS und den USA trafen, um ihre Forschungsergebnisse auszutauschen. Der von Pierre Broue mit einem Beitrag voller aktueller Bezüge (\"La mort du communisme? Mais quand?\") eingeleitete Tagungsband enthält vier Themenschwerpunkte: Einen im engeren Sinne biographischen Teil, der auch Referate zur Tätigkeit Humbert-Droz\' in der Schweiz umfaßt, und drei Abschnitte zur Geschichte der Kommunistischen Internationale (einzelne Sektionen, externe und interne Oppositionsgruppen und Komintern insgesamt). Der Band wird abgeschlossen durch ein Nachwort von Andre Lasserre und einen Aufruf zur Rettung und Öffnung der Komintern-Archive in der ehemaligen UdSSR.Rolf Wörsdörfer EinzelrezensionenJHK 1993 467Barry Mc Loughin/Walter Szevera: Posthum Rehabilitiert. Daten zu 150 österreichischen Stalin-Opfern. Globus-Verlag, Wien 1991, 64 Seiten.Die Grundlage der vorliegenden Broschüre sind zwei Listen, die Valentin Falin vom ZK der KPdSU im Dezember 1990 der KPÖ übergab. Seit den späten achtziger Jahren hatte die (teilweise verjüngte) KPÖFührung jahrzehntelange Versäumnisse zum Teil nachzuholen versucht. Wurden die ersten, in den siebziger Jahren erschienenen Arbeiten über die Auswirkungen des stalinistischen Terrors auf die in der Sowjetunion lebenden Österreicher von der nach 1968 \"normalisierten\" KPÖ mit Schmähungen überhäuft oder schlicht ignoriert, so gab es in der Gorbatschow-Ära eine umfangreiche Korrespondenz zwischen der Auslandsabteilung des ZK der KPÖ und Moskauer Stellen, um die Schicksale \"bewährter\" Genossen und Genossinnnen festzustellen, die im Strudel der Säuberungen verschwunden waren.Nach außen hin konnte sich die KPÖ aber zu keinem eindeutigen Bekenntnis in der Frage des Stalinismus durchringen. Die zweite, \"offizielle\" Parteigeschichte aus dem Jahre 1987 widmete dem Terror in der UdSSR eine halbe Seite.Die Herausgeber obiger Broschüre, später von der Parteiführung beauftragt, die Geschichte der österreichischen Politemigranten in der Sowjetunion aufzuarbeiten, stießen bei ihrer Arbeit auf massiven parteiinternen Widerstand. Nicht besser erging es den 1990 gewählten Parteivorsitzenden Susanne Sohn und Walter Silbermayr, die den Groll der Unverbesserlichen auf sich zogen, weil sie die Erhellung dieses dunklen Kapitels des österreichischen Kommunismus finanzielll und moralisch unterstützten. Im Sommer 1990 ließen es \"alte\" und \"neue\" Parteistalinisten bei der Enthüllung einer Gedenktafel am Haus des ZK in Wien zu einem Eklat kommen: Innerhalb weniger Minuten hatte man die Tafel mit roter Farbe beschmiert. Einige Monate später - im März 1991 - traten Sohn, Silbermayr sowie ein Großteil der ZK-Mitglieder aus der KPÖ aus.Und weil der konservative Parteiapparat immer mehr an Terrain gewann, mußte obige Broschüre in großer Eile zusammengestellt werden. Sie erschien im Februar 1991, kurz vor dem Abgang der liberalen Führungsgarnitur. Dieser politische Hintergrund erklärt zum Teil die irritierenden Druckfehler und stilistischen Unzulänglichkeiten des vorliegenden Büchleins.Den Kern der Dokumentation bildet die deutsche Übersetzung der russischen Rehabilitierungstexte, ergänzt durch die Kurzbiographien, die von den Autoren zusammengestellt wurden. Natürlich spiegeln diese Daten sowie die im Nachwort aufgestellten Thesen den Wissensstand von 1990. Inzwischen ist über ein Großteil der 150 im russischen Originaldokument aufgelisteten Opfer mehr bekannt; auch die Rolle Ernst Fischers bei der Bestrafung \"schlechter Elemente\" muß differenzierter dargestellt werden, als die Autoren Anfang 1991 versuchten. Die in der Broschüre zitierten Briefe Fischers waren - wie wir heute wissen - sozusagen das letzte Glied in der Kette bürokratischer Parteikontrolle und Disziplinierung. Fischer, als österreichischer EKKI-Vertreter in solchen Angelegenheiten eine Art \"letzte Instanz\", dürfte die zur Ausweisung aus der UdSSR vorgeschlagenen Schutzbündler persönlich nicht gekannt haben. Er berief sich auf Kaderunterlagen, die die Vertrauensmänner im jeweiligen Schutzbündlerkollektiv (Moskau, Leningrad, Charkow, Gorki und Rostow) erstellt hatten.Über einige der 150 rehabilitierten sind heute so gut wie keine Informationen vorhanden. Für die sowjetischen Stellen waren in diesem Kontext bei der Bestimmung von \"Österreichern\" nicht die Grenzen der Alpenrepublik von 1918 bis 1938 maßgeblich, sondern jene von 1914, so daß auch Ungarn, Tschechen, Polen usw. in der Liste aufschienen. Bei den anderen Opfern erfährt man zum ersten Mal über die Anklage und das Strafmaß - in 47 Fällen wurde das Todesurteil verhängt und vollstreckt. Auskünfte über das weitere Schicksal der zu Lagerhaft Verurteilten scheinen - falls sie überlebten - nur in wenigen Fällen auf. Letzterer Umstand konnte mittlerweile anhand von NKWD-Strafakten erklärt werden: Mit der Urteilsverkündung schloß der Untersuchungsrichter die Akte ab. Alle weiteren Korrespondenzen über das 468 JHK 1993EinzelrezensionenOpfer fielen in die Kompetenz der für das GULagsystem verantwortlichen Hauptverwaltung des NKWD und werden heute nicht zentral, sondern in der jeweiligen Milizverwaltung am fraglichen Lager- bzw. Verbannungsort aufbewahrt.Die Zahl der zwischen 1930 und 1945 in der UdSSR verhafteten österreichischen Polit- und Wirtschaftsemigranten kann man heute mit 600 bis 1.000 beziffern.Hans SchafranekPavlovic, Zivojin: Bilanz des sowjetischen Termidors [Bilans sovjetskog termidora]. Hrsg. und kommentiert von Slobodan Gavrilovic. Titovo UUzice1989.Die in den letzten Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg verfaßte und 1940 in Belgrad publizierte Schrift wurde durch die damalige Staatszensur verboten und noch in der Druckerei beschlagnahmt. In der sozialistischen Periode wurde sie verschwiegen und allmählich fast vergessen. 1989 kam sie aber wieder ans Tageslicht, herausgegeben und kommentiert von Slobodan Gavrilovic.Der Autor gehörte mit seiner publizistischen Tätigkeit in den dreißiger Jahren - besonders mit seinem Buch über Stalins Termidor - zu jener zahlenmäßig kleinen ideologischen Gruppierung europäischer Kommunisten, die sich schon frühzeitig, im Gegensatz zu der offiziellen Parteilinie, zu einem antistalinistischen Bund zusammenschlossen. Auch wenn er mit seiner Schrift seine Landsleute in der Sowjetunion nicht mehr retten konnte, so veröffentlichte er sie, wie er sagte, als moralische Geste und als Zeichen der Wahrheit und des Gewissens. Seine Abhandlung bezeugt vor allem eine relativ klare Sicht auf die sowjetischen Vorgänge und die politischen Prozesse, die zu der Diktatur des allmächtigen Stalins führen sollten, sowie seine antidogmatische Einstellung, die für die damaligen Verhältnisse in der KP Jugoslawiens einzigartig war.\"Den Opfern des Stalinschen Terrors\" gewidmet und mit dem Untertitel \"Darstellung und Eröffnungen über die Aktivität und Organisation des Stalinschen Terrors\" versehen, präzisierte er sein Thema. Er gliederte seine Arbeit in fünf Kapitel: 1. Die Demokratie und das Recht auf Kritik in der Partei, 2. Die Liquidierung der Staatsmänner, Offiziere und hohen Beamten, 3. Die Liquidierung der Parteifunktionäre - Prozesse, 4. Komintern und ausländische Parteien, 5. Die Wahrheit über die Prozesse in der Sowjetunion.Doch wer war eigentlich Zivojin Pavlovic? Noch als Gymnasiast kämpfte er als Freiwilliger auf der serbischen Seite im Ersten Weltkrieg. 1919 trat er in Uzice dem Kommunistischen Jugendverband (SKOJ) bei und studierte von 1920 bis 1923 in Belgrad Jura. Schon damals begann seine journalistische Tätigkeit in der kommunistischen Presse. In den Jahren 1924 bis 1926 war er - verschiedenen Angaben zufolge wahrscheinlich in der Sowjetunion und später als Korrespondent der Belgrader \"Prawda\" in Skopje. Nach der Januar-Diktatur König Alexanders im Jahre 1929 emigrierte er über Istanbul nach Paris, wo er ganze zehn Jahre wichtige Positionen in der KPJ besetzte: Parteisekretär für die Emigration, Editor des Parteiorgans \"Proleter\", Eigentümer und Administrator der Parteibücherei \"Horizonti\" etc.. Er war auch als Mitarbeiter in den internationalen Organen der \"Roten Hilfe\" in Paris tätig und bei der Organisierung jugoslawischer Freiwilliger für den Spanischen Bürgerkrieg aktiv. Verheiratet mit einer Französin, lebte er in Versailles und hatte gute Verbindungen zu progressiven und intellektuellen Kreisen. Nach der Verhaftung des KPJ-Parteisekretärs Milan Gorkic in Moskau wurde er aller Parteiposten enthoben und als \"Gorkicevac\" aus der KPJ ausgeschlossen. 1940 kehrte er nach Belgrad zurück, wo er als Journalist im Regierungspressebüro beschäftigt war und die Bilanz des sowjetischen Termidors publizierte.Die einzige zeitgenössische Kritik kam aus dem KPJ-Parteizentrum und zwar von Milovan Djilas, Mitglied des Zentralkomitees, der in der Zeitschrift \"Kommunist\" eine vernichtende Kritik schrieb. Der EinzelrezensionenIHK 1993 469zukünftige größte Dissident der KPJ klagte Pavlovic als Provokateur und Parteifeind an, der sich mit Lügen und Verleumdungen gegen Stalin, die Sowjetunion und die Komintern wenden würde.Im November 1941 wurde Pavlovic in der befreiten Stadt Uzice (\"Die Uzice-Republik\"), nachdem er große Torturen durch seine Parteigenossen zu erleiden hatte, als \"Polizeiagent\" ermordet. Ursache seines tragischen Schicksals waren seine unabhängige, undogmatische Haltung, seine Verbundenheit mit dem in Moskau zum Tode verurteilten Milan Gorkic und vor allem seine Termidor-Schrift. All dies veranlaßte die damalige Parteiführung, ihn als ehemaligen \"Trotzkisten\", \"Polizeikonfidenten\" und \"Großen Verräter\" hinzurichten. Obwohl die Parteispitze der KPJ einen Befreiungskrieg im Lande begann und eine relativ selbständige Linie und Taktik in diesem Krieg verfolgte, waren die stalinistischen Dogmen noch immer tief und unangetastet im Parteibewußtsein verwurzelt. Fast alle ehemaligen Trotzkisten, d.h. alle diejenigen, die in der KPJ für diese \"Sünde\" abgestempelt waren, hatten die Wahl vom vollständigen Mißtrauen der Partei bis zum Todesurteil.Die Schrift Pavlovics hat über die Zeit ihres Erscheinens hinaus Bestand. Fast alle Angaben haben sich im nachhinein als richtig erwiesen. Es ist besonders merkwürdig, daß nur sehr wenige Fehler bzw. falsche Einschätzungen enthalten sind. Der Autor verfügte in Paris über erstrangige Quellen und solide dokumentarische Grundlagen.Vera MujbegovicGligorijevic, Branislav: Komintern, jugoslawische und serbische Frage [Korninterna, jugoslovensko srpsko pitanje]. Belgrad 1992, 340 S.Der bislang nur als Nationalhistoriker bekannte Belgrader Wissenschaftler Branislav Gligorijevic beschäftigt sich schon seit längerem mit Forschungsproblemen der Komintern. In seiner 1983 veröffentlichten Studie \"Zwischen Dogma und Revolution\" erforschte er die politische Biographie des jugoslawischen Kommunisten serbischer Herkunft Vojislav Vujovic (Mitglied des Exekutivkomitees der Komintern und der Kommunistischen Jugendinternationale), der zusammen mit seinen zwei Brüdern in der Sowjetunion zum Tode verurteilt worden war. In seiner neuesten Arbeit beschäftigt sich der Autor mit einem höchst aktuellen und komplizierten Problem, nämlich mit der nationalen Frage Jugoslawiens im Licht der Komintern-Politik von 1919 bis 1936.Die zur Zeit in tragischer Form aktuelle Frage des Selbstbestimmungsrechts der Völker in den jugoslawischen Ländern, veranlaßt gewöhnlich die Historiker, sich mit den tieferen Ursachen und historischen Wurzeln der gegenwärtigen Krise zu befassen. Doch ist bei der heute zu beobachtenden scharfen Polarisierung zwischen Anhängern und Feinden des Nationalismus dieses Interesse nicht nur rein wissenschaftlich motiviert. Es geht auch um die historische Begründung der aktuellen Politik, die vorgeblich im Namen nationaler Interessen geführt wird. Der jugoslawischen Öffentlichkeit ist in den letzten Jahren die Auffassung suggeriert worden, die Wurzeln der nationalen Katastrophe in Jugoslawien seien schon in der Kominternpolitik zu suchen, und das Selbstbestimmungsrecht der jugoslawischen Völker sei in den letzten vierzig bis fünfzig Jahren auf Kosten des serbischen Volkes verwirklicht worden. In der extremsten Variante dieser Position fungiert die Komintern gar als Urheberin einer angeblichen Verschwörung gegen Serbien, die im 20. Jahrhundert geschmiedet worden sei und in der jetzigen Krise gipfele.In seiner Arbeit will der Verfasser unter anderem die Grundhypothese für die historische Verantwortung der Komintern belegen, wobei ihm die linksradikale und sektiererische Politik dieser Organisation, insbesondere in den Jahren von 1924 bis 1935 in vielen Punkten entgegenkommt. Im Gegensatz zur bisherigen, meist unkritisch-apologetischen Geschichtsschreibung (1960-1985), die zur Glorifizierung der Politik der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ) führte, hat Gligorijevic eine ausgesprochen 470 JHK 1993Einzelrezensionenkritische Sichtweise, vor allem im bezug auf die frühe Phase der Komintern-Geschichte. Gerade in diesen Zeitabschnitt, die postleninistische Periode, fallen die meisten Wirrungen und Irrungen der Komintern in der jugoslawischen Frage. Die antijugoslawische und gegen den Versailler Vertrag gerichtete Politik der Komintern, erstmals auf dem V. Kongreß 1924 formuliert, kulminierte auf dem 1928 abgehaltenen VI. Kongreß. In den folgenden Jahren wurde sie dann allmählich modifiziert bis sie schließlich 1935 überwunden wurde. Deshalb richtet sich auch das Hauptaugenmerk Gligorijevics auf die Kominternpolitik bis 1936. Die spätere antifaschistische Periode nach 1935 eignet sich hingegen nicht als Beleg für die These, die Komintern habe die Auflösung des jugoslawischen Staates propagiert.Der Autor stellt in sieben Kapiteln das Verhältnis der KPJ zur Komintern unter der Perspektive der nationalen Frage Jugoslawiens dar. In den beiden ersten Kapiteln rekonstruiert er die inneren und äußeren Faktoren der Entstehungsgeschichte des jugoslawischen Kommunismus. Im Mittelpunkt steht dabei der Einfluß der Komintern. Er befaßt sich mit der Begründung der kommunistischen Bewegung in Jugoslawien und der Komintern und mit dem Beginn der Arbitrage-Politik der Komintern. Kapitel drei bis sieben sind der Wechselbeziehung zwischen den Fraktionskämpfen in der KPJ mit ihren nationalen Besonderheiten und den verschiedenen politiktheoretischen Lösungsansätzen der nationalen Frage gewidmet. So der Strategie der nationalen Teilungen und Abspaltungen, den Fraktionen und der Schaffung einer monolithischen Partei, der jugoslawischen Variante des Stalinismus, der serbischen Frage sowie der Kontinuität nach dem Stalin-Tito-Konflikt.Der Autor hat faktisch alle wesentlichen Aspekte des Verhältnisses zwischen Komintern und KPJ in der nationalen Frage bis 1936 ausgeleuchtet und dabei sein besonderes Interesse auf die Fraktionskämpfe gerichtet. Die Auseinandersetzungen innerhalb der KPJ sind bis in die dreißiger Jahre hinein streng analytisch und präzise behandelt. Die Darstellung der späteren Periode stellt jedoch einen methodischen und interpretatorischen Rückfall dar. Denn die historisch-systematische Methode wird mit publizistischer Deskription verwechselt, inhaltsreiches historisches Material auf engem Raum zusarnmengepreßt und - als Beleg für seine Grundthese - mit einseitig und parteilich ausgewähltem Tatsachenmaterial unterfüttert. Die \"serbische Frage\" wird künstlich konstruiert, weil sie in dem \"Probleminventar\" der Komintern als solche gar nicht existierte. Oder - um es im Sinne des Autors zu formulieren - die Komintern hat die serbische Frage gestellt, um sie völlig zu ignorieren.Schematismus und Dogmatismus - so charakteristisch für die stalinistische Epoche - haben auch in der nationalen Frage zu Verwirrungen geführt. Da der jugoslawische Staat im Jahre 1918 entstand, hat man ihn als \"Versailles-Schöpfung\" bezeichnet, und weil die nationale Frage dieses Königreichs nicht zur Zufriedenheit aller beantwortet worden war, betrachtete man Jugoslawien als Provisorium und jederzeit als besser organisierbar. Von der Auflösung des jugoslawischen Staates bis zu seiner Umwandlung in eine Föderation jugoslawischer Völker oder Balkanländer variierte die Komintern von 1924 bis in die dreißiger Jahre ihre Politik, wobei alle Fraktionen, Gruppen und führende Personen der KPJ in diesen widerspruchsvollen Prozeß involviert waren. Schon vor dem 1920 stattgefundenen II. Weltkongreß der Komintern hatte man die nationale Frage als einen der mächtigsten Hebel für die Destabilisierung und mögliche Zerstörung der kapitalistischen Staaten propagiert. Dies galt im Rahmen der weltrevolutionären Konzeption und globalen Strategie der Komintern auch für das monarchistische Regime Jugoslawiens. Die Haltung der Komintern zur nationalen Frage kann man ohne Berücksichtigung des Prozesses der Radikalisierung innerhalb der Komintern nicht verstehen. Dieser Prozeß der sogenannten Bolschewisierung und des allgemeinen Sektierertums, der ab 1924 allmählich einsetzte, sich immer weiter steigerte und in den dreißiger Jahren kulminierte, bildet den zu beachtenden historischen Kontext, vor dem die Komintern- und die KPJ-Politik korrekt und objektiv rekonstruiert werden können. Dann ist auch kein Platz mehr für die These einer Benachteiligung des serbischen Volkes, sondern Raum für die Einsicht, daß die Kominternund KPJ-Politik vor allem gegen das unitaristische Königtum gerichtet waren. EinzelrezensionenJHK 1993 471Der Autor kritisiert zu recht die schiefe und verwirrende Politik der Komintern in der nationalen Frage Jugoslawiens von 1924 bis 1935. Es ist ihm aber nicht beizupflichten, wenn er die nationale Politik der KPJ ab 1935/36 nur im Sinne einer Konstante der Auflösungstendenzen in historischer Kontinuität betrachtet, obgleich die Politik der KPJ in der nationalen Frage nicht ohne Umwege und Fehler, Dogmen und Irrtümer war.Die Bestrebungen der Komintern zur Auflösung des jugoslawischen Staates waren eine langwierige, aber vorübergehende Etappe der KPJ-Politik, die in Jugoslawien selbst keine größere Anhängerschaft oder gar Rückhalt in der Bevölkerung finden konnte. Diese Politik konzentrierte sich auf den auch teilweise emigrierten engen Kreis der Führung einer zahlenmäßig kleinen und illegalen Partei. Viel stärker hat sich dem Gedächtnis heutiger Generationen das Ziel der KPJ eingeprägt, den jugoslawischen Staat vor dem Faschismus zu retten und zu bewahren. Mit diesen Ideen ist die KPJ in den Befreiungskampf von 1941 bis 1945 eingetreten und hat auf dieser Grundlage den neuen föderativen Staat Jugoslawien nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geschaffen.Vera MujbegovicRohrwasser, Michael: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten. Metz/ersehe Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1991, 412 S.Rohrwassers äußerst detail- und faktenreiche Studie über die Literatur von Exkommunisten beschäftigt sich mit den wirkungsvollen Mechanismen des Stalinismus, Kritiker, die den Bruch mit der Partei vollzogen hatten, als \"Renegaten\", \"Abtrünnige\" und \"Verräter\" in der Parteiöffentlichkeit bzw. im Umfeld der kommunistischen Parteien zu isolieren. In einer mehrschichtigen Untersuchungsweise analysiert der Autor die Struktur und die Wirkungsweise dieser pejorativ gebrauchten Denkfigur stalinistischer Propaganda. Er behandelt darüber hinaus die in verschiedenen literarischen Formen verarbeiteten Motive des Abschieds von der \"kommunistischen Weltbewegung\" und den Stellenwert dieses Prozesses für die Renegatenschriftsteller. \"Was sie schrieben und warum, wie sie schrieben und welche Bedeutung das Schreiben für ihre Loslösung hatte\" (19), sind die Fragen, die sich der Verfasser gestellt hat. Waren einige der Autoren schon als Kommunisten schriftstellerisch tätig, so nimmt bei vielen der Prozeß des Schreibens erst nach dem Parteiaustritt eine katalysatorische Funktion ein, der zum zentralen Element einer Identitätssuche im \"Niemandsland\" zwischen den politischen Fronten wird. Das Schreiben wird -zu1 m Emanzipationsprozeß, der die komplementäre Gegenläufigkeit des Lagerdenkens zu sprengen sucht, so lautet eine der zentralen Hypothesen des Buches (36). Die Mehrzahl der Renegaten versuchte für sich den Anspruch zu wahren, der Idee des Sozialismus treu zu bleiben und den Stalinismus als fundamentale, zuweilen traumatisch besetzte Abweichung von der Tradition des Marxismus zu verarbeiten: der Renegat als Typus des aufklärerischen Intellektuellen oder des rebellierenden Ketzers auf der Suche nach einem dritten Weg zwischen den Lagern. Sich außerhalb der kommunistischen Partei, \"extra muros\", befindend, galten ehemalige Anhänger kommunistischer Politik als \"Feinde\", \"Agenten\", \"Schädlinge\". In der Parteipublizistik wurden nach der Stalinisierung kontroverse, abweichende, kritische Positionen nicht mehr bekanntgegeben und waren somit für die Mitglieder und Anhänger nicht weiter nachvollziehbar.Die Renegaten stießen aber auch während der Volksfront und im Zeichen des weltpolitisch polarisierten Klimas nach Ende des Zweiten Weltkriegs von anderer Seite auf Mißtrauen. \"Bei Euch geht es zu wiebei Shakespeare\", soll der amerikanische Filmkomiker Charlie Chaplin zu dem deutschen KomponistenHanns Eisler gesagt haben (30). Er bezog sich auf das Schicksal der Verräter in dessen Königsdramen, auf ihre Verfemung nicht nur im Lager, das sie verlassen hatten, sondern auch auf das Mißtrauen, das ihnen im gegnerischen Lager begegnete. 472 JHK 1993EinzelrezensionenRein historische Werke und die politische Publizistik der Exkommunisten bleiben bei der vorliegenden Untersuchung ausgeklammert. Bei dieser, für die historische Forschung schwer zugänglichen Form der Renegatenliteratur dominiert weniger analytische Durchdringung als individuelle Abrechnung, Rechtfertigung und Aufarbeitung des Bruchs mit der kommunistischen Partei. Insofern beschäftigte sich Rohrwasser nur mit einer Minderheit der Exkommunisten, die publizistisch Stellung zu ihrem Entschluß nahmen. Um die Vielschichtigkeit dieser Arbeiten kenntlich zu machen, widmete Rohrwasser sechs von 170 erfaßten und im Text behandelten Autoren gesonderte Kapitel und Teilkapitel: dem Parteischriftsteller Georg K. Glaser, Alfred Kantorowicz, dem Kominternagenten Richard Krebs (Pseudonym: Jan Valtin), dem sowjetischen Geheimdienstmann Walter Krivitsky (d.i. Samuel Ginsberg) und dem ehemaligen Mitarbeiter Münzenbergs und späteren Politkommissar im Spanischen Bürgerkrieg, Gustav Regler. Bislang Unbekanntes wird über Robert Bekgran zusammengetragen, einen deutschen Anarchisten, der 1930 der Communist Party of the USA (CPUSA) beitrat und, desillusioniert von der Niederlage der Spanischen Volksfront und den Nachrichten von den Moskauer Prozessen, mit der Zeitschrift \"Gegen den Strom\" ein Sprachrohr unterschiedlicher oppositioneller Stimmen im Einflußbereich der Kommunistischen Partei organisierte. Jeder dieser Renegaten verkörpere, so Rohrwassers Schlußfolgerung, einen Fall sui generis. Eine Typologie des Renegaten wird anhand der Analyse politischer Biographien und des Herausdestillierens bestimmter Merkmale (Grad der Verwurzelung in der kommunistischen Organisation, Generationsunterschiede, Nationalität, Klassenherkunft, Geschlecht und religiöse Gebundenheit, Beweggründe für den Parteiein- und -austritt und das politische Verhalten nach der Loslösung) zu entwickeln versucht. Doch konnten dies nur Annäherungen bleiben, ein Idealtypus ließ sich nicht finden. Denn nach Isaac Deutscher marschierte die Legion der Renegaten nicht in geschlossener Formation, vielmehr trügen diese wie Fahnenflüchtige alte Stücke ihrer Uniform, ergänzt durch verschiedene neue Flicken (264). So endet auch der Werdegang nach der Trennung von der Kommunistischen Partei in unterschiedlichen politischen Lagern. Das Spektrum reicht vom \"heimatlosen\" Sozialisten bis zum Anhänger militant-antikommunistischer Positionen in der Zeit des Kalten Krieges, zuweilen auch bis zu einer pessimistischen, sogar nihilistischen Weitsicht (268f.).Rohrwasser verweist auf die Bruchstellen für die Renegaten, die eng mit der Politik der UdSSR und der Komintern verknüpft sind: die Moskauer Prozesse, die Stalinsche Außenpolitik im Spanischen Bürgerkrieg und der Terror hinter den Frontreihen (gipfelnd in dem verbreiteten Spruch \"Gegen Franco ging es uns besser\"), der Pakt zwischen Hitler und Stalin sowie am Beispiel Walter Krivitskys und Richard Krebs die Säuberungsarbeit der Geheimapparate der UdSSR und der Komintern.Die Aufzeichnungen der Renegaten vermitteln ein bisher noch unzureichend ausgelotetes Bild von den extremen Reibungsverlusten stalinistischer Politik, die zu einem Ausbluten von intellektuell-kritischen Potentialen führte. In den akribisch erarbeiteten Detailstudien eröffnen sich Einblicke in den Bewußtseinswandel der Renegaten, aber auch die Problematik rückblickender Rechtfertigung in den autobiographischen Aufzeichnungen. Im Falle Gustav Reglers wird die Funktionalisierung des kommunistischen Renegaten in der nationalsozialistischen Propaganda ausgeleuchtet (!0lff.). Anhand Richard Krebs/Jan Valtins abenteuerlich-romanhafter Darstellung wird die Problematik ihres Quellenwerts behandelt, zumal Krebs mit seinen Aussagen vor dem Dies-Komitee, dem Vorläufer der Mc-Carthy-Ausschüsse, auch jüdische Einwanderer und kommunistische Emigranten belastete (205).Unzählige, zum Teil bisher kaum ausgewertete, Reaktionen prominenter und weniger prominenter \"dabeigebliebener\" Intellektueller auf die publizistischen Äußerungen der Abtrünnigen erschließen die Flexibilität des Lagerdenkens im Einflußbereich der UdSSR: Persönlichkeiten wie Ernst Bloch, Lion Feuchtwanger, Bert Brecht und andere reproduzierten die stalinistische Ideologie des Verrats. Aus der Sicht der Partei, so Rohrwasser, konnte es keine politisch begründete Wandlung zum Ex-Kommunisten EinzelrezensionenJHK 1993 473geben. Nach Orwellscher Manier verfälschte die Parteipresse den Werdegang der ehemaligen Anhänger zu einer bruchlosen Kette des Verrats, dem die Parteiintellektuellen und Prominenten zu folgen bereit waren.Was bietet die Arbeit für die historische Kommunismusforschung? Rohrwassers Verdienst liegt darin, einen kritischen Zugang zu dieser besonderen Form historischer Quellen eröffnet zu haben, indem er ihren Aussagewert präzise auslotet. Seine Arbeit ist eine wertvolle und wissenschaftlich originelle Ergänzung der Analysen und Dokumentationen etwa von David Pike und Reinhard Müller. Ergänzt wurde die Arbeit, eine Habilitationsschrift, durch einen umfangreichen Anhang biographischer Angaben. Hilfreich ist die Skizze der Entstehungsgeschichte des Renegatenbegriffs und seine Einordnung in das Spektrum abtrünnigen Verhaltens (\"Wörterbuch der Verdammungen\", 26ff.) sowie der systematische Vergleich des Stalinismus mit der hermetischen Ideologie der frühneuzeitlichen Katholischen Kirche. Rohrwasser zeigt anschaulich an den Aufzeichnungen der politischen Ketzer, wie naheliegend ihnen selbst der Vergleich der Stalinschen Säuberungen mit der kirchlichen Inquisition schien (55ff.). Allerdings enthält die Untersuchung gerade an diesem Punkt eine Schwäche, da keine profunde Erklärung für die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen der Sowjetunion seit Ende der zwanziger Jahre und die Frage nach der sozialen Natur des Stalinschen Herrschaftssystems angeboten wird. Dies kann zu zwar verständlichen, aber ahistorischen Interpretationen führen. Der ehemalige DDR-Dissident und Schriftsteller Günter Kunert sieht in seiner Besprechung in der \"Frankfurter Allgemeinen Zeitung\" vom 15.2.1992 ähnliche Konfrontationen zwischen \"Systemimmanenten\" und \"Nestflüchtern\", die bis heute noch nachwirken. Doch wäre es verfehlt, politisches Engagement für die Politik des internationalen Kommunismus auf eine reine Glaubensfrage zu reduzieren und die schweren ideologischen Auseinandersetzungen in der kommunistischen Sozietät mit dem Schema eines Glaubenskrieges zu erklären zu versuchen. Die Erkenntnisse des Buchautors müssen \"historisierend\" in die politik- und sozialgeschichtliche Untersuchung des Aufstiegs und Niedergangs des Stalinismus bzw. der tiefen Krise des internationalen Systems nach dem Ersten Weltkrieg eingeordnet werden. So läßt sich die Attraktivität der Volksfrontpolitik der Komintern auf linksbürgerliche Intellektuelle erklären und ihre Bereitschaft, Nachrichten vom Terror der Schauprozesse oder vom Verschwinden bekannter linker Künstler, Intellektueller in den Straflagern als notwendiges Übel hinzunehmen. Rohrwassers Arbeit ist dennoch ein wichtiger Beitrag für die Untersuchung sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Fragen der historischen Kommunismusforschung.Thomas HeimannPeter Lübbe (Hrsg.): Abtrünnig wider Willen. Aus Briefen und Manuskripten des Exils/Ruth Fischer, Arkadij Maslow. Mit einem Vorwort von Hermann Weber. Oldenburg Verlag, München 1990, 675 S.Ruth Fischer (1895-1961) und Arkadij Maslow ( 1891-1941) waren die führenden Köpfe der Linken in der KPD von 1920 bis 1925. Ruth Fischer war 1921 bis 1924 Politische Sekretärin der Bezirksleitung BerlinBrandenburg der KPD und wurde 1924, mit dem Frankfurter Parteitag, Sekretärin des Politbüros. Maslow, Lebensgefährte Ruth Fischers seit 1920, leitete mit ihr die Berliner Parteiorganisation, war der theoretische Kopf des linken Flügels der KPD und gehörte dem Zentralausschuß bzw. dem ZK der KPD an. Beide wurden auf Intervention der Komintern 1925 aus der KPD-Führung verdrängt, 1926 ausgeschlossen. In den linkskommunistischen Gruppierungen der Weimarer Republik hatten beide nur eine Randbedeutung. Nach ihrer Flucht vor den Nazis, 1933, arbeitete Ruth Fischer zeitweise eng mit der internationalen trotzkistischen Bewegung zusammen, 1936 sammelte sie mit Maslow in der \"Gruppe Internationale\" eine kleine Schar von Anhängern um sich. Während Fischer 1940 ein Visum in die USA erhielt, konnte Maslow 474 JHK 1993Einzelrezensionenzunächst nur nach Kuba einreisen, wo er 1941 unter immer noch ungeklärten Umständen zu Tode kam. Fischer arbeitete in der Folgezeit als Kommunismusexpertin für die US-amerikanische Regierung, publizierte in den fünfziger Jahren eine Vielzahl von Artikeln und Büchern über den internationalen Kommunismus.Die von Peter Lübbe vorgelegte Dokumentation besteht aus vier Teilen: Briefen von und an Fischer/ Maslow aus den Jahren 1934 - 1961; Manuskripte Maslows aus dem Zeitraum 1935 - 1941; Manuskripte Fischers 1941 - 1961 und Dokumente Dritter aus den Jahren 1934 bis 1961. Eine ausführliche Einleitung Lübbes, die den Lebensweg beider rekapituliert, eine Bibliographie der Veröffentlichungen Ruth Fischers seit ihrem Exil (für die zahlreichen Zeitschriftenartikel leider nur eine Auswahlbibliographie), ein Personenverzeichnis mit Kurzbiographien sowie etliche seltene Photos runden den Band ab.Zweimal in ihrem Leben mußten Ruth Fischer und Arkadij Maslow ihre Bibliothek ganz oder teilweise hinter sich zurücklassen. 1933, bei der Flucht aus Berlin (eine aus der Erinnerung niedergeschriebene Liste von Briefen und Dokumenten aus KPD und Komintern, die den Nazis in die Hände fielen, befindet sich auf den Seiten 327-332) und 1940, bei der Flucht aus Paris. In den folgenden Jahren entstand erneut eine voluminöse Sammlung von Briefen (13.752 Einheiten) und Manuskripten, die in der Houghton Library der Harvard University aufbewahrt werden. Peter Lübbe präsentiert daraus eine Auswahl von 189 annotierten Dokumenten, je zur Hälfte Briefe und Manuskripte.Die dort angeschnittenen Themen sind äußerst vielfältig. Sie betreffen die Entwicklung in der KPD und Komintern seit 1920, den deutschen Oktober 1923, die Umstände der Flucht aus Deutschland, das kommunistische Exil in der Tschecholowakei, die Lebensverhältnisse im Exil in Frankreich, den USA und auf Kuba, Auseinandersetzungen im französischen Exil, etwa die Affäre um das \"Pariser Tageblatt\". Immer wieder eingestreut sind Kommentare über die Entwicklung der Komintern seit 1933, über die Volksfront in Frankreich, den Bürgerkrieg in Spanien und andere aktuelle Ereignisse, den Hitler-Stalin-Pakt, politische und militärische Konstellationen des II. Weltkrieges. Die dubiosen Umstände von Maslows Tod in Havanna, 1941, werden neu ausgeleuchtet, wenn auch nicht restlos aufgehellt. Die Dokumente aus den Jahren nach 1941 werfen vor allem ein Licht auf Fischers Kampf gegen die \"Fünfte Kolonne\" in den USA und ihre Einschätzung der Nachkriegsentwicklung des Kommunismus, die 1956, nach dem XX. Parteitag der KPdSU, umschwenkte von völliger Skepsis zu ebensolch großem Enthusiasmus.\"Abtrünnig wider Willen\", damit hat Peter Lübbe treffend die politische Haltung Fischers und Maslows beschrieben, die keineswegs, auch wenn der Herausgeber dies gelegentlich andeutet, zu den besonders hellsichtigen Kritikern der Entwicklung der internationalen Arbeiterbewegung nach 1917 gehörten. Zwar schrieb Maslow schon 1934 an Fischers Sohn Gerhard Friedländer, die \"Übergangsform\" in der SU sei \"übel genug, nicht, weil sie zum Sozialismus geht und zeitweilig harte materielle Schwierigkeiten bringt, sondern weil sie vom Sozialismus wegführt und ideologisch alles vergiftet hat\" (52). Zwar finden sich immer wieder bissige Kommentare Maslows über die verlogene stalinistische Propaganda und die tatsächliche Lage in der SU, über die \"Entartung der proletarischen Diktatur\" (348), die sich unter anderem in einem \"barbarisch niedrigen Kulturniveau\" (349) zeige. Maslow begrüßt die spanische Revolution als \"frischen Luftstrom in der Muffluft\" (65), sieht in ihr aber gleichzeitig eine Bestätigung der \"durch die Sozialdemokraten sowieso immer abgestrittenen allgemeingültigen Erfahrungen der russischen Revolution, die theoretisch von Marx und Lenin niedergelegt wurden\" (65). Erst 1941, nach der erneuten Lektüre von \"Staat und Revolution\", überlegt Maslow dann, \"wie einige vorgestrige Züge vielleicht doch noch erklären, warum die so rasch einsetzende Perversion und die vollkommene Aufgabe des früheren theoretischen Standpunkts erfolgt sind\" (127). Oft genug komme ihm nun, schreibt Maslow am 20.9.1941 an Ruth Fischer, \"der schwarze Zweifel auf Kopf und Gemüt\", \"wo das Versagen des Proletariats\" ende, und vor allem, wie, sehe er nicht (115). EinzelrezensionenJHK 1993 475Auf Havanna kam es zu einer bizarren Begegnung: Maslow traf Heinrich Brandler, den Hauptwidersacher der Linken in der KPD, 1923. Die Unterhaltungen beider über den fehlgeschlagenen \"deutschen Oktober\" förderten aber eher banale Dinge zutage: \"Sie hätten als \'Minister\' nicht das geringste tun können, die ausführenden Organe hätten gar nicht daran gedacht, etwas zu tun, was sie befahlen\" (131), beschrieb Brandler seine kurze Zeit als sächsischer Minister. Seit Maslows und Fischers Namen in den Moskauer Schauprozessen genannt wurden, galten beide als gefährdet. Ruth Fischer hat daher stets die GPU beschuldigt, Maslow ermordet zu haben. Die von Lübbe veröffentlichen Dokumente lassen Zweifel als gerechtfertigt erscheinen, ob Maslow eines natürlichen Todes gestorben ist.Maslows Tod war sicher eine der treibenden Kräfte für den entschiedenen Feldzug Ruth Fischers gegen deutsche Kommunisten in den USA und die Herausgabe eines Bulletins mit dem Titel \"The Network\". Dessen Ziel: \"the fight against the Stalinization of Germany [...] against the German Stalinists in the United States of America\" und \"a fuller expose and exploration of totalitarian society\" (475). 1950 schrieb Ruth Fischer an Susanne Leonhard: \"I understand and sympathize with the fact that many people remain loyal to Communist ideals despite their hatred of the Stalinist quislings. However, what I think most necessary is to get out of certain ideological straight-jackets and cliches and to re-evaluate what Communism - that is social revolution - means in the concrete in our time; with what methods and allies it can be achieved and to what type of society this change should lead\" (276).Darum kreisen alle Briefe und Manuskripte aus den Jahren bis 1961. 1956 glaubte sie, \"daß wir vor einer fundamentalen Umänderung nicht nur im russischen Weltreich stehen\" (320). Alle Hoffnungen auf eine Wiedergeburt der SPD lehnte sie ab. In einem Gespräch mit Klaus Meschkat am 12.3.1961, einem Tag vor ihrem Tod, äußerte sie: \"Der Ausgang des \'großen Wettstreits\' zugunsten der Sowjetunion sei ohnehin sicher, wenn nur der Frieden erhalten bleibe\" (594). Ob sie nicht zu abrupt zwischen extremen Gesichtspunkten hin- und herschwankte, schrieb Isaac Deutscher am 12.10. 1956 an Ruth Fischer und fand damit eine sehr genaue und treffende politische Charakterisierung.Willy BuschakMüller, Reinhard: Die Akte Wehner. Moskau 1937 bis 1941. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 1993, 431 S.Wie kaum ein zweiter westdeutscher Politiker der Nachkriegszeit hat Herbert Wehner, u.a. von 1969 bis 1983 Vorsitzender der Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag und von 1958 bis 1973 stellvertretender Parteivorsitzender, wiederholt regelrechte Kampagnen wegen seiner kommunistischen Vergangenheit ertragen müssen. So wurde ihm beispielsweise der Vorwurf gemacht, im Moskauer Exil zusammen mit Walter Ulbricht die oppositionelle Gruppe um Heinz Neumann \"in jeder nur möglichen Form\" denunziert und somit schließlich zu ihrer Verhaftung durch das NKWD beigetragen zu haben. Margarete Buher-Neumann, die Lebensgefährtin Heinz Neumanns, hat in diesem Zusammenhang schon 1976 die Vermutung geäußert, daß es über diese Tätigkeit Wehners in Moskau \"ein umfangreiches Aktenstück\" geben müsse.Mit dieser kommentierten Dokumentation liefert ihr Herausgeber nun den Beweis dafür, daß die Vermutung Buber-Neumanns richtig gewesen ist. Mit Hilfe russischer Kollegen war es ihm im Jahre 1992 möglich, im bislang gesperrten ehemaligen Archiv des Zentralkomitees der KPdSU neben Unterlagen über andere prominente Mitglieder der KPD auch die ursprünglich als \"Kader-Akte\" der Kommunistischen Internationale angelegten und als Handakte für das ZK der KPdSU offenbar bis in die achtziger Jahre weitergeführten Unterlagen über Herbert Wehner einzusehen. Ergänzt durch Materialien aus anderen Moskauer, aber auch aus (Ost-)Berliner Archiven, konnte nunmehr Wehners Moskauer Aufenthalt zwischen 1937 und 1941 zu \"einer politisch-biographischen Montage\" zusammengefügt werden. 476 JHK 1993EinzelrezensionenWehner selbst hatte sich zu Lebzeiten nicht in der Lage gesehen, in allen Einzelheiten über die \"Jahre des Terrors\" in der Sowjetunion und damit möglicherweise verbundene persönliche Verwicklungen zu berichten. In den zahlreichen Interviews, denen er sich während seiner Bonner Zeit stellte, hielt er sich zu Fragen nach seinen Moskauer Erlebnissen stets \"sehr bedeckt\", ließ aber auch keinen Zweifel daran, daß er seinerzeit \"einfach mitgelitten\" habe. Die Hinweise in seinen \"Notizen\" aus dem Jahre 1946, die Anfang der achtziger Jahre von ihm für eine offizielle Veröffentlichung (\"Zeugnis\", Köln 1982) freigegeben wurden, konnten kaum als letzte Antwort auf viele Fragen gelten. Müller gesteht zu, daß sie \"scharfsinnige Einzelbeobachtungen\" enthielten, aber \"in allzu pragmatischer Absicht verfaßt\" worden seien. Immer wieder komme in ihnen \"der weitgehend verinnerlichte kommunistische Adam\" nicht nur \"in der Säuberungsmetaphorik\" zum Vorschein, zudem seien die mühsam erreichte Distanz und die kritischen Einsichten des Jahres 1946 \"in die subjektiv überformte Parteibiographie zuruckprojiziert\", zugleich aber \"die eigene Rolle im mehraktigen Stück von magischer Macht, institutioneller Maschinerie und individueller Verstrickung kompensatorisch verkehrt worden\" (21).Mit der - immer noch eher vorsichtigen - Öffnung der Moskauer Archive können nunmehr nicht nur die Machtstrukturen und Herrschaftsmechanismen eines \"bürokratisch organisierten Terrorsystems\" wie des Stalinismus präziser als bisher nachgezeichnet werden; es besteht auch die Chance, Verstrickung und Schuld jener Emigranten, Exilschriftsteller und \"Parteiarbeiter\" wie Herbert Wehner zu beurteilen, die in den dreißiger Jahren den Häschern von Hitlers Diktatur des \"Dritten Reiches\" entkamen, dafür aber in die \"bewußtseinsdeformierende \'Menschenfalle\"\' Stalins gerieten. Im Falle Wehners hat der Heraussgeber darauf verzichtet, bereits publizierte Texte neu zu interpretieren und zu bewerten. Das beträchtliche Gewicht seiner Veröffentlichung, die \"auf die Rekonstruktion der bisher allenfalls autobiographisch beschriebenen stalinistischen Verfolgungspraxis\" abzielt (23), beruht vielmehr auf der Verwendung bisher unveröffentlichten Moskauer Aktenmaterials. Dabei gelangen Dokumente an die Öffentlichkeit, die noch vor wenigen Jahren als sensationell empfunden worden wären und - vor allem Wehners Jahre \"inmitten des stalinistischen Terrors\" in einem neuen Lichte erscheinen lassen.Abgedruckt wurden 55 Dokumente aus der \"Akte Wehner\", darunter sein Redebeitrag auf dem VII. Weltkongreß der Komintern vom 1. August 1935 (\"Genossen, wir hatten eine Form der Konspiration am Anfang, die vielfach in der Isolierung bestand.\"), ein von ihm handschriftlich abgefaßter Lebenslauf aus dem Jahre 1935 (\"Juni 1927, unter dem Eindruck des Essener Parteitages und des Kampfes der KPdSU gegen den Trotzkismus trat ich der Partei bei.\"), Dossiers der Kaderabteilung der KPD über ihn aus dem Jahre 1937 (mit angeführten, angeblich nicht bereinigten \"Unklarheiten, die in Verbindung mit der Arbeit von Funk vorhanden sind\"), mehrere Schreiben aus seiner Feder an die Kaderabteilung der KPD und ein Schreiben von ihm an Wilhelm Pieck vom 26. November 1937 mit denunziatorischen Äußerungen zur innerparteilichen Opposition (\" ...weil die Lage in unserer Partei so ist, daß wir detzt wirklich daran gehen sollten, die Säuberung von schlechten Elementen und Schädlingen vorzunehmen.\"), Charakteristiken von ihm für die Kaderabteilung (u.a. über Albert Norden: \"In den Zeiten großer innerparteilicher Auseinandersetzungen war er nicht fest.\") sowie eine von ihm und Walter Ulbricht ausgearbeitete Stellungnahme der KPD zum Hitler-Stalin-Pakt vom 21. Oktober 1939 (\"Freundschaftspakt mit Deutschland\"). Die Dokumentation enthält auch - ziemlich unvermittelt - den Wortlaut des Beschlusses des ZK der KPD über den Ausschluß Wehners (\"wegen Parteiverrat\") aus der KPD vom 6. Juni 1942 und Informationsmaterial der Kaderabteilungen von KPD und Komintern über ihn aus dem Jahre 1943 sowie eine Mitteilung des KGB aus dem Jahre 1963 über sein gespanntes Verhaltnis zu Willy Brandt (\"Im Gegensatz zu Wehner neigt Brandt zu selbständigen Handlungen, was Wehner den Kampf mit seinem Gegner in der SPD-Führung erleichtert.\") und einen Bericht der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU über ihn als \"Minister der BRD für gesamtdeutsche Fragen\" aus dem Jahre 1967 (\"Wehner meint, daß die Wiedervereinigung Deutschlands die Sache einer weit entfernten Zukunft ist.\"). Im Lichte dieser Dokumente kommt der Her- EinzelrezensionenJHK 1993 477ausgeber zu dem wenig überraschenden Urteil, daß die \"Notizen\" von 1946 \"als beschönigende Rechtfertigungen\" angesehen werden müssen. Schwerer wiegt, daß nunmehr auch die Verstrickung Wehners in die innerparteilichen \"Säuberungen\" der KPD in den dreißiger Jahren deutlich wird. Als Mitglied der sogenannten Kleinen Kommission gehörte der spätere \"Zuchtmeister\" der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion zusammen mit Ulbricht und Pieck zeitweilig zum innersten Kreis der Moskauer Parteiführung der deutschen Kommunisten. Als solcher war er gehalten, für die Kaderabteilung und für den Generalsekretär der Komintern, Georgi Dimitrow, Beurteilungen (\"Charakteristiken\") von Genossen anzufertigen, die für die Betroffenen häufig fatale Folgen haben konnten: mindestens Verhaftung und Lageraufenthalt, schlimmstenfalls den Tod.Der Herausgeber ist sich \"der fragmentarischen Vorläufigkeit\" seiner Dokumentation über die Moskauer Jahre Wehners bewußt. Immerhin kann er die 1991 erschienene Biographie über den jungen Wehner von Hartmut Soell insofern korrigieren, als er diesem \"für die Darstellung der Moskauer Periode\" nachweist, \"allzu bereitwillig den selektiven Informationen und nachträglichen Interpretationsmustern seines Helden\" aufgesessen zu sein (18). Vor allem aber enthält dieser Band Material genug, um Hannah Arendts These zu untermauern, daß sich aus den permanenten Kontrollverfahren und Reinigungsritualen kommunistischer Parteien in der Stalinzeit auch jene \"Präparierung der Opfer\" ergeben habe, die \"den einzelnen gleich gut für die Rolle des Vollstreckers wie für die des Opfers vorbereiten kann\" (33f.): Die Dokumente lassen die Interpretation zu, daß der selbst von einem Untersuchungsverfahren heimgesuchte Wchner um sein Leben kämpfen mußte, dabei aber andere - z.B. Erich Birkenhauer, Leo Flieg oder Heinrich Meyer ans Messer lieferte. Das löst weitere Fragen nach der wirklichen Substanz des \"politischen Urgesteins\" Herbert Wehner aus, deren Beantwortung freilich jenes Fingerspitzengefühl erfordert, das dem verbreiteten journalistischen Voyeurismus nicht immer eigen ist.Alexander FischerSpira, Leopold: Kommunismus adieu. Eine ideologische Biographie. Europaverlag, Wien, Zürich 1992,161 s.Wer eine Biographie nach gängigen Mustern erwartet, wird vom vorliegenden Buch enttäuscht: Leopold Spira, bis zu seinem Ausschluß 1971 Mitglied des ZK der KPÖ, danach führender Mitarbeiter der renommierten eurokommunistischen Zeitschrift \"Wiener Tagebuch\", wollte keine Lebensgeschichte im herkömmlichen Sinn schreiben, weil er nicht glaubt, \"daß sie von allgemeinem Interesse wäre\" (8). Hinter dieser lapidaren Aussage verbirgt sich eine, wie er selbst sagt \"jugendbewegt-puritanische Lebenseinstellung\" ( 11 ), die in der österreichischen Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit, bei Sozialdemokraten und Kommunisten, recht verbreitet war. Dieses Fehlen jeglicher Egozentrik ist gerade in Zeiten, in denen die intellektuelle Nabelschau grassiert, wohltuend. Andererseits ist gerade diese \"jugendbewegte-puritanische Lebenseinstellung\" sicher mit eine der Ursachen, warum für Leopold Spira lange Jahre \"das Diktum Victor Adlers lieber mit der Partei zu irren als gegen sie rcchtzubehalten\" irrelevant war, weil er \"überzeugt war, daß die Partei sich nicht irrte\" (70); warum er, der in Diskussionen Wortgewaltige, sich in nahezu zwei Jahrzehnten Mitgliedschaft im ZK kein einzige Mal zu Wort meldete (69).Wenn also Spira seinen und der Mut seiner Genossen im illegalen Kampf gegen den Austrofaschismus, beim Kampf gegen Franco in den Internationalen Brigaden, im französischen Internierungslager St. Cyprien und bei der Arbeit in der englischen Emigration als nicht erwähnenswerte Selbstverständlichkeit betrachtet, wenn außerdem Privates nur dann zu Sprache kommt, wenn es absolut unvermeidbar ist, wovon handelt dann dieses Buch? Poldi Spira wurde im Februar 1935 Mitglied des damals illegalen Kommunistischen Jugendverbandes und hat eine wesentliche Zeit seiner Parteitätigkeit und auch viele Jahre nachher 478 JHK 1993Einzelrezensionenimmer geschrieben. Fast alles aus seiner Feder ist erhalten geblieben, sogar seine Briefe aus dem Spanischen Bürgerkrieg und der französischen Internierung. Dieses umfassende Quellenmaterial hat er zu einer Art \"ideologischen Biographie\", wie er das selbst definiert (8), verarbeitet. Das Ziel, das ihm dabei vorschwebte, war, an Hand seiner eigenen Meinungsäußerungen die Wandlungen einer ganzen Generation von Kommunisten zu dokumentieren.Um es gleich vorwegzunehmen: Spira wird seinen eigenen Vorgaben gerecht. Damit straft er auch gleich den vom Verlag gewählten Titel Lügen. Denn, so lange noch ein Funken Leben in ihm ist, wird sein Denken um die Frage einer nicht-kapitalistischen, gerechteren Gesellschaftsordnung kreisen. Wenn er diese Alternative nach dem Debakel eines sogenannten \"Kommunismus\" lieber mit anderen Ausdrücken beschreibt, ist das ein rein terminologisches Problem.Eine der Aufarbeitungen, die Spira im Zuge seiner ideologischen Katharsis vornimmt, soll hier noch extra erwähnt werden, weil sie ein in der Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung nach wie vor tabuisiertes Thema betrifft - Antisemitismus in sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien. Dabei instrumentalisiert er seinen eigenen Werdegang sehr anschaulich: Seine Anfänge als \"nicht-jüdischer Jude\" (non-jewish jew), um ein bekanntes Diktum Isaac Deutschers zu wiederholen, der der Israelitischen Kultusgemeinde angehört und den Religionsunterricht besucht, die religiöse Gemeinschaft aber ohne die geringste Gefühlsregung verläßt und ihr wieder beitritt, je nach politischer Opportunität (18). Seine erschreckenden Erlebnisse mit \"Genossen\", etwa bei der Reichskonferenz des Kommunistischen Jugendverbandes 1937 in Prag: \"In einer Tagungspause meinte ein Teilnehmer nach einem Blick in die Runde, wir wären diesmal \'judenfrei\'. Als ich auf mich aufmerksam machte, wurde ich zum \'Ehrenarier\'ernannt und erhielt den Namen Poldur von Spirach, anklingend an jenen des Führers der Hitlerjugend und späteren Wiener Gauleiters Baldur von Schirach\" (21). Seine Versuche, nach 1945 die \"gewisse Scheu in Österreich über das Judenproblem und den Antisemitismus offen zu sprechen\" (63), in Artikeln zu hinterfragen. Seine Haßtiraden gegen \"zionistische Agenten, die im Dienste des amerikanischen Imperialismus standen\" (64), während der Schauprozesse in den Volksdemokratien. Seine neuerliche Konfrontation mit diesem Thema bei den Diskussionen um den Sieben-Tage-Krieg 1967 und die neue \"antizionistische Wende\" in der UdSSR. Die unbefangene theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema Antisemitismus, die dann erst nach dem Parteiausschluß, in dem 1981 erschienen Buch \"Feindbild Jud\"\' möglich wird. Schließlich das mit Genugtuung registrierte Eingeständnis des KPÖ-Sekretärs Walter Baier 1991: \"Es ist auch zutreffend, daß innerhalb der Partei [...] auch reaktionäre, ausländerfeindliche, ja bis hin antisemitische Strömungen und Sentiments existieren\" (105).Fritz KellerBuschak, Willy: \'Arbeit im kleinsten Zirkel\'. Gewerkschaften im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Ergebnisse Verlag, Hamburg 1993, 309 S.Die Geschichte des gewerkschaftlichen Widerstandes im Nationalsozialismus ist noch kaum geschrieben. Sie trat hinter der Erforschung des politischen Widerstandes zurück, teils weil es da eben direkt um die Fragen der \'großen Politik\' ging, teils weil auch viele Gewerkschaftsaktive aus der Zeit vor 1933 es vorzogen, sich lieber unmittelbar in politischen Widerstandszirkeln zu betätigen, und er somit einen vergleichsweise geringen Umfang hatte. So liegt erst jetzt mit der Arbeit von Willy Buschak ein Gesamtüberblick vor.Sie ist die Frucht jahrelanger Archivauswertungen. Neben Gestapo- und Prozeßakten griff er dabei auf internationale Gewerkschaftsarchive, vor allem aber auf die reichhaltigen Bestände des ehemaligen IML in Ost-Berlin zurück. Im Ergebnis war Buschak selbst überrascht, daß der gewerkschaftliche Widerstand EinzelrezensionenJHK 1993 479doch vielfältiger war, als wie er sich das zu Beginn seiner Arbeit vorgestellt hatte, auch wenn natürlich keine der hier beschriebenen Gruppen je über einige Dutzend Mitglieder mit bestenfalls einigen Hundert Kontakten hinauskam. Andererseits tauchen sicher manche Aktivitäten gar nicht in den Archiven auf. Auf jeden Fall weist er die von einigen Historikern behauptete Existenz von gewerkschaftlichen \"Reichsleitungen\" in der Illegalität als Mythos zurück.Seine Arbeit beginnt mit einer knappen Skizze der Einschätzung des Nationalsozialismus durch die Gewerkschaften sowie ihrer Kapitulation am 1. Mai 1933. Die eigentliche Darstellung der Widerstandsaktivitäten ist im wesentlichen nach den einzelnen Branchen- und Industrieverbänden gegliedert, wobei er überwiegend die freien Gewerkschaften und nur am Rande die christlichen behandelt. In weiteren Kapiteln geht er der sogenannten Auslandsvertretung der deutschen Gewerkschaften, den Aktivitäten der RGO und schließlich Wilhelm Leuschner und dem 20. Juli nach.Die kommunistischen Gewerkschaftsaktivitäten werden zum einen im Abschnitt über die RGO behandelt. Obwohl eng mit der Partei verbunden, bestand sie doch zunächst in größerem Umfang fort, wurde aber schnell zerschlagen, Resultat zum einen ihrer unrealistischen Perspektiven, zum anderen aber auch ihrer unglaublichen Versäumnisse in der Konspiration. Seit Ende 1934 zeichnete sich die Aufgabe der RGO-Politik durch die Partei ab. Eine Reihe kommunistischer Gewerkschafter arbeitete nun in den freigewerkschaftlichen Widerstandsgruppen mit, was dann in den entsprechenden Abschnitten beschrieben wird. Ein Stein des Anstoßes war nun die von der KPD vertretene Taktik des \"trojanischen Pferds\", der versuchten \"Unterwanderung\" der Deutschen Arbeitsfront. Auch kam es zu Konflikten mit Spitzenfunktionären im Exil, so etwa Paul Merker, denen vorgeworfen wurde, die Gewerkschaften zu instrumentalisieren.Zweifellos setzt diese Arbeit Maßstäbe. Sicherlich werden noch manche Abschnitte ergänzt werden können, z.B. ist eine ausführliche Studie über den hier schon dargestellten Weg Hermann Knüflcens von der KPD zur Internationalen Transportarbeiterföderation durch Dieter Nelles in Vorbereitung. Dennoch kann man sicherlich schon jetzt sagen, daß Buschaks Buch das Standardwerk zu diesem Thema sein wird.Reiner TosstorffBrunner, Detlev: Quellen zur Gewerkschaftsgeschichte. Bestandsverzeichnisse Ostberliner Archive zur Geschichte der Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1933. Klartext-Verlag, Essen 1992 (Veröffentlichungen des Instituts zur Erforschung der Europäischen Arbeiterbewegung. Schriftenreihe B: Quellen und Dokumente, Bd. 2), 316 S.Welch reichhaltige, bisher nur in Ansätzen ausgewertete Materialien die Archive in der DDR (und insgesamt in Osteuropa) enthalten, ist schon oft beschrieben worden. Das gilt ironischerweise in besonderem Maße für die Geschichte der Arbeiterbewegung, da trotz des Anspruchs auf konsquente Vertretung ihrer Traditionen die SED durch ihre ideologischen Vorgaben die zielstrebige Forschung in den Archiven entscheidend behinderte. Dies macht nicht zuletzt der hier vorliegende Überblick über die Bestände zur Gewerkschaftsgeschichte in den ehemaligen Zentralarchiven des FDGB und der SED, die jetzt unter dem Dach des Bundesarchivs zusammengeführt sind, deutlich.Aufgeführt sind darin alle 1991 benutzbaren Archiveinheiten hauptsächlich zur deutschen Gewerkschaftsbewegung von ihren Anfängen bis 1933, aber auch zur europäischen und US-amerikanischen, wobei diese Materialien allerdings sehr disparat und zufällig sind, so wertvoll sie im einzelnen auch sein mögen. Auf diese Weise sind 1.422 Archiveinheiten aufgeführt, zu denen jeweils eine Kurzbeschreibung gegeben wird. Sie sind unterteilt nach deutscher Gewerkschaftsbewegung, ausländischer Gewerkschaftsbewegung, kommunistischer Gewerkschaftspolitik, Nachlässen und \"sonstigem\". Die Archiveinheiten zur 480 JHK 1993Einzelrezensionenkommunistischen Gewerkschaftspolitik, die sich alle im ehemaligen SED-Archiv befinden, betreffen zum einen die Gewerkschaftspolitik des Politbüros, die Gewerkschaftsabteilungen des Zentralkomitees und untergeordneter Leitungen sowie die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition. Zum anderen sind entsprechende Einheiten aus dem Flugblattarchiv, aus dem Bestand zur Kommunistischen Internationale sowie aus der Nachlaßsamrnlung angeführt. In seiner Einleitung gibt Brunner einen Überblick über die beiden Archive und Hinweise zum Aufbau des Verzeichnisses. Ein dreiteiliges Register zu Personen- und Ortsnamen sowie zu Organisationen erleichtert ganz wesentlich die Arbeit damit. Zweifellos handelt es sich hier um eine verdienstvolle Fleißarbeit, die die Beschäftigung mit der Gewerkschaftsgeschichte entscheidend vereinfacht, die aber hoffentlich vor allem einen Anstoß zur Bergung der hier beschriebenen Schätze liefern wird.Reiner TosstorffAgardi Peter: llles M6nus, unser Zeitgenosse. Ausschnitt aus dem ungarischen Geistesleben der dreißiger Jahre. Gondolat, Budapest 1992, 207 S.Vor der eigentlichen Buchbesprechung sollte dem nicht-ungarischen Leser Illes M6nus vorgestellt werden. M6nus war zwischen beiden Weltkriegen der wohl wichtigste Vordenker und Stratege der sozialdemokratioschen Bewegung Ungarns. Seine Funktionen umfaßten die des Sekretärs der Parlamentsfraktion, des Parteitheoretikers, des Verfassers und Redakteurs der programmatischen Erklärungen der Partei sowie des Chefredakteurs ihrer monatlich erscheinenden theoretischen Zeitschrift. Dies allein spiegelt bei weitem aber noch nicht die wichtige Rolle wider, die er in der ungarischen Arbeiterbewegung und in der politischen Öffentlichkeit spielte.M6nus, 1886 geboren, erlernte den Beruf des Schuhmachers. Als junger Mensch trat er der Fachgewerkschaft der Lederindustrie bei. Bereits 1908 wurde er Redakteur der Gewerkschaftszeitung - ein Posten, den er trotz seiner vielfältigen Funktion bis 1938 behielt; drei Jahre später erhielt er im Verlag des Zentralorgans der Sozialdemokratischen Partei, Nepszava, eine Stelle als hauptamtlicher Parteiarbeiter. Damals stand er jedoch allenfalls in der dritten Reihe der Führungsgarnitur.Die Revolutionsjahre 1918/19 erschütterten das politische Leben Ungarns von Grund auf. Nach dem Sturz der Räterepublik und dem Sieg der Konterrevolution wurde nicht nur die sozialdemokratische Avantgarde, die zuvor die Volkskommissare gestellt hatten, ins Wiener Exil gezwungen. Dort, an der Seite Otto Bauers, wurde 1919 die Gruppe \"Vilagossag\" (Klarheit) gegründet, die 1923 als eigene Organisation der SAI beitrat. Zu dieser Zeit begann der Aufstieg von Illes M6nus. 1922 wurde nach er dem überraschenden Wahlerfolg der Sozialdemokratischen Partei Sekretär ihrer Parlamentsfraktion. Schon schnell wurde deutlich, daß er nicht nur Verwaltungsaufgaben wahrnahm, sondern das \"Gehirn\" der Fraktion, der Partei insgesamt war.Seine Karriere verlief jedoch nicht reibungslos. Erst 1927 wählte man ihn in die Parteiführung, und sein Verhältnis zum zwischen 1919 und 1944 \"starken Mann\" der Partei und der Gewerkschaftsbewegung, Peyer, war nie vertraut und freundschaftlich. Dennoch war er es, der den programmatischen Erklärungen seiner Partei den Stempel aufdrückte, der Kontakte mit den Emigranten unterhielt.Nach der \"großen Wende\", der Machtübernahme der Nazis 1933 in Deutschland und der Etablierung eines autoritären Regimes 1934 in Österreich, wurde M6nus Chefredakteur der theoretischen Zeitschrift der Partei, des \"Szocializmus\", der er, wie auch dem zentralen Parteiorgan \"Nepszava\", dessen Chefredakteur er von 1936-1939 war, erheblich mehr Format verlieh.Einen Bruch in seiner Laufbahn bewirkten die diskriminierenden Judengesetze aus dem Jahr 1939. Sie zwangen ihn, seine Tätigkeit bei \"Nepszava\" - der \"Szocializmus\" wurde 1939 von der Regierung verboten EinzelrezensionenJHK 1993 481- aufzugeben. Gleichwohl behielt er im Hintergrund die Fäden in der Hand. Auch in der Illegalität während des Krieges spielte M6nus als Sekretär für Bildung, damit zuständig für die Auswahl und Erziehung der \"neuen Kader\", eine bedeutende Rolle. 1944 wurde er von Pfeilkreuzlern ermordet.Geistig geprägt wurde Illes M6nus vom Marxismus. Auf seine Anregung hin wurde eine neue Auswahl von Marx-Engels-Texten in Ungarn - allerdings erst nach seinem Tod - herausgegeben. Seine Lehrmeister waren Karl Kautsky (mit dem er korrespondierte) und nach 1918 Otto Bauer. Die denkwürdige KautskyBauer-Debatte von 1934 wurde von ihm übersetzt und, um eine Einleitung von ihm ergänzt, in Ungarn publiziert.Leben und Lebenswerk von Illes M6nus werden im vorliegenden Band von Peter Agardi vor allem im Kontext ungarischer Innenpolitik und ungarischen Geisteslebens untersucht. So läßt sich der Verfasser vor allem von Fragen nach der Haltung von M6nus zur politischen Demokratie Ungarns, zur nationalen Frage, zu Agrarproblemen und zur Agrarreform, zu den damals aufsehenerregenden Arbeiten aus der neuen soziologischen Schule leiten. Große Aufmerksamkeit widmet der Autor einem Phänomen, das das politischgeistige Leben Ungarns zwischen beiden Weltkriegen mitprägte: Dem Antisemitismus, der M6nus auch persönlich traf und mit dem er sich mehrfach auseinandersetzte.Auch M6nus Verhältnis zum ungarischen Kommunismus - für das Jahrbuch sicher von hervorragendem Interesse - wird in der Biographie beleuchtet. Agardi hebt hervor, daß sich M6nus wie alle führenden Sozialdemokraten des Landes nach 1919 scharf vom \"Bolschewismus\" distanzierte und die Räterepublik als \"Abenteuer\" abqualifizierte, aus dem in der Folgezeit nur Schaden für die organisierte Arbeiterbewegung erwachsen sei. Zwar verfolgt der Autor nicht im einzelnen, wie die Beziehungen zwischen M6nus und den im Lande verbliebenen ungarischen Kommunisten waren; doch unterstreicht auch er nachdrücklich, daß M6nus - wie allgemein bekannt - als Chefredakteur von \"Nepszava\" und \"Szocializmus\" nicht nur Artikel von Kommunisten abdrucken ließ, sondern zudem Kommunisten in der Redaktion beschäftigte. An seiner kritischen Haltung gegenüber den Aktivitäten der Kommunisten im eigenen Land, aber vor allem der Komintern, änderte dies nichts.Deutlich wird das auch an M6nus Ablehnung der \"Märzfront\" vom Ende der dreißiger Jahre, zu der sich - so schien es für kurze Zeit - ungarische Kommunisten und volkstümliche Schriftsteller des Landes zusammengefunden hatten. Der nationale Impetus in der KI, aber auch der ungarischen Kommunisten, der in jener Zeit, ausgelöst durch die Angst vor Hitler, gesucht wurde, befremdete ihn. Auch in der Diskussion mit den Kommunisten (u.a. mit J6zsef Revai, dem führenden Theoretiker der ungarischen KP, der auch Mitarbeiter der KI war) in der Volksfront-Frage betonte M6nus seine Vorbehalte. Thematisiert wird dies alles auch in Stellungnahmen kommunistischer Historiker, Publizisten und Zeitzeugen, die Agardi zu Wort kommen läßt.Dennoch harren viele Aspekte der Problematik - M6nus und die ungarische KP, die KI und die Sowjetunion - einer umfassenden Untersuchung; sie wurden von Agardi allenfalls angesprochen. Damit steht die Aufarbeitung des gesamten Lebenswerks von Illes M6nus noch aus.Janos JemnitzGotovich, Jose: Du Rouge au Tricolor. Les Communistes belges de 1939 a 1944. Un aspect de l\' histoirede /a Resistance en Belgique. Editions Labor, Brüssel 1992, 610 S.ln dem auf seiner Dissertation aufbauenden Buch gibt Jose Gotovich eine imponierend erforschte und durchdachte Analyse der Geschichte der Kommunistischen Partei Belgiens (KPB) und deren Rolle in der Widerstandsbewegung im Zweiten Weltkrieg. 482 JHK 1993EinzelrezensionenNach einer zusammenfassenden Darstellung der Geschichte der KPB und ihrer Brüsseler Organisation seit der Gründung der Partei l 92 l wird die besondere Lage Brüssels als \"westlicher Kern der Kommunistischen Internationale\" (57) beschrieben. Man begegnet dem begabten, polyglotten ungarischen KominternVertreter Andor Berei, der zwischen 1934 und 1946 (sie\') eine maßgebende Rolle in der KPB spielte. Doch lernt man auch die Belgierinnen und Belgier aus verschiedenen sozialen Schichten kennen, die in der Geschichte der KPB zwischen 1939 bis zur Liberation 1944 mit ihren verschiedenen Phasen und Wendungen die Partei leiteten. Ein Anhang mit etwa 250 Kurzbiographien gewährt Einsicht in Herkunft und Lebenslauf der Kader der KPB.Ein Hauptthema des Buches ist das Verhältnis zwischen Komintern und KPB. Einerseits zeigt der Verfasser, wie die Hauptlinien der Politik der Partei durch die Komintern bestimmt wurden. Besonders deutlich wird dies an der jähen Wende im September 1939, als man von der Verurteilung des Hitler-Faschismus als Hauptfeind und Kriegsstifter abrückte und ihn in eine Reihe mit den westlichen Alliierten stellte. Andererseits argumentiert Gotovich, basierend auf einer genauen Analyse der Politik von KPB und Komintern, daß nationale und lokale Ereignisse in Belgien durchaus eine Überprüfung und Weiterentwicklung der aus Moskau vorgegebenen Linie bewirkten. Von besonderer Bedeutung ist in dieser Hinsicht ein vom Autor zitiertes Dokument aus dem Politbüro der KPB vom Januar 1941. Darin wird der Kampf gegen die deutsche Besatzungsmacht als Hauptaufgabe genannt und eine gewisse Selbstkritik an früheren, eigentlich von der Komintern ausgegebenen Positionen geübt. In der Tat wird unter den Bedingungen der deutschen Besatzung eine eigene Vorgehensweise entwickelt, obgleich natürlich die strategische Linie mit Moskau abgestimmt wird. Der Aufruf der KPB im Mai 1941 zur Schaffung einer Front pour /\' Jndependance (Unabhängigkeitsfront) entsprach zwar den neuesten Positionen der Kominternspitze, wurzelte aber auch in den eigenen, spezifischen Kampferfahrungen und Debatten der belgischen Kommunisten, die ihm seine besondere Form gaben.Mit Hitlers Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 spielen die von der KPB gegründete Unabhängigkeitsfront und deren Partisans Armes (bewaffnete Partisanen) sowie das Bündnis zwischen Kommunisten und Nicht-Kommunisten in der Widerstandsbewegung eine immer größere Rolle. Dem Kampf der nationalen und internationalen Front gegen den faschistischen Feind mußte alles untergeordnet werden.Neben seiner Beschreibung der Anstrengungen, Erfolge und Rückschläge der KPB im Widerstand zeichnet Gotovich ein ausführliches Bild der Struktur, Tätigkeit, Mitgliedszahlen und Perspektiven der Partei nach. Die Arbeit in den Betrieben und unter den Intellektuellen wird dabei besonders berücksichtigt. Auch die Haltung der KPB zum Nationalitätenkonflikt in Belgien wird in den Blick genommen.Besonders interessant ist, daß hier zum ersten Mal die Umstände öffentlich gemacht werden, unter denen der Generalsekretär Relecom und drei weitere KPB-Führer in Ungnade fielen. Nach ihrer Verhaftung l 943 hatten sie mit der Gestapo einen \"Kompromiß\" geschlossen, der ihnen das Leben rettete. Wegen dieser Zusammenarbeit wurden sie 1945 aus dem ZK der Partei ausgeschlossen. Doch die Einzelheiten wurden über Jahre hinweg geheimgehalten, um das Bild der KPB im Widerstand nicht zu beschädigen. Dieser \"weiße Fleck\" in ihrer Geschichte wurde erst jetzt durch Gotovich getilgt.Der Autor stützt sich auf eine breite Quellenbasis, ergänzt durch Hunderte von Interviews, die er seit den sechziger Jahren mit kommunistischen Aktivisten und anderen Persönlichkeiten hat führen können. Auch Quellen aus dem ehemaligen Institut für Marxismus-Leninismus in Moskau standen, obgleich nicht vollständig, Gotovich zur Verfügung. Obwohl es aufgrund der nach wie vor unbefriedigenden Archivsituation in der ehemaligen UdSSR dem Verfasser wohl nicht möglich gewesen ist, alle einschlägigen Quellen einzusehen, wird seine Arbeit doch auf lange Jahre ein Standardwerk sein, das - so der Wunsch des Rezensenten - dazu anregen möge, die Geschichte anderer kommunistischer Parteien im Zweiten Weltkrieg so gründlich zu erforschen.Monty Johnstone EinzelrezensionenJHK 1993 483Evkönyv 1992 - A nemzetközi munkdsmozgalom törteneteböl [Jahrbuch 1992 - Aus der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung]. Hrsg. von /. Harsdnyi, J. Jemnitz, G. Szekely. Politikwissenschaftliches Institut, Budpaest 1992, 431 S.Es ist nicht einfach, einen dicken Sammelband zu besprechen, schier ummöglich, wenn 21 ungarische und 25 ausländische Historiker 15 unterschiedliche Themen behandeln. Eine kurze Übersicht tut dem Band notwendigerweise schweres Unrecht an.Der Tradition dieses Jahrbuchs entsprechend, klammert der Band ungarische Ereignisse aus. Der erste Themenkreis ist mit 14 Beiträgen, darunter vier ungarischen, den Verdiensten und dem Versagen Gorbatschows gewidmet. Den Tenor gibt der letzte, in der englischen Zeitschrift Tribune erschienene Artikel \"Adieu, Michael Sergejewitsch\" an, ein melancholischer Abschied von einem Gescheiterten. Die Analysen sind ziemlich gleichlautend und wohlbekannt. Hier sollen nur die ungarischen erwähnt werden; sie unterscheiden sich zwar kaum von ihren westlichen Kollegen, doch ihre subjektiven Folgerungen mögen von Interesse sein. Ivan Harsanyi schließt in Trauer: Mit dem Versagen Gorbatschows sei die Menschheit um eine Hoffnung auf ein reformiertes, demokratisches, sozialistisches System ärmer geworden. Tibor Erenyi gibt die Hoffnung nicht auf: \"Die Idee des Sozialismus überlebt die Sowjetunion. Diejenigen, die mit seiner Beerdigung rechnen, werden sich täuschen.\" Janos Jemnitz schließt eher bitter mit dem Fernseh-Interview vom Februar 1992, in dem Gorbatschow von der Zeit sprach, als er \"noch an den Sozialismus geglaubt\" habe und dem Suchenden jetzt nur den eher nichtssagenden Kompaß des Humanismus anbietet. Das sei \"sehr wenig von dem Mann, der an der Spitze eines Reiches gestanden ist ... und wahrlich nur die \'Sintflut\' hinter sich läßt\", schreibt er enttäuscht.Die meisten Themenkreise sind wichtigen Phasen in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung gewidmet, von Dokumenten der 1. Internationale vor 125 Jahren über Ausschnitte aus der sozialistischen Presse, Biographien, 1917, Parteigründungen und Gewerkschaftsprobleme bis zum sozial-liberalen Wahlergebnis in der Bundesrepublik 1972 und dem Wahlsieg der spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei 1982. Interessant für die ungarische Linke sind zweifellos die beiden Kapitel \"Hintergründe\" und \"Referate\". Das erste informiert über weltpolitische Ereignisse in der Interpretation der westlichen Linken, das zweite berichtet, leider viel zu summarisch, über internationale Konferenzen in Linz, Mannheim und La Laguna.Das zentrale Problem der ungarischen Linken, die Folgen der am eigenen Leib erfahrenen Erschütterungen im Zuge des Umbruchs 1989/90 besser zu verstehen, ist leider nur summarisch abgehandelt worden. Dies hätte durch die eingehenden Berichte im Kapitel \"Die internationale Linke über die Umwälzungen in Ost- und Mitteleuropa\" wettgemacht werden können. Leider sind die dort angeführten Artikel enttäuschend. Jürgen Habermas stellt Fragen über die Zukunft des westlichen Sozialismus, doch gibt er keine Antworten. Der dänische Professor Uffe Jaconsen kommt zu dem vagen Schluß, das skandinavische Modell funktioniere zwar zufriedenstellend, doch vielleicht sei das nur politische Blindheit. Die anderen Beiträge weichen der Frage gänzlich aus, der des Inders S. Chakravarty flüchtet sich ins rein Theoretische über die Entfremdung der Arbeit, die der Engländer Monty Johnstone, Joe Gerratt, Glyn Ford und Gary Titley über den Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens ins rein Journalistische. Die im Titel versprochenen Analysen der westeuropäischen Linken über die Umwälzungen in Ungarn, Polen, Bulgarien und der Tschechoslowakei fehlen jedoch.Der vorliegende Sammelband ist der bisher letzte einer langen Reihe von Jahrbüchern, die vom Politikwissenschaftlichen Institut, dem Nachfolger des Parteigeschichtlichen Instituts der Rakosi-Ära und des Instituts der Arbeiterbewegung unter der \"sanften Diktatur\" Kadars verlegt worden sind. Jetzt gibt es keine von der Obrigkeit diktierten Beschränkungen mehr, wer und wie zu Wort kommen kann. Die Probleme in Ungarn sind ganz anderer Art. Die politische Arbeiterbewegung ist weitgehend lahmgelegt, die Gewerk- 484 JHK 1993Einzelrezensionenschaften sind geschwächt und kämpfen ums Überleben, die völlig bedeutungslose Sozialdemokratie ist gespalten spalten, ihr rechter Flügel versucht gar mit einer rassisch-chauvinistischen Taktik die demokratisch-sozialistische Vergangenheit wieder gutzumachen, die Arbeiterpartei, Nachfolgerin der stalinistischen Staatspartei, fristet ein kärgliches Dasein außerhalb der politischen Landkarte, auf der allgemein respektierten Sozialistischen Partei, weitgehend von den einstigen Reformkommunisten geprägt, lastet noch immer der Schatten der gescheiterten Diktatur.In dieser Lage kommt dem Jahrbuch die Aufgabe zu, ein objektives Bild der internationalen Arbeiterbewegung zu zeichnen, ihre Geschichte zu pflegen, aber auch zu dokumentieren, daß in dem Ungarn umgebenden gebenden Europa die Diskussion über die Zukunft einer strukturell gerechteren, traditionell sozialistisch genannten Gesellschaft weitergeht. Das \"Jahrbuch 1992\" hat diese Aufgabe weitgehend erfüllt. Die angeführte Kritik betrifft eher die armseligen Analysen der Gegenwart und Zukunft vieler offensichtlich verwirrter westlicher Historiker als die Bemühungen ihrer ungarischen Kollegen, darüber zu berichten.George H. HodosAlexander, Robert ]. : International Trotskyism, 1929-1985: A Documented Analysis of the Movement. Duke ke University Press, Durham, London 1991, 1125 S.Robert J. Alexander, emeritierter Politologe der Rutgers University (New Jersey), Lateinamerika-Experte und seit der Veröffentlichung von Trotskyism in Latin America (Stanford 1973) und The Right Opposition. The Lovestoneites and the International Communist Opposition of the 1930s (Westport 1981) als Kenner kommunistischer Oppositionsströmungen ausgewiesen, hat mit dem hier angezeigten Band ein Standardwerk zur Geschichte der trotzkistischen Bewegung vorgelegt, das für lange Zeit Maßstäbe setzt.Die trotzkistische Bewegung hat sich seit ihrer Herausbildung auf internationaler Ebene Ende der zwanziger Jahre stets als Oppositionsströmung, als kommunistische Alternative zum Stalinismus verstanden, der es darum ging, das theoretische und praktische Erbe der kommunistischen Bewegung gegen die \"Epigonen\" zu verteidigen. Mit der Epochenwende von 1989, dem Zerfall der Sowjetunion und dem Verschwinden des Stalinismus von der politischen Bühne ist auch für die trotzkistische Bewegung, die einen Großteil ihrer politischen Identität aus ihrem Anti-Stalinismus bezog, ein ganzes Kapitel ihrer Geschichte zu einem Ende gekommen. Insofern ist es sehr bedauerlich, daß Alexander seinen Überblick schon 1985 enden läßt.Zu Recht weist Alexander darauf hin, daß die trotzkistische Bewegung - im Unterschied zu anderen oppositionellen Strömungen des Kommunismus (z.B. der zu Beginn der dreißiger Jahre ungleich stärkeren und einflußreicheren \"rechten Opposition\") - inzwischen seit mehr als einem halben Jahrhundert existiert. Der Trotzkismus hat sich - den Verleumdungs- und Vernichtungsfeldzügen ohnegleichen, denen seine Anhänger in der Arbeiterbewegung und der Linken ausgesetzt waren, zum Trotz - als eine langlebige, nicht als eine ephemere politische Strömung erwiesen. Sie hat heute Ableger auf allen fünf Kontinenten der Welt und ist (insbesondere in den Jahren nach 1968) in vielen Ländern der Welt zu einem Faktor geworden, der aus der Linken bzw. der radikalen Linken nicht mehr wegzudenken ist. (Da mit diesem Wachstum indes keine Homogenisierung der nach wie vor zersplitterten Bewegung einherging, erweist sich ein Nachschlagewerk wie das vorliegende als um so nützlicher...).Nach einem Vorwort und einleitenden Kapiteln zu Ursprüngen und allgemeinen Charakteristika der trotzkistischen Bewegung bietet Alexander einen nach Ländern gegliederten Überblick; insgesamt enthält sein Buch an die 70 Länderartikel. Eingefügt sind eine 90 Seiten umfassende Darstellung der Geschichte der Vierten Internationale als internationaler Organisation sowie Übersichtsartikel über die verschiedenen mit der (durch das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale repräsentierten) Hauptströmung des EinzelrezensionenJHK 1993 485internationalen Trotzkismus konkurrierenden Fraktionen. Die Artikel basieren vor allem auf der systematischen Auswertung der englischen und französischen Ausgaben von Trotzkis Exilschriften, zeitgenössischer Publikationen der trotzkistischen Bewegung, der in den vergangenen 15-20 Jahren stark angewachsenen wissenschaftlichen Sekundärliteratur sowie auf ausgiebigen Interviews und umfangreicher Korrespondenz mit Veteranen, ehemaligen Aktivisten und noch heute aktiven Mitgliedern der trotzkistischen Bewegung. Eigene Studien in den Archiven (z.B. der seit 1980 geöffneten Abteilung des Trotzki-Archivs in Harvard oder den Anfang der achtziger Jahre entdeckten Unterlagen von Trotzkis Sohn Lew Sedow im Nikolajewski-Nachlaß in Stanford) betrieb Alexander nicht. Zustandegekommen ist somit eine Geschichte des internationalen Trotzkismus, die weitgehend eine Ideen- und Organisationsgeschichte ist, die einen Eindruck von den historischen Wurzeln und der programmatischen Entwicklung, der politischen Wirkungsgeschichte und den inneren Kämpfen sowie von der geographischen Verbreitung der trotzkistischen Bewegung vermittelt; der gesellschaftliche und politische Kontext, in dem die trotzkistischen Organisationen entstanden, die Bedingungen, unter denen sie sich entwickelten, die Widerstände, die sie zu überwinden hatten, die Anfeindungen, denen sie ausgesetzt waren, werden aber nur am Rande berührt.Dem Gebrauch des Buches als Nachschlagewerk dient ein umfangreiches Personen-, Organisations- , Publikations- und Sachregister. Allein die Nachweise und die Bibliographie machen an die 100 Seiten aus. Die Beiträge zur Geschichte des US- und des lateinamerikanischen Trotzkismus sind die ausführlichsten; 200 Seiten insgesamt sind allein den USA gewidmet.Das Kapitel über den deutschen Trotzkismus (30 doppelspaltige Seiten) gehört leider nicht zu den stärksten. Im ersten (in der Gesamtdarstellung im wesentlichen korrekten) Teil (\"German Trotskyism Before World War II\") sind fast alle erwähnten Namen deutscher Trotzkisten falsch. So heißt es beispielsweise \"Jako\" statt \"Jako\" (d.i. Joseph Kohn), \"Oscar Siepold\" statt Oskar Seipold, \"Hans Schwalback\" statt Schwalbach, \"Willy Schauschkowitz\" statt Schmuschkowitz, \"Staal\" statt Stahl (d.i. Artur Goldstein), \"Schussler\" statt (Otto) Schüssler, \"Wollemberg\" statt Wollenberg, \"Karl Grohl\" statt Gröhl (bzw. Karl Retzlaw). Dies - wie auch eine Reihe weiterer, sachlicher Fehler (die Auflistung der Orte, an denen die Linke Opposition der KPD vor 1933 vertreten war, ist - im Unterschied zur Quelle, auf die Alexander an der entsprechenden Stelle selbst verweist - unvollständig; an einer Stelle ist von der \"Pfals in the Palatinate\" die Rede; an anderer heißt es \"Mautzon\", wo Bautzen, \"Hamburg\", wo Hamborn gemeint ist) hätten sich wohl vermeiden lassen, hätte Alexander die Dissertation von Siegfried Bahne aus dem Jahr 1958 (Der Trotzkismus in Deutschland 1931-1933) und vor allem die 1978 fertiggestellte, später auch als Buch erschienene Untersuchung von Wolfgang Alles Zur Politik und Geschichte der deutschen Trotzkisten ab 1930 (Frankfurt/M. 1987) zu Rate gezogen. (Die Arbeit von Alles ist das den Monographien von Tjaden zur KPO, Drechsler zur SAP und Zimmermann zum Leninbund ebenbürtige Standardwerk. Alexander stützt sich - aus sprachlichen Gründen - vor allem auf die 1980 an der Universite de Paris entstandene Arbeit von Maurice Stobnicer.) Auch im zweiten Teil (\"German Trotskyism During and After World War II\"), der insgesamt schwächer ausgefallen ist als der erste, sind ihm etliche Fehler unterlaufen. Die (nach ihrer Beteiligung an der kurzlebigen \"titoistischen\" Unabhängigen Arbeiterpartei 1951) \"entristische\" Arbeit in der SPD leistende deutsche Sektion der Vierten Internationale konstituierte sich beispielsweise als offen auftretende Organisation (\"Gruppe Internationale Marxisten\") nicht 1967, sondern erst 1969. Sie \"fusionierte\" auch nicht 1968 - wie Alexander behauptet - mit einer Gruppe, die aus dem SDS hervorging (der im übrigen zu dieser Zeit auch schon lange nicht mehr der Studentenverband der SPD war). Möglicherweise hat Alexander dies mit dem Vorhaben der deutschen Trotzkisten durcheinandergebracht, gemeinsam mit prominenten Führern des SDS und der APO eine Zeitschrift herauszugeben - ein publizistisches Projekt, das der Überleitung eines möglichst großen Teils der anti-autoritären Bewegung in eine revolutionär-sozialistische Organisation dienen sollte. Die Zusammenarbeit, die die im Impressum der (im Mai 1968 erschienenen) Nullnummer der Zeitschrift Was tun aufgeführten Namen verhießen (darunter 486 JHK 1993EinzelrezensionenGünter Amendt, Peter Brandt, Rudi Dutschke, Gaston Salvatore, Christian Semmler, Thomas Schmitz­ Bender), kam indes gar nicht erst zustande. Infolge der späten Aufgabe des \"Entrismus\" haben die deut­ schen Trotzkisten zweifellos vorhandene Möglichkeiten, Einfluß auf die aus der Studentenrevolte hervor­ gegangene Bewegung zu gewinnen, verpaßt. Als sie im September 1970 (nicht wie Alexander schreibt im Frühjahr 1971) nach einer (von Alexander ebenfalls falsch datierten) Spaltung in den eigenen Reihen mit der \"Revolutionär-Kommunistischen Jugend\" (RKJ) eine Jugendorganisation schufen, war die \"Organisa­ tionsphase\" der APO bereits in vollem Gange. Die trotzkistischen Organisationen, die - an der Nahtstelle von alter und Neuer Linker - prädestiniert schienen, bei der Rekonstitution einer radikalen Linken in Deutschland eine bedeutende Rolle zu spielen, sahen sich als minoritäre Gruppen mit erheblich stärkeren stalinistischen und neostalinistisch-maoistischen Organisationen konfrontiert (DKP, KPD-AO, KPD/ML, KBW etc.), die ihre Möglichkeiten, Einfluß auf die \"neue Avantgarde\" zu gewinnen, erheblich (manchmal mit physischer Gewalt) beschnitten. Diese Situation bildete denn auch den Hintergrund für die inneren Konflikte und Auseinandersetzungen (\"Tendenzkämpfe\") der siebziger Jahre, die in Alexanders geraffter Darstellung zwar großen Raum einnehmen, aber kaum verständlich werden. (Auch was die Nachkriegsge­ schichte des deutschen Trotzkismus betrifft, empfiehlt es sich daher, eine weitere Arbeit hinzuzuziehen: Die 1984 erschienene Studie von Peter Brandt und Rudolf Steinke \"Die Gruppe Internationale Marxisten\" [in: Stöss, Richard (Hrsg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 19451980. Bd. 2, Opladen 1984, S. 1599-1647] zeichnet die Geschichte der deutschen Trotzkisten bis zu den achtziger Jahren nach. Sie beschränkt sich nicht auf die innertrotzkistischen Auseinandersetzungen, son­ dern behandelt auch die Aktivitäten der deutschen Sektion der Vierten Internationale und thematisiert Fra­ gen wie ihre Rolle in der Nachkriegsgeschichte der bundesrepublikanischen Linken.)Die angezeigten Mängel in Rechnung gestellt, bleibt dennoch festzuhalten, daß Robert J. Alexander ein wichtiges Buch vorgelegt hat.Horst LauscherVanden, Harry E.: Latin American Marxism. A Bibliography. Garland Publishing, New York, London1991, 869 s.Der insbesondere durch seine kenntnisreichen Mariategui-Studien bekannt gewordene Harry E. Vanden hat der Kommunismusforschung mit der vorliegenden Bibliographie ein wichtiges Hilfsmittel an die Hand gegeben.Einerseits trägt die umfangreiche Materialsammlung (6.358 Titel) dazu bei, eine seit langem klaffende Lücke der Forschungsarbeiten schließen zu helfen. Mit dem Blick auf ganz Lateinamerika und auf den in­ ternationalen Forschungsstand präsentiert diese Bibliographie eine umfassende Zusammenstellung veröf­ fentlichter zeitgenössischer Materialien sowie wissenschaftlicher Darstellungen zum Gegenstand. Zum an­ deren ist die Handreichung gerade heute nach bzw. in den Jahren welthistorischer Umbrüche von besonde­ rem Wert, da international eine Um- und Neubewertung des Marxismus oder (um dem Autor wohl eher gerecht zu werden) der Marxismen resp. des am Marxschen Ideengebäude anknüpfenden Theorie- und Politikverständnisses zu beobachten ist.Das Vorwort (XI-XIII) und eine kurze Einleitung (XV-XXII) erläutern die Entstehungsgeschichte des Buches und seine innere Struktur, verweisen auf die Hauptetappen der Entwicklung des Marxismus in La­ teinamerika, auf seinen vielfach innovativen Einfluß auf Theorie und Praxis der Linken, besonders aber auch auf die verheerenden Konsequenzen der \"centralization of Marxist thinking and planning in the Sovi­ et Union\" unter Stalin und des \"bureaucratic, unimaginativ dogmatism\", die die Komintern wie stets auch EinzelrezensionenJHK 1993 487die offiziellen kommunistischen Parteien beherrscht hätten, mit allen daraus resultierenden Folgen für den von den Kommunisten als Parteiideologie monopolisierten Marxismus.Inwieweit der an dem seinerzeit beeindruckenden Marxismus-Verständnis Mariäteguis anknüpfende Autor in seiner Kritik aus heutiger Sicht viel zu kurz greifen und auch damit ein tieferes Verständnis der Wege und Irrwege der am Marxismus orientierten politischen Strömungen, Bewegungen und Parteien erschweren mag, vor allem aber auch den angestrebten Erneuerungsprozeß der von Vanden sehr eng gefaßten \"Linken\" in Lateinamerika zu vereinfacht darstellt, läßt sich in der hier gebotenen Kürze nicht beantworten.Die Bibliographie ist chronologisch aufgebaut und in vier Kapitel gegliedert: Das erste umfaßt die Anfangsjahre bis 1920 (3-13), das zweite die Jahre 1921 bis 1945 (15-100), das dritte den Abschnitt von 1946 bis 1960 (101-283), das vierte den Zeitraum von 1961 bis in die achtziger Jahre (285-810); die Kapitel sind jeweils in einen allgemeinen und einen nach Ländern geordneten speziellen Bereich unterteilt. Ein Personenregister (811-869) schließt den Band ab. Bereits die zeitlichen Einschnitte könnten - zumindest für 1920/21 und 1960/61 - eine spannende Debatte nach allgemein wie spezifisch lateinamerikageschichtlichen Kriterien anregen. Indessen findet der Spezialist wie der historisch Interessierte in allen Abschnitten bibliographische Kostbarkeiten zuhauf angezeigt, Quellenmaterialien, die in ihrer Dichte von der Forschung bisher allemal viel zu wenig dem kritischen Vergleich unterworfen worden sind.Obschon Umfang wie inhaltliche Proportionen zu den einzelnen Zeitabschnitten in vielem reale Prozesse reflektieren, sind insbesondere für die ersten beiden Kapitel wohl noch erhebliche Lücken zu konstatieren, muß gerade hierzu die Sucharbeit intensiviert werden. Aber es fehlen auch viele bekannte Materialien, zu den Anfängen des Marxismus in Lateinamerika ebenso wie für die zwanziger und dreißiger Jahre, die in der einschlägigen Fachliteratur schon wiederholt ausgewertet worden sind. Angesichts der von Vanden deutlich vorgestellten Rolle der Komintern verwundert, daß ihre bei weitem nicht nur in russisch und/oder deutsch vorliegenden veröffentlichten Materialien zu Lateinamerika - sowohl die zentralen wie jene der Regionalzentren und ihrer nationalen Sektionen in Lateinamerika selber - nicht systematisch durchforstet worden sind; viele Schlüsseldokumente fehlen (nicht zuletzt von Mariategui, jedoch auch zu wichtigen Wendepunkten für die Gesamtperiode). Einzelnes erscheint zuweilen eher zufällig, wodurch umfassende Wertungen in eine bedenkliche Schieflage zu geraten drohen. Gleiches wäre aus ähnlichen Gründen zum fast völligen Fehlen sowjetischer Arbeiten zu sagen.Die Nutzung der Bibliographie wird dadurch erschwert, daß Primärquellen und Sekundärliteratur zur jeweiligen Thematik nicht voneinander getrennt aufgelistet werden, die Quellen also nicht deutlich abgehoben erscheinen und auch deren inneres Ordnungsprinzip nicht durchgängig eingehalten wird.Sicherlich ließe sich die Liste der Kritikpunkte, vor allem aber eine Reihe weiterführender Fragen an den Autor fortsetzen, die alle in eine Richtung weisen: Das von Vanden in Anknüpfung an etliche frühere Versuche in Angriff genommene Projekt sollte in breiter Kooperation fortgeführt werden; Größenordnung(en) und Anforderungen übersteigen die Kraft eines Einzelnen - eine theoretisch sicher richtige Erkenntnis, der Vanden aber mutig und mit sichtlichem Erfolg trotzte 1 Die materialreiche Sammlung regt letztendlich erst kritische und vor allem weiterführende Folgerungen an: Sie ist damit derzeit die beste und nützlichste Bibliographie zum Thema.Jürgen Mothes 488 JHK 1993EinzelrezensionenGlaeßner, Gert-Joachim/Reiman, Michal (Hrsg.): Die politischen Systeme der sozialistischen Länder. Entstehung - Funktionsweise - Perspektiven. Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1991 (Berliner Schriften zur Politik und Gesellschaft im Sozialismus und Kommunismus, hrsg. von Hanne­ lore Horn, Wladimir Knobelsdo,fund Michal Reiman, Bd. 3), 204 S.Texte zu den politischen Systemen des \"real existierenden Sozialismus\" aus dem Jahre 1989, im Jahre 1991 publiziert und 1993 rezensiert: Das grenzt auf den ersten Blick an Anachronismus. Obwohl \"die so­ zialistischen Länder\" als Gesamtheit im Titel genannt sind, ist die Sowjetunion das eigentliche Thema. Vorzustellen sind hier Referate einer Tagung deutscher und sowjetischer Wissenschaftler, die im Frühjahr 1989 vorwiegend zum Thema Perestroika und Reformen in der Sowjetunion stattfand. Konferenzort (West-Berlin) und Thematik unter Beteiligung sowjetischer Wissenschaftler waren zu dieser Zeit unter der Ägide des \"neuen Denkens\" noch etwas Außergewöhnliches, früher noch wäre es freilich eine Sensation gewesen. Insgesamt kann dann nicht verwundern, wenn hier Beiträge höchst unterschiedlichen Charakters und \"Reichweite\" vorgelegt werden. Zum ersten zählen dazu Themen, die Chancen, Ziele und Strategien der Reformpolitik in der Sowjetunion untersuchen, wie deren \"sozialistische Perspektiven\", Probleme der leninistischen Doktrin oder grundsätzliche Aspekte der Wandlungsfähigkeit des Sowjetstaates. Diese vorwiegend normativ orientierten und argumentierenden Beiträge illustrieren manches zur \"Innenansicht\" der Politik der Perestroika, zeigen aber zugleich aus der Retrospektive nur schmale Aspekte des Hand­ lungsspielraumes und der Erkenntnisinteressen der Reformer.Ungleich \"zeitloser\" ist ein zweiter Komplex von Beiträgen, der sich historischen Problemen des so­ wjetischen Herrschafts- und Gesellschaftssystems annimmt, so zur Formationsphase der zwanziger Jahre (Michal Reiman), aber auch zur Entwicklung seit 1985 (Zdenek Mlynar, Klaus von Beyme oder Leonid A. Gordon/Maria Nazimova). Das dritte große Themenfeld erschließt einige Politikfelder, die sich für die Nachfolgerstaaten der Sowjetunion als besondere Hypothek erwiesen, wie die Nationalitätenproblematik (Jurij S. Novopashin), die Kultur- und Bildungspolitik (Michail N. Kuzmin), die Frage der Selbstverwal­ tung (Eduard V. Klopov) und, recht eindrucksvoll, die Rolle des Zentralismus (Hannelore Horn).Naturgemäß können Sammelbände von Tagungsreferaten nur begrenzt neue Forschungsergebnisse mit entsprechender Material und Datenbasis präsentieren; das ist auch hier der Fall. Die eigentliche Besonder­ heit der Tagung, die Mitwirkung sowjetischer Wissenschaftler, hat durch die rapide politische Entwick­ lung ihr eigentliches Gewicht schnell verloren. Es bleiben einige Beiträge, die einige Grundprobleme der sowjetischen Gesellschaft knapp und systematisch skizzieren. Unerfreulich sind (abschließend) drei Dinge: erstens die vielen Satzfehler, zweitens das (eigentlich) sinnvolle und übersichtliche Schlußkapitel (von Ingmar Sütterlin), das die Erträge der Tagung systematisch bilanziert und erschließt - allerdings unter Ein­ schub derer, die in diesem Band nicht wiedergegeben sind, und drittens das Fehlen eines Autorenregisters.Werner Müller 488 JHK 1993EinzelrezensionenPradetto, August: Techno-bürokratischer Sozialismus. Polen in der Ära Gierek (1970-1980). Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1991 (Berliner Schrifet n zur Politik und Gesellschaft im Sozialismus und Kommunismus, Band 6), 227 S.Pradetto setzt sich zum Ziel, die Rolle des Verwaltungssystems und der Verwaltungsreformen der siebzi­ ger Jahre bei der Herausbildung der ökonomischen und politischen Krise in Polen Ende der siebzi­ ger/Anfang der achtziger Jahre herauszuarbeiten. Er begreift seine Studie als politik- wie rechtswissen­ schaftliche Arbeit. Nach der Darlegung der Problemstellung und etwas langatmigen methodologischen und theoretischen Vorüberlegungen werden in vier Hauptkapiteln die Organisationsprinzipien der Verwaltung EinzelrezensionenJHK 1993 489im kommunistischen Polen und die Verwaltungsreformen Mitte der siebziger Jahre dargestellt, danach das Spannungsverhältnis zwischen Zentralismus und der Artikulationsmöglichkeit lokaler Interessen, sodann die Gierekschen Wirtschaftsreformen im Zusammenhang mit den Verwaltungsreformen und schließlich das Verhältnis von Partei und Verwaltung,Pradetto hebt ab auf die technokratische Grundeinstellung der Equipe um Gierek, in deren Augen der Staat \"ein einziger riesiger Konzern\" war (106). Zwar entdeckt Pradetto immer wieder Parallelen zum An­ satz der stalinistischen Führung der fünfziger Jahre, die Rolle der Partei in Staat und Gesellschaft auszu­ bauen, betont aber zu Recht, daß dies für Gierek und seine Mannschaft anders als für Bierut und Genossen 20 Jahre zuvor weniger in der kommunistischen Ideologie als in der \"technokratischen Vision der Planbar­ keit aller gesellschaftlichen Prozesse\" begründet lag (214).Pradettos nur scheinbar paradoxes Fazit ist plausibel, daß trotz \"enttotalisierender\" Tendenzen in Teil­ bereichen auch in den siebziger Jahren ein \"struktureller Stalinismus\", der im Machtmonopol der Partei begründet lag, Politik und Ökonomie bestimmte und letztlich zum Scheitern des sozialistischen Experi­ ments in Polen führte. Den im Vorwort erhobenen Anspruch, sein Fazit bestehe in einer \"generellen Neu­ bewertung der Ära Giereks\", kann er allerdings nicht einlösen. Grundlegende Gedankengänge sind in der polnischen wie in der westlichen Literatur schon ausgeführt worden, freilich noch kaum in der von Pradet­ to vorwiegend verwendeten Literatur der siebziger und frühen achtziger Jahre. So hätte die Heranziehung von Standardwerken wie der Monographie von Gabrisch 1981 oder des vom polnischen Ökonomen Alek­ sandcr Müller herausgegebenen Sammelbandes von 1985, die man auch im - von \"Voluntarismus\" nicht ganz freien - Literaturverzeichnis vermißt, ermöglicht, die Wirtschaftsreformen exakter darzustellen (so war z.B. die Politik gegenüber der privaten Landwirtschaft in den siebziger Jahren zwar am Anfang \"liberal\", änderte sich aber wenige Jahre später radikal) und gerade auch den Zusammenhang mit den Verwaltungsreformen noch schärfer zu fassen.Gleichwohl werden grundlegende, sich aus dem Machtmonopol der kommunistischen Partei ergebende Strukturprobleme einsichtig analysiert, die zum Scheitern der technokratischen Strategie der siebziger Jahre führten, und auch über den Systemwandel von 1989 fortwirkende und nur schwer zu beseitigende Hypotheken werden deutlich wie die niedrige Verwaltungskultur oder die Demontage der lokalen Indu­ strie,Klaus Ziemer EinzelrezensionenJHK 1993 489Wagner, Richard: Sonderweg Rumänien. Bericht aus einem Entwicklungsland. 2. Aufl. Rotbuch Verlag, Berlin 1992, 144 S.The central question with which the author is concerned is why the disappearance of Communism did not lead to democracy and a market economy. He seeks answers in the preceding four decades of Communist rule, particularly in the Ceausescu dictatorship. At the same time he discerns certain lines of continuity between the Communist period and Rumanian nation-building before the Second World War. Against this background he defines the nature of the political regime that came to power after the revolution of December 1989.Wagner finds the relentless suppression of all opposition to Communist domination to have been of crucial importance for the development of post-Ceausescu Rumania, since it deprived the advocates of democracy of experience in organization and solidarity and isolated them from the mass of the population. He also shows how Ceausescu\'s cult of personality gradually eviscerated public institutions, even the Communist Party, and transformed them into mere instruments for carrying out his orders. The Securitate was, in a sense, an exception, inasmuch as it continued to perform its primordial functions of security and 490 JHK 1993Einzelrezensionenrepression. But it was no less bound to Ceausescu and indeed became the main prop of his dictatorship. The most damaging effect of Communist rule that emerges from this account of a police state was the re­ duction of the populace to a condition of deep anxiety and mistrust and, in the end, to impotence and resi­ gnation.Thus it was, as Wagner sees it, that former Communists and the Establishment in general not only sur­ vived the December revolution, but afterwards rapidly gained political ascendancy. Their vehicle, the Na­ tional Salvation Front, had no serious competitors, thanks to the destructiveness of the Ceausescu regime. Anti-Communists, represented by the \"spontaneous\" revolutionaries, especially the youth and many intel­ lectuals, and returning emigres, had neither the organizations nor the programs necessary to win mass sup­ port. In contrast, the leaders of the Front correctly judged the limited, mainly material expectations of the populace at large and were thus able to offer a program of change that fitted in with their own ideological upbringing and conception of nation-building. Technocrats and reform Communists, they were, as Wagner points out, advocates of dirigisme and national self-determination as those terms had been understood in the 1960s and even to some extent in the interwar period.Rumania\'s experience of Communism, as presented here, makes for somber reading. Nor does Wag­ ner\'s conclusion that the end of Communism is the revival of nationalism offer much reassurance about the future. This small book is indeed thought-provoking, and its indictment of Communist oppression is con­ vincing, but it focuses almost exclusively upon the negative aspects of Rumania\'s general historical deve­ lopment. A comprehensive treatment of the subject would suggest more balanced assessments of the coun­ try\'s past and of its prosprects for the future.Keith Hitchins 490 JHK 1993EinzelrezensionenNowak-Jezioranski, Jan: Wojna w eterze. Wspomnienia [Krieg im Äther. Erinnerungen] Tom I 1948-1956. Wydawnictwo Znak, Krakow 1991, 348 S.; ders.: Polska z oddali. Wspomnienia [Polen aus der Feme. Erinnerungen] Tom II 1956-1976. Wydawnictwo Znak, Krakow 1992, 476 S.Der Verfasser der Erinnerungen war von 1951 bis 1975 Leiter des Polnischen Senders von \"Radio Free Europe\" (RFE), das ab 1952 mit Unterstützung des 1949 entstandenen amerikanischen \"Komitee Free Eu­ rope\" Radioprogramme in osteuropäischen Sprachen ausstrahlte. Es handelte sich um einen Emigranten­ Sender, den die amerikanische Administration nicht politisch kontrollierte, wie dies beispielsweise bei den Auslandssendungen der staatlichen Radiosender \"The Voice of America\", der BBC und anderen der Fall war.Der Verfasser gewährt interessante Einblicke in die Vorgeschichte des Senders, in die unterschiedli­ chen politischen Widerstandskonzepte der nationalen Redaktionen und die widersprüchliche Konzeption der Dullesschen \"Befreiungsmission\". Der durch ihn aufgrund seiner Position persönlich erlittene \"Mehr­ frontenkrieg\" zwischen polnischen, amerikanischen, deutschen u.a. Interessen und ihren verschiedenen Wahrnehmungs- und Handlungsebenen facettiert das verbreitete oberflächliche Bild vom \"Kalten Krieg\" und gewährt stellenweise sehr interessante Einblicke in interne Funktionszusammenhänge. Eingeweihte wird nicht überraschen, daß in Polen schon 1954 40 Prozent der Radiobesitzer regelmäßig mindestens dreimal wöchentlich und 60 Prozent sporadisch RFE gehört haben. Die Hörerzahlen stiegen dort bei aus­ sergewöhlichen Ereignissen bis auf 80 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahre an, die mindestens zweimal wöchentlich unzensierte freie Nachrichten hörten. Das RFE war nach dem Tod Stalins in Osteuropa zu ei­ nem nicht zu unterschätzenden politischen Machtfaktor geworden.Eine spannende Lektüre nicht nur wegen der bisweilen minuziös nachgezeichneten Wahrnehmung der innerpolnischen Entwicklung, sondern auch der globalpolitischen Interessenkonflikte. Schon nach dem EinzelrezensionenJHK 1993 491Ungarischen Aufstand von 1956 geriet der Sender ins Kreuzfeuer heftiger Kritik aus allen Richtungen, nachdem die amerikanische Diplomatie seit den Ereignissen in der DDR 1953 die \"Politik der Befreiung\" nur noch als \"reine Rhetorik\" verstanden hatte. Nach den ungarischen Ereignissen lautete das politische Ziel des RFE: \"Gradualismus\", also eine stufenweise Evolution in Osteuropa, und \"Nationalkommunis­ mus\" als Mittel zum Ziel. Im Zweifrontenkrieg mit vielen Nebenkampfplätzen, in dem beide Seiten die \"Emigranten\" und das RFE als \"Sündenböcke\" behandelten, weil deren angeblicher Antikommunismus in die Katastrophe geführt habe, wurden heftige Konflikte mit der amerikanischen Administration ausgefoch­ ten, welche den Sender unter ihre Kontrolle bringen wollte. Hinzu kamen später Konflikte innerhalb der polnischen Emigration, mit deutschen Vertriebenenverbänden, mit deutschen Parteien. In der Phase der \"neuen Ostpolitik\" verschärften sie sich vor allem nach dem Abschluß des deutsch-polnischen Vertrages von 1970: 1971 stoppte der US-Kongreß die Finanzierung durch die CIA (jährlich 30 Millionen $), ein Teil des Kongresses trat für die Liquidierung des \"Relikts des Kalten Kriegs\" ein, mit Hilfe einer \"Salami­ Taktik\" der Mittelreduzierung und Entlassungen schrumpften danach die Arbeitsteams zusammen. Trotz vornehmer Zurückhaltung fällt die Kritik an der unter Nixon verbreiteten Theorie Henry Kissingers und Helmuth Sonnenfeldts vom Ende der Konfrontation recht deutlich aus. Das Entstehungsdatum des Plä­ doyers Sonnenfeldts für einen \"organischen Charakter der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und ihren osteuropäischen Satelliten\" deckt sich mit dem Zeitpunkt der Demission des Autors vom Posten des Direktors des polnischen Senders 1975.Nowaks Erinnerungen sind nicht nur geeignet, die gegenwärtig verbreitete These vom amerikanischen Sieg im Kalten Krieg, wenn nicht zu relativieren, so doch wenigstens zu differenzieren und die Aufmerk­ samkeit wieder stärker auf globalpolitische Stabilisierungsstrategien und ihre \"externen Kosten\" zu lenken. Sie sind ein wichtiges Dokument über die \"innere Geschichte\" des Kalten Krieges mit seinen vielen öf­ fentlichen und verborgenen Haupt- und Nebenplätzen.Jan Foitzik EinzelrezensionenJHK 1993 491Florath, Bernd/ Mitter, Arminl Wolle, Stefan (Hrsg.): Die Ohnmacht der Allmächtigen. Geheimdienste und politische Polizei in der modernen Gesellschaft. Christoph Links Verlag, Berlin 1992, 298 S.Der Band dokumentiert die Referate einer Konferenz des Unabhängigen Historikerverbandes (UHV), die im Januar 1992 in der Berliner Humboldt-Universität stattfand. Fünf Beiträge behandeln das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, fünf befassen sich mit nicht-sozialistischen Geheimdiensten bzw. politischen Polizeien des 19. und 20. Jahrhunderts, ein Autor vergleicht MfS und Gestapo, ein Vortrag hat mit ge­ heimdienstlicher Tätigkeit nichts zu tun. Fünf der Autoren kommen aus Westdeutschland, acht aus Ost­ deutschland. Alle sind männlich.Eines wird in diesem Band deutlich: Unter Geheimdienstforschung versteht offenkundig jeder etwas anderes. Kaum ein Beitrag, in dem erkennbar Bezug genommen wird auf benachbarte Arbeitsgebiete, pa­ rallele oder analoge Fragestellungen, vorhandene Forschungsergebnisse. So wird mit dem Band dokumen­ tiert, daß die methodische Debatte auf diesem Feld in Deutschland noch weitgehend in den Kinderschuhen steckt.Ärgerlich und keiner weiteren Erwähnung wert ist die \"Story\"-Sammlung von Karlheinz Schädlich aus der Welt der britischen Geheimdienste MI 5 und SIS. Hier hätte es sicher ernstzunehmende Fragen gege­ ben (etwa im Zusammenhang mit dem Nordirlandkonflikt), sie blieben ungestellt. Karl-Heinrich Pohls Vortrag über eine sozialdemokratische Friedensinitiative während des Ersten Weltkrieges soll hier eben­ falls nicht weiter behandelt werden. Er ist interessant, hat aber mit Geheimdiensten nichts zu tun. 492 JHK 1993EinzelrezensionenDie begriffsgeschichtlichen Grundlagen der obrigkeitsstaatlichen Tradition deutscher Geheimdiensttätigkeit arbeitet Alf Lüdtke anhand der Termini \"Staat\" und \"Sicherheit\" heraus. Andreas Graf weist nach, daß im späten Kaiserreich das Anlegen eines \"Anarchisten-Albums\" weniger der Bekämpfung von Staatsfeinden als der Legitimation der Sozialistengesetze und anderer Verfolgungsmaßnahmen gegen die Arbeiterbewegung diente. Die Ergebnisse bürgerrechtlich motivierter Forschungsarbeit über die westdeutschen Geheimdienste stellt Falco Werkentin vor. Wie er schlüssig darlegt, stehen die Erfolge in der Verfolgung politischer Straftaten im diametralen Gegensatz zur Personalentwicklung der Nachrichtendienste. Seine These lautet, \"daß die Dienste keineswegs ein besonders starkes Interesse daran haben, ihre Gegner völlig auszuschalten. Ihre Existenz, ihr Wachstum, ihre Bedeutung ist symbiotisch abhängig von Größe und Stärke des Gegners\" (251). Gleichzeitig weist er auf die hohe Zahl von Denunziationen durch die Westdeutschen hin, die zwar nur zu einem geringen Teil zu Verurteilungen führen, aber ein hohes Maß an Systemloyalität stemloyalität dokumentieren. \"Vielleicht [...] war das MfS auf ein hochformalisiertes System inoffizieller Mitarbeiter mit seinen vielen Varianten gerade deshalb angewiesen, weil es in der DDR-Gesellschaft an der Bereitschaft zur Spontandenunziation als \'Plebiszit für das System\' gerade mangelte [...]\" (256).Der Beitrag von Wladislaw Hede/er zur zaristischen Geheimpolizei Ochrana wirkt anregend, einen Vergleich von Ochrana und MfS zur Rolle von Geheimdiensten in (vor-) revolutionären Gesellschaften vorzunehmen. Läßt sich verallgemeinern, was Lenin in Bezug auf den hochrangigen Bolschewiken und Spitzel Malinowski sagte: \"Mit der einen Hand schickte Malinowski viele Dutzend der besten Vertreter des Bolschewismus in Verbannung und Tod, während er mit der anderen Hand helfen mußte, vermittels der legalen Presse viele Zehntausende neuer Bolschewiki zu erziehen\"(52 f.)? Zum anderen ist die Ochrana interessant, weil mit der Massivität ihres Vorgehens eine Traditionslinie eröffnet wurde, die die Tscheka später zum Maß ihrer Reaktionen nahm. Die Weiterentwicklung der Tscheka zum umfassenden Terrorinstrument und Vorbild der DDR-Staatssicherheit wird im Band leider kaum thematisiert. Nur Karl-Wilhelm Fricke spricht diese Frage in seiner Zusammenfassung der MfS-Geschichte an, betont außerdem die Bindung an die SED und die fehlende Bindung an gesetzliche Vorschriften als Voraussetzung für die \"Hypertrophierung des MfS zu einem schier omnipotenten\" (123), aber letztlich dysfunktionalen Apparat. Erstmals dokumentiert er das Statut des MfS von 1969. Ein kleiner Fehler sei vermerkt: Markus Wolf ist nicht 1986, sondern erst im März 1987 aus dem Dienst geschieden (129).Die Vorläufer des MfS in der Deutschen Verwaltung des Innern (Kommissariat 5 und Abt. Nachrichten/Information) untersucht Jochen Laufer anhand von MfS-Materialien und britischen sowie sowjetischen bzw. russischen Archivalien. Vor dem Hintergrund von Kaltem Krieg und offener Deutschlandfrage wertet er Aussagen Mielkes und anderer als Indizien für einen frühzeitigen Spaltungswillen der SED. Ebenfalls aus der Frühzeit der DDR berichtet der Theologiestudent Stephan Wolf, Mitherausgeber einer Dokumentensammlung zum Verhältnis von MfS und Kirchen, in einem umfänglichen Beitrag von 41 Seiten. Er versucht die Kontinuität des Kampfes der SED gegen die Kirchen bis zur Gründung des Freidenkerverbandes 1988 zu belegen, ohne freilich die Wandlungen und Differenzierungen der SED-Kirchenpolitik zu thematisieren.Methodisch interessant sind die Überlegungen von Wanja Abramowski, einem ehemaligen hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS. Er versucht sich aufgrund seiner eigenen Erfahrungen an einer Typologie der MfS-Mitarbeiter, beschreibt die in den achtziger Jahren um sich greifende Verunsicherung und Lähmung. Im Laufe seiner Darlegungen versteigt er sich in Verschwörungstheorien über die Beteiligung westlicher Geheimdienste an der Maueröffnung, die wissenschaftlich bislang unbelegt blieben. Seine Thesen verweisen aber auf die Frage nach dem Wissensstand der Bundesregierung und ihrer Nachrichtendienste über die damalige reale Lage in der DDR. Stefan Wolle schließt mit einer Polemik gegen die von Henryk Broder in die Welt gesetzte These, die Wende in der DDR sei das besonders perfide und perfekt geplante Werk der Stasi gewesen, an. Zu Recht weist er daraufhin, daß es keinerlei Belege für diese These gibt. EinzelrezensionenJHK 1993 493Mit der rhetorischen Frage nach dem Zweck einer neuen Totalitarismus-Debatte leitet Rainer Eckert seinen Vergleich von SD/Gestapo und MfS ein. Obwohl er eingangs noch die Frage für bedeutsam dekla­ riert, \"ob Faschismus und Realsozialismus Formen totalitärer Herrschaft waren\" (263), geht er im weiteren mit Selbstverständlichkeit davon aus, das eben dieses so sei. Noch problematischer ist allerdings sein nächster Schritt: Er vergleicht NS- und DDR-Geheimdienste hinsichtlich ihrer Berichte über die Bevölke­ rungsstimmung und kommt dabei zu so bemerkenswerten Ergebnissen wie dem, daß beide \"inhaltlich alle Lebensgebiete und jede Bevölkerungsgruppe zu erfassen\" suchten (289), und bei den überwachten Men­ schen \"Angst\" auslösten. Hätte er etwa die Rolle der Geheimdienste bei der Vorbereitung und Durchfüh­ rung von Massenmorden verglichen, wären die Unterschiede vermutlich deutlicher ausgefallen. Es bleibt dabei: Die Nazis haben Leichenberge produziert, die Stasi Aktenberge - wer dies ignoriert, wird an jedem Vergleich von Nationalsozialismus und Realsozialismus scheitern.Daß Geheimdienstforschung nicht nur mit James-Bond-Abenteuern, IM-Enthüllungen und fragwürdi­ gen Vergleichen zu tun haben muß, sondern auch einen Beitrag zum tieferen Verständnis gesellschaftlicher Vorgänge liefern kann, zeigen Klaus-Michael Mailmann und Gerhard Paul in ihrem exquisiten Bericht über die Gestapo-Forschung der vergangenen Jahrzehnte. Sie legen dar, wie im Schatten der üblichen Sen­ sationsautoren Sozial- und Alltagshistoriker die realen Herrschaftsmechanismen, aber auch ihre Grenzen und Spezifika herausgearbeitet haben und z.B. die Rolle von freiwilligen Denunziationen erstmals be­ leuchteten: \"Was auch bei der zukünftigen Analyse des Systems der Staatssicherheit der ehemaligen DDR notwendig erscheint, ist die Einbettung der Untersuchung der formellen Sicherheitsinstitutionen in eine umfassendere Analyse der DDR-Gesellschaft. Anderenfalls besteht einmal mehr die Gefahr, einem neuen Exkulpationsmodell aufzusitzen, das die Gesellschaft entlastet und alle Schuld den Organen der Staatssi­ cherheit anlastet.\"( 109)Jens Gieseke L\'inzelrez.ensionenJHK 1993 493Meuschel, Sigrid: Le!;itimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989. Suhrkamp Verla!;, Frank/urt/M. 1992, 499 S.Dieses Buch beschreibt den Staat, den ich in meiner wissenschaftlichen Arbeit Jahrzehnte kritisiert und verteidigt habe. Ich selbst finde in dem Buch einen Platz als Reformer, was mich in Anbetracht dessen, was ich heute über mich lesen und vor allem im Bundestag hören muß, mit Genugtuung, aber zugleich auch mit Wehmut über das letztliche Scheitern erfüllt.Die Autorin hat die erste Fassung des Buches vor 1989 ausgearbeitet. Sie fand die politische Kultur dieses Sozialismus nach eigenem Eingeständnis nie attraktiv. Um so mehr muß der Grundansatz hervorge­ hoben werden, die politische Kultur der DDR von der Gesellschaft, nicht vom Staat her zu analysieren. Wir haben heute eine Fülle von Ansätzen, in denen die unbestreitbare Übermacht des zentralistischen Staa­ tes im Mittelpunkt steht, in denen vom administrativen zentralistischen Sozialismus, vom Monosubjekt, vom Kasernensozialismus und ähnlichem gesprochen wird. Ihren politisch verbindlichen Ausdruck fand diese Sichtweise im Titel der Enquete-Kommission des Bundestages \"Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland\".Die Autorin geht demgegenüber von der Gesellschaft aus und charakterisiert sie als \"klassenlos\", ent­ diffcrcnzicrt, als \"homogene Gesellschaft der Staatsangestellten, der unmittelbar Abhängigen und ökono­ misch Unselbständigen\" ( 12). Dieser Ausgangspunkt ist deshalb so wichtig, weil nur er in meinen Augen das Verständnis für die heutigen Schwierigkeiten bei der Herstellung der sog. inneren Einheit erlaubt. Of­ fenbar waren viele in Westdeutschland der Meinung gewesen, es genüge, den Staat beiseite zu räumen, ei- 494 JHK 1993Einzelrezensionenne Zielstellung, die in den fünfziger Jahren vielleicht noch ihre Berechtigung hatte. Inzwischen war längst aber eine eigene Gesellschaft entstanden.Die Autorin sieht diese Gesellschaft durchaus mit Abstand. Es fehlt bei ihr die Sympathie, die in Gaus\' durchaus ähnlicher Charakterisierung \"Staatsvolk aus kleinen Leuten\" mitschwingt (Gaus, G.: Wo Deutschland liegt. Hamburg 1983. S. 44), allerdings auch der Haß, der bei Arnulf Baring zu spüren ist: \"Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt\", in graue Mäuse verwandelt (Deutschland, was nun? Berlin 1991. S. 59, S. 78). Die Autorin leitet aus ihrer Diagnose sowohl die lang währende Stabilität als auch den plötzlichen Zusammenbruch ab. Sie unterscheidet drei Perioden: \"Antifaschistischer Stalinismus\", \"Legitimation durch Reform\" und \"Im Schatten der Finalitätskrise\". Solange die ursprüngliche antifaschistische Legitimation noch fortwirkte, Utopien, später Reformversprechen noch glaubhaft waren, solange dann jedenfalls der Lebensstandard sich noch verbesserte, war die Gesellschaft weitgehend frei von offenen Konflikten.Zugleich aber konnte die gerade aus der Entdifferenzierung herrührende Innovationsschwäche nicht überwunden werden, fehlten wirksame ökonomische, politische und juristische Subsysteme, die, als dann der Konflikt zwischen Herrschenden und Beherrschten aufbrach, diesen hätten kanalisieren und die bewußte Transformation hätten einleiten können (226, 14).Gegenüber der Durchführung dieses Ansatzes habe ich drei Einwände: Einmal erscheint die Herausbildung dieser Gesellschaft nur als Mittel zum Zweck für die Herrschenden. Die Partei hat gewissermaßen die Gesellschaft geschaffen, um besser regieren zu können. Der Antifaschismus etwa habe \"das Wunder vollbracht, den Stalinismus in der DDR dem Vergessen anheim zu stellen\" (40), die Enteignungen leiteten das Ende bürgerlicher Verfügungsgewalt ein und zur politischen Herrschaft der Kader über (43). Meine Erfahrungen als \"Berufspolitiker\" in den letzten Jahren haben mir sehr deutlich gemacht, wie ideologische Behauptungen nur dem kollektiven oder sogar dem persönlichen Machterwerb und -erhalt dienen. Dennoch bleibt immer ein Verhältnis von Interessen, Überzeugungen und Machtkampf. Die Autorin weist ja selbst darauf hin, daß es in ganz Deutschland nach 1945 eine starke antikapitalistische Strömung gab (32). Es gab auch einen wirklichen Antifaschismus der Kommunistischen Partei, so wie es einen wirklichen Antikommunismus der NSDAP mit blutigen Konsequenzen gegeben hatte. Gleichzeitig ist es natürlich auch richtig, daß der ultralinke Kurs der KPD erst 1935 korrigiert, daß vom Sozialfaschismus gesprochen wurde, daß in der historischen Darstellung vieles verschwiegen wurde gerade in Bezug auf die Stalinzeit (60). Das eine schließt aber das andere nicht aus. In der DDR war wirklicher Antifaschismus auch bei Erich Honecker - horribile dictu und er wurde auch für Zwecke des Machterwerbs und der Machterhaltung genutzt, so wie jede ideelle Position auch genutzt wird. Zum zweiten verzichtet die Autorin trotz zahlreicher von ihr dargestellter ideologischer aber auch praktisch politischer Widersprüche nicht auf die Kategorie des Totalitarismus (84). Widersprüchlich ist bereits die Demokratiekonzeption der Anfangszeit: \"Man plädierte für die uneingeschränkte Volksherrschaft, meinte aber zugleich, das Volk sei zu seiner Souveränität erst zu erziehen\" (81); später erfolgten hier konzeptionelle Auseinandersetzungen in den sechziger und dann noch einmal in den achtziger Jahren (vgl. dazu 256 ff.), alles immer auch mit praktischen Auswirkungen. Das ganze Buch lebt geradezu von den ideologischen Auseinandersetzungen, die tatsächlich oft unbarmherzig und auch mit Hilfe staatlicher Machtmittel geführt wurden, jedoch niemals wirklich abgeschlossen waren. Für die Autorin ist aber der Anspruch, \"eine neue Gesellschaft über die Köpfe der Gesellschaftsmitglieder hinweg zu schaffen\" schlechthin \"totalitär gewesen\" (84). Auch als sich mit dem Neuen Ökonomischen System die Wissenschaften ausdifferenzierten, erhöhte sich nur \"die Komplexität des marxistisch-leninistischen Führungsanspruchs in seiner nach wie vor totalitären, auf die Gestaltung der ganzen Gesellschaft ausgerichteten Intention\" (194). EinzelrezensionenJHK 1993 495Ich bestreite nicht, daß es solche Vorgaben gab. Aber eine Gesellschaft der weitgehenden sozialen Gleichheit, die sich auf Marx bezieht, bringt notwendig demokratische Bedürfnisse hervor, die auch \"von unten\" in die Wissenschaft, viel stärker noch in die Literatur eindrangen. Gerade deshalb waren ja auch Wissenschaft (vgl. 28) und Literatur und nicht Tageszeitungen der bevorzugte Studienstoff der DDR-For­ schung. Gerade in diesen Bereichen waren die Vertreter von Bürgerbewegungen wie die SED-Reformer überwiegend beheimatet. Hier wurde auch zum Unbehagen vieler nach dem Beiseiteräumen des Staates viel DDR-Gesellschaftliches sichtbar.Drittens schließlich sieht die Autorin die Geschichte von DDR-Legitimität und -Loyalität im wesentli­ chen als eigenständigen Prozeß. Vor allem wird der deutsch-deutsche Kontext nur vereinzelt deutlich. Wenn sie der SED nationalistische, ja chauvinistische Positionen vorwirft (99f.), so bleibt weitgehend aus­ geblendet, daß sich damals die Spaltung Deutschlands vollzog, bei der jeder dem anderen die Schuld zu­ weisen wollte und die KPD zugleich, wie übrigens auch die SED, immer mit dem Stigma der \"vaterlands­ losen Gesellen\" zu kämpfen hatte (im übrigen stimme ich ihr zu, daß die Mobilisierung nationalistischer Emotionen wenig erfolgreich war (60), gleiches galt nebenbei auch für die SPD).Es gab eben tatsächlich zwei einander feindlich gegenüberstehende Lager, deren Trennungslinie mitten durch Deutschland ging, nicht nur eine Zwei-Lager-Theorie von Schdanow (106). Die Autorin hebt mehr­ fach mit Recht hervor, daß die Gegnerschaft zur \"Parteispitze an der Sorge zerbrach, die unverwechselba­ ren Konturen des sozialistischen Projektes könnten im Zuge \'zu weit\' gehender Reformen verloren gehen und damit die Existenz der DDR zur Disposition stellen\" (139). Die Geschichte der DDR und auch ihr Zu­ sammenbruch sind ohne den ständig von der BRD ausgehenden ökonomischen Sog, ohne ihren Medien­ einfluß und ohne den abschließenden direkten politischen Eingriff nicht zu erfassen.Das eine dieser Lager hat gesiegt. Der Sozialismus ist - jedenfalls in Europa - gescheitert. Es hat eine Reihe von Reformansätzen gegeben, der erste war der Neue Kurs des Jahres 1953 (er war Ausdruck inne­ rer Reformfähigkeit und nicht Antwort auf den 17. Juni, wie dies die Einordnung (116) beim oberflächli­ chen Lesen vermuten läßt). Am radikalsten war die Konzeption des Neuen Ökonomischen Systems, die sehr eindringlich geschildert wird (183). Hierbei vollzog sich auch ein Umbruch in der Rechtswissen­ schafü. Insofern hat die Babelsberger Konferenz von 1958, die ich nicht anders einschätze als die Autorin, dem juristischen Eigensinn wohl doch nicht endgültig ein Ende gemacht (173). Was das Ende dieser Re­ form betrifft, so sehe ich wie sie die Ursache vor allem in der fehlenden Bereitschaft, das Risiko wirklicher Demokratisierung einzugehen. Ob eine Gesellschaft weitgehender sozialer Gleichheit auch mit wirklicher Demokratie konkurrenzfähig gegenüber dem Kapitalismus gewesen wäre oder in Zukunft sein wird, ver­ mag ich nicht zu beantworten. Mehr Wohlwollen hätte sie von ihm auch nicht zu erwarten.Uwe Jens Heuer EinzelrezensionenJHK 1993 495Mythos Antifaschismus. Ein Traditionskabinett wird kommentiert. Hrsg. vom Kulturamt Prenzlauer Berg und dem Aktiven Museum Faschismus und Widerstand in Berlin e. V. Christoph Links Verlag, Berlin 1992, 155 S.Drei Erklärungen bietet das Fremdwörterbuch für den Begriff \"Mythos\", die sich in der Auseinanderset­ zung sechs junger, überwiegend ostdeutscher Wissenschaftler mit dem \"Mythos Antifaschismus\" der ehe­ maligen DDR wiederfinden. Die Gruppe hatte sich zu Beginn des Jahres 1991 zusammengefunden, um ei­ nes der letzten noch existierenden \"antifaschistischen Traditionskabinette\" in Ostberlin zu kommentieren. Diese waren als ein Teil der SED-Geschichtspropaganda in den siebziger und achtziger Jahren eingerichtet worden und sollten mit regionalem Bezug den Widerstand gegen das NS-Regime dokumentieren. 496 JHK 1993Einzelrezensionen\"Überlieferte Dichtung, Sage, Erzählung oder ähnliches aus der Vorzeit eines Volkes\", so lautet die er­ ste Definition im Fremdwörterbuch. Die Traditionskabinette waren ein Bestandteil des ritualisierten Ver­ suchs der vergreisten SED-Führung, die Erinnerung an die Zeit des Widerstandes wachzuhalten, an dem viele aus ihren Reihen selbst teilgenommen hatten. Über vierzig Jahre hinweg war dies gleichbedeutend mit der \"Instrumentalisierung der Tradition des Widerstandes für die Rechtfertigung der Macht der Partei­ führung\" (151 f.). Dabei wurde der kommunistische Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der DDR-Propaganda zu einer \"Begebenheit, die glorifiziert wird, legendären Charakter hat\", es wurde bewußt eine \"falsche Vorstellung\", ein \"Ammenmärchen\" genährt, wie die zweite und dritte Definition des Begrif­ fes Mythos im Duden lautet. Stellvertretend für alle Autoren des Bandes konstatiert Regina Scheer in be­ zug auf die Ausstellung: \"Alle Kommentare und die Anordnung der Dokumente schienen vorgefertigten ideologischen Zielen zu dienen, nämlich darzustellen, daß die Kommunisten die Hauptlast beim Wider­ stand trugen und BIS ZUM TODE [so der Titel eines Ausstellungsraumes, U.M.] ihrer Idee treu blieben und daß außerdem die Nazis sich am eigenen Volk vergriffen haben, das auf eine nicht näher bestimmte Weise auf der Seite der kommunistischen Widerstandskämpfer stand\" (110). In der ehemaligen DDR war der Besuch einer solchen Ausstellung eine staatsbürgerliche Pflichtübung, der man sich kaum entziehen konnte und vermutlich auch nicht wollte, war doch häufig ein zusätzlicher arbeits- oder schulfreier Tag damit verbunden. \"Unter der jüngeren Generation\", so Gisela Wenzel, \"verlor dieser staatlich verordnete Antifaschismus\" in seiner durchschaubaren Schablonenhaftigkeit an Glaubwürdigkeit und Integrationskraft (131). Indem die Autoren die einzelnen Ausstellungsräume des Kabinetts und die dortigen Exponate akri­ bisch beschreiben und kommentieren, setzen sie sich in einer außergewöhnlich anschaulichen und sensi­ blen Art und Weise mit dem Thema \"Antifaschismus\" und seiner Aufarbeitung durch die DDR-Historio­ graphie auseinander. Der reich bebilderte Band ist ein Stück Vergangenheitsbewältigung im besten Sinne.Ulrich Mählert 496 JHK 1993EinzelrezensionenKönig, Klaus (Hrsg.): Verwaltungsstrukturen der DDR. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1991, 419S.König, Verwaltungswissenschaftler aus Speyer, unterzieht eingangs das \"Verwaltungssystem der DDR\" einer grundsätzlichen Kritik, deren Maßstab, Erkenntnisse diverser sozialismus- und bürokratiekritischer Literatur eingeschlossen, das \"klassisch-europäische Verwaltungssystem\" und der von Max Weber skiz­ zierte Typ des Beamten der öffentlichen Verwaltung ist.\"Illiberalität, missionarisches Weltbild, Etatismus und Totalitätsanspruch\" (16) als Kennzeichen der Staatsaufgaben und weitere Grundzüge politischer Definitionsmacht unterscheiden die Verwaltung im realen Sozialismus von den Aufgaben einer klassisch-europäischen Verwaltung, zwischen denen auch eine \"allgemeine systemische Grenze\" bestand. Der \"Personalismus der Staatsfunktionäre\" überlagerte die for­ malen Strukturen der Verwaltung und schuf \"Züge diffuser Unzuverlässigkeit\" (17). König analysiert unter Heranziehung westlicher Literatur den sozialistischen Kader, vergleicht ihn mit dem von ihm nicht unkriti­ sch betrachteten Beamten der öffentlichen Verwaltung und arbeitet die Unterschiede zwischen \"Nomen­ klatura und Kader-Stand\" heraus; einer ist die eine geringere politische Bedeutung des letzteren. Sein Fa­ zit, daß man \"nicht Werkzeug der Herrschaft sein kann, ohne zugleich an ihr auch teilzuhaben\" (25), ist kein Plädoyer für eine undifferenzierte Zuschreibung von Verantwortlichkeiten.Seine Analysen des Organisationsprinzips des demokratischen Zentralismus, besonders des Grundsat­ zes der doppelten Unterstellung, des bürokratischen Zentralismus und die Problematisierung des Verhält­ nisses von Partei- und Staatsapparat hinsichtlich der in beiden Bürokratien vorhandenen Fachkompeten­ zen, sind verwaltungssoziologisch überzeugend und decken den politischen Gesamtzusammenhang des EinzelrezensionenJHK 1993 497realsozialistischen Verwaltungssystems auf. Seine Warnung davor, die Rolle des Konzepts des \"bürokratiischen Sozialismus\" als Beitrag zur Deutung des realen Sozialismus, aber auch zur Legendenbildung über ihn zu unterschätzen, versteht man nach der Lektüre mancher der folgenden Beiträge.Königs resümierende Betrachtungen über Verwaltungsorganisation- und Verwaltungshandeln veranlassen ihn zu der Bemerkung: \"Man wird am Ende der DDR mit guten Gründen von stalinistischem Voluntarismus sprechen und auf die \'alten Männer im Politbüro\' weisen können\" (40). Die Exzessivität der Machtordnung der DDR war allerdings nicht (mehr) von jener Qualität, die als \"stalinistisch\" gekennzeichnet werden kann, wohl aber die doppelte Struktur der Herrschaftsordnung und Willensbildungsprozesse, wozu die Staatsverwaltung unter politischer Verantwortung der Nomenklatura durchaus beitrug. Der Beitrag enthält viele Literaturhinweise, ist primär verwaltungswissenschaftlich orientiert und blendet das Verhältnis von Volksvertretungen und Verwaltung ebenso wie die Interventionsstrategien der verschiedenen Interessengruppen oder die \"Sonderverwaltung Staatssicherheit\" aus.Ihm folgen fünfzehn Beiträge von Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaftlern der ehemaligen DDR sowie ein insgesamt gut recherchierter Literaturbericht von Christoph Hauschild (Speyer) über die \"Verwaltung der DDR in der bundesdeutschen Literatur\", in dem ältere, aber für die Entstehung und Entwicklung wichtige Literatur wie Ernst Richerts \"Macht ohne Mandat\" (1963) oder auch Gustav Leissners \"Die Verwaltung in der Sowjetischen Besatzungszone\" (1962), fehlen. Am Schluß werden einige bislang unbekannte Dokumente abgedruckt, darunter die Nomenklaturordnung auf der Bezirksebene.Hätte Gerhard Schulze, letzter Prorektor der Babelsberger Kaderschmiede für Staats- und Rechtswissenschaftler, den Beitrag von König vorher gekannt, dann hätte er wegen der Schärfe der Analyse und Kritik des realsozialistischen Verwaltungssystems vielleicht auf umfangreiche, aber nicht wesentliche Teile seiner sechs Beiträge verzichtet. Schulze beschreibt die \"Entwicklung der Verwaltungsstruktur der DDR\" und zeichnet für die \"Aufgabenfelder der Verwaltung\", \"Der Ministerrat, die Ministerien und andere zentrale Staatsorgane\", \"Leiter und Leitungsbeziehungen in der staatlichen Verwaltung\", \"Verwaltungspersonal und Verwaltungsausbildung\" sowie \"Rechtsakte und Normierung\" verantwortlich. Die Beiträge sind dort interessant, wo sie Zahlen und Zusammenhänge präsentieren, die bislang unbekannt waren. Beides ist jedoch leider nicht oft genug der Fall.Die Schaubilder und Statistiken, das Aufschlüsseln von Institutionen und Aufgabengebieten, die Beschreibung der Arbeitsweise des Ministerrats oder der sehr differenzierten institutionellen Aspekte der Leitungsstrukturen sind wie die Angaben über die Zusammensetzung und die Qualifikationen sowie die Bezahlung des Verwaltungspersonals oder die Ausführungen über die Nomenklaturordnungen und die Auflistung der Ausbildungsstätten interessant und wichtig für die Aufdeckung der Verhältnisse im Staatsapparat der ehemaligen DDR. Teilweise ist es neu, doch in seiner analytischen Qualität bleibt es weit hinter den durch das Eingangskapitel geweckten Erwartungen zurück. Jedenfalls befriedigt es nicht, wenn man wie im Abschnitt über das Verwaltungspersonal lesen kann: \"Die Praxis zeigte jedoch, daß damit [mit Kaderprogrammen, G.N.] nur sehr bedingt den tatsächlichen Erfordernissen Rechnung getragen werden konnte\" (161).Warum und wenn das so war, dann waren die Kaderprogramme doch keine \"wichtigen Leitungsinstrumente, mit deren Hilfe die zuständigen Leiter ihre persönliche Verantwortung für die Kaderarbeit wahrnahmen\" (ebenda)? Oder wann war die staatliche Verwaltung so demokratisch, daß es berechtigt ist darüber zu klagen, daß die Politik der SED zur \"Entfremdung der Bürger von der Teilnahme an der staatlichen Leitung\" (59) führte. Und war Stalinismus nur dadurch gekennzeichnet, daß die SED die politische Macht ausübte? Allerdings findet man im Beitrag über \"Rechtsakte und Normierung\" einige Ausführungen über praktische \"Probleme der Rechtsverwirklichung in der staatlichen Verwaltung\", die auch einen Bezug zu der im Eingangsbeitrag von König problematisierten Frage der sozialistischen Gesetzlichkeit herstellen. 498 JHK 1993EinzelrezensionenInsgesamt stehen die in den Beiträgen von Schulze vorfindbaren kritischen Bemerkungen in einem unklarem Verhältnis zu den jeweiligen Ausführungen; sie entwerten sie gelegentlich, erwecken aber insgesamt eher den Eindruck eines \"Pflichtprogramms\", denn was er jetzt beklagt, hat er in den mehr als dreißig Jahren in Babelsberg selbst mitverantwortet.In seinem Beitrag über \"Aufgaben und Struktur der örtlichen Verwaltung\" vermittelt Heinz Bartsch die internen Strukturen der regionalen und lokalen Ebenen und die dortige Arbeitsweise und ihre Probleme. Seine Beschreibung der Zusammenarbeit zwischen Betrieben und Gemeinden erklärt deren wichtige Rolle in der lokalen Politik zur Realisierung dortiger Interessen, oft auch, was Bartsch nicht erwähnt, neben dem geltenden Recht und mit dem Resultat einer Dominanz des Betriebes bei der Bestimmung und Realisierung kommunalpolitischer Ziele.Die Beiträge von Peter Hoß (\"Staatliche Pläne und Planung\" und \"Der Staatshaushalt der DDR\") illustrieren Organisation, Inhalt und Verlauf der Volkswirtschaftsplanung und erlauben einen guten Einblick in die komplizierten Bilanz- und Finanzstrukturen sowie den Staatshaushalt. Haß beläßt es nicht bei der detaillierten Beschreibung und einer Kritik der Verhältnisse, sondern erwähnt auch Reformansätze und deren systemimmanente Schwächen.Ebenfalls kritisch geht Heidrun Pohl mit der \"Entwicklung des Verwaltungsrechts\" und dem \"Verwaltungsrechtsschutz\" um. Sie schildert das Schicksal des Verwaltungsrechts in der DDR und erwähnt dessen für die Sowjetunion und Polen irritierende Verbannung durch die SED 1958, der seitens der DDR-Wissenschaftler damals nicht widersprochen und in der Folge nur sehr selten zuwidergehandelt worden ist, bis Mitte der siebziger Jahre der Versuch einer Wiederbelebung gemacht wurde. Zwei Lehrbücher (1979 und 1988) wurden publiziert, die aber weder \"eine kritische Auseinandersetzung mit den Positionen der Babelsberger Konferenz\" (1958) führten, um daraus \"einen Neuansatz zu finden, der mit der Trennung von überholten Thesen Fortschritt in der Theorie und Gewinn für die Praxis hätte bringen können\", noch \"die kontroversen Positionen des wissenschaftlichen Meinungsstreits\" (239) oder den Umfang des Dissenz zwischen den Staats- und Rechtswissenschaftlern aufzeigten. Ihre Darstellungen und ihre Kritik der Funktionen und Spezifika des Verwaltungsrechts und der Mitwirkungsformen der Bürger an der Verwaltung zeigen eine der Systembruchstellen des realen Sozialismus auf, nämlich die Ignoranz gegenüber individuellen und Gruppeninteressen der Bürger, die nicht die Unterstützung der Partei hatten. Die Passage über die \"Wahleingaben\", die vor den Wahlen abgegeben wurden und den Apparat zu einer beflissenen Erledigung veranlaßten, um das Fernbleiben der Petenten von der Wahl als Protesthaltung zu verhindern, zeigt ein gewisses \"Gefühl für Öffentlichkeit\" bei der SED.Daß es in der Praxis schwierig war, \"das gesamte rechtliche Instrumentarium beim Erlaß und der Durchsetzung [von Verwaltungsentscheidungen, G.N.] zu überschauen\" (251), vermittelt Jochen Bleys Beitrag zu \"Verwaltungsentscheidungen und Verwaltungsvollzug\". Eine Folge war, daß Widersprüche in den rechtlichen Regelungen \"zuweilen zu Einschränkungen der Rechte der Bürger oder zur Auferlegung von Pflichten [führten], die rechtlich nicht vorgesehen waren\" (253). Bley läßt den Leser erschrecken, indem er ihm fast beiläufig mitteilt, daß jährlich ca. 20 Millionen Einzelentscheidungen hauptsächlich an Bürger, aber auch an Betriebe, Gemeinden und andere juristische Personen, ergingen, aber erst 1988 ein Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen erstmals enumerativ aufzählte, was als Verwaltungsentscheidung galt.Jürgen Stölzel berichtet über die \"Entwicklung der Verwaltungsinformatik\" und relativiert mit seinen Ausführungen eine Vermutung von König, in der DDR habe man versucht, die \"große Maschine\" in Gang zu setzen; spätestens der Versuch der Anwendung der EDV im gesamtstaatlichen Maßstab wäre mangels entsprechender Koordinierung, Ausrüstung und Infrastruktur gescheitert. Seine Informationen über die Grundsätze, Institutionen und Anwendungsgebiete der EDV in der staatlichen Verwaltung erschließen neue Einzelheiten und illustrieren die von Bartsch gemachte Bemerkung, daß für jede statistische Infor- EinzelrezensionenJHK 1993 499mation acht ( 1) Ergänzungsinformationen gefordert wurden, und daß allein für die Informationsarbeit Mit­ arbeiter in der Verwaltung bis zu 80 Prozent ihrer Arbeitszeit aufgewendet hätten.Werner Knüp/er schreibt über \"Internationale Zusammenarbeit\", d.h. über die Aufgabenverwaltung der Außenwirtschaftsbeziehungen und das durch das Außenwirtschaftsmonopol bedingte System von staats­ und wirtschaftsrechtlichen Regelungen, \"das von individuellen, außerhalb der rechtlichen Bewertung ste­ henden Entscheidungsmechanismen (insbesondere des herrschenden Parteiapparats) durchdrungen war\" (297). Er beschreibt diese Mechanismen ebenso wie die beteiligten Institutionen und ihre Kompentenzen, analysiert die spezifischen Verwaltungsinstrumente für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen und läßt den berechtigten Eindruck entstehen, daß nur ein Rechtsnormbegriff, der auch interne Bestimmungen als Rechtsnorm akzeptierte, überhaupt erst eine verwaltungsrechtliche Begründung der Außenwirtschafts­ tätigkeit ermöglichte.In der Wendezeit behaupteten frühere DDR-Wissenschaftler gelegentlich, sie hätten in ihren Schubla­ den Manuskripte, die von einer fundamentalen Kritik der herrschenden Verhältnisse aus Vorschläge für eine umfassende Reform unterbreiten würden. Das bestätigt Carola Schulzes Beitrag über \"Staat und Ver­ waltung in der sozialistischen Reformdiskussion der DDR\" nicht. Sie skizziert fünf Problemfelder, die sie zum Gegenstand einer \"kritisch-theoretischen Bestandsaufnahme\" gemacht hat, und referiert kritische Po­ sitionen von Wissenschaftlerinnen der ehemaligen DDR aus der 1985/86 begonnenen staats- und rechts­ wissenschaftlichen Diskussion über Staat, Recht, Bürger und Verwaltungshandeln. Unter den Forderungen spielten die nach einer neuen Gestaltung der Beziehungen zwischen Bürger, der mit Möglichkeiten zur Wahrnehmung seiner subjektiven Rechte ausgestattet werden sollte, und Staat, dessen Verwaltungstätig­ keit rechtlich qualifiziert und demokratisiert werden müßte, die wesentliche Rolle.Insgesamt wird C. Schulzes Fazit bestätigt, daß trotz der mehr als großen Differenz zwischen Theorie und Praxis \"... die Wissenschaft die Schärfe der inneren Widersprüche der DDR-Wirklichkeit nicht er­ kannt bzw. sublimiert hat\" und daß Reformdiskussion \"... mit dem Ziel geführt worden ist, durch Refor­ men zu einer neuen Qualität sozialistischer Staatlichkeit und des Staat-Bürger-Verhältnisses zu gelangen\" (323).Diese Hoffnung ist mit dem Untergang der DDR verschwunden, nicht aber systemindifferente Forde­ rungen nach einer steten Überprüfung des Verhältnissc:s zwischen Bürger und Staat bzw. nach einer Mo­ dernisierung der Verfassungsordnung des neuen Deutschland, auch wenn die 1991/1992 geführten Dis­ kussionen um Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes in der Verfassungskommission nicht zu viel Optimismus Anlaß geben.Gero Neuf!,ehauer EinzelrezensionenJHK 1993 499Azaryahu, Muoz: Von Wilhelmplatz zu Thälmannplatz. Politische Symbole im öffentlichen Leben der DDR. Bleicher Verlag, Gerlingen 1991 (Schriftenreihe des lnstitutsfiir Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv, Ed. 13), 214 S.Der Leser erwartet einiges, wenn sich ein Israeli mit einem wichtigen Teil der deutschen politischen Kul­ tur, mit den offiziellen Ritualen und Symbolen der untergegangenen DDR beschäftigt, denn was den Deut­ schen in Ost und West häufig als lästige, meist peinlich-alberne Übertreibung, als Ausdruck einer exzessiv überzogenen Selbstdarstellung, als Mißbrauch von Tradition und Erbe oder schlicht als nun auch noch symbolisch gefaßte Geschichtsklitterung erschien, mußte doch auf Ausländer mit einem ungebrochenen Verhältnis zur eigenen Geschichte eigentlich nur noch abstoßend wirken. Azaryahu geht das Thema gründlich an: Nach der Entfaltung eines ausführlichen \"terminologisch-theoretischen Rahmens\" und der Darstellung politischer Symbole im öffentlichen Leben Deutschlands von den Befreiungskriegen bis zum 500 JHK 1993EinzelrezensionenEnde des Zweiten Weltkrieges schildert er zunächst die Übergangsphase bis zur Gründung der DDR 1949, die noch im wesentlichen von der Entfernung der Nazi-Symbole und der Errichtung der ersten Sowjet­ Denkmäler, also von den im Wortsinne \"symbolträchtigen\" Eingriffen der Besatzungsmächte, vor allem der sowjetischen, bestimmt war. Im dritten Teil wendet er sich jener Handhabung politischer Symbole durch die SED zu, die von den Phasen ihrer Politik in der nationalen Frage bestimmt wurde, d.h. von einer Wiedervereinigungspolitik (unter sozialistischen Vorzeichen) bis 1955 (\"ein Staat, eine Nation\") über die von Ulbricht betriebene Konförderationspolitik (\"zwei Staaten, eine Nation\") bis 1970 schließlich zur Ho­ neckers Abgrenzungspolitik (\"zwei Staaten, zwei Nationen\") reichte.Ein weiteres Kapitel beschreibt die \"Entkanonisierung\" bzw. \"Rekanonisierung\" Preußens durch die SED, ob es sich nun um Straßennamen oder Briefmarkenserien handelte. Abschließend - und man nimmt es in dieser komprimierten Darstellung erneut mit einem gequälten Lächeln zur Kenntnis - schildert Azaryahu, was er das \"Staatspantheon\" der DDR nennt. Das war denn auch in seiner willkürlichen Selek­ tion eine eigentümliche Mischung von Säulenheiligen: Dazu gehörten u.a. Thälmann, Marx, Engels, Le­ nin, lange Zeit Stalin, Luxemburg und Liebknecht, Pieck, Grotewohl und Ulbricht, dann natürlich die so­ wjetischen \"Befreier\", die antifaschistischen (kommunistischen) Widerstandskämpfer und dann die \"Humanisten\", also Goethe und Schiller, Lessing und Heine, natürlich die Brüder Mann, auch J.R. Becher und Erich Weinert, sowie natürlich Maxim Gorki, aber auch Tschaikowsky, Puschkin und Romain Roll­ land. Über die Zugehörigkeit zu dieser Ahnengalerie entschieden natürlich allein die \"Fachleute\" der Ideologie-Kommission des Politbüros.So kam es denn, daß der Dichter der Freiheit, Heine, neben ihrem Mörder, dem Todesengel Stalin, plaziert wurde. Was hier an staatssymbolischem Krampf erzeugt wurde und ausschließlich der Legitimati­ on der DDR als erst eigenständigem Staat, dann auch als selbständiger deutscher Nation dienen sollte, läßt sich in seiner Absurdität nur noch von seiner Erfolglosigkeit überholen.Wem demokratische, pluralistische Republiken und ihre säkularen Gesellschaften häufig zu nüchtern erscheinen, weil sie die identitätsstiftende Wirkung nationaler Symbole (Rudolf Smend) unterschätzen, der kann an der ausufernden Praxis von Diktaturen wie der DDR beim Umgang mit diesen Instrumenten na­ tionaler Bewußtseinsbildung lernen, daß fehlende demokratische Legitimation oder Legitimationsarmut auch nicht via Indoktrination durch Rituale oder öffentlich bis zum Überdruß propagierte Symbole wett­ gemacht werden kann.Das Ziel der SED-Führung in den achtziger Jahren, eine DDR-eigene nationale Identität zu stiften, konnte aus vielen Gründen nicht erreicht werden, nicht zuletzt, weil trotz aller unterschiedlicher Entwick­ lung in den vergangenen 40 Jahren in beiden deutschen Staaten wichtige Teile gemeinsamer prägender Identitätsmuster erhalten blieben. In der alten Bundesrepublik mögen sich ergänzend/konkurrierend wei­ tere Identitäten, z.B. in Ansätzen eine europäische, herausgebildet haben, eine alternative nationale Identi­ tät (9) - und hier irrt der Autor - hat sich aber nicht entwickelt und wurde von den Ostdeutschen auch nicht wahrgenommen.Johannes Kuppe 500 JHK 1993EinzelrezensionenBald, Detlef (Hrsg.): Die Nationale Volksarmee. Beiträge zu Selbstverständnis und Geschichte des deut­ schen Militärs von 1945-1990. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1992, 140 S.Die Beiträge stammen von zwei Referenten aus der Bundeswehr und sieben aus der ehemaligen NVA; sie wurden auf einer Tagung des Arbeitskreises Militär und Sozialwissenschaften im März 1992 gehalten. Bald, Leiter des Projektbereichs \"Militär und Gesellschaft\" am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bun­ deswehr, äußert sich einleitend \"Zur Innenansicht des Militärs nach der Einigung. Dialog in Deutschland\". EinzelrezensionenJHK 1993 501Er macht deutlich, daß sich beide deutschen Gesellschaften und ihre Institutionen nicht in einem Dialog angenähert haben; die Vereinigung schuf Klarheit über Gewinner und Verlierer. Er räsoniert, daß sich keine allgemeine gesellschaftsbezogene Besinnung entwickelt hat, \"die sich nicht allein auf die \'Bewältigung\' der östlichen (Fehl)-Leistungen konzentriert, sondern stattdessen die eigenen (Fehl-) Entwicklungen mit in die Reflexionen einbezogen hätte. Geschichte erarbeiten, um das Gefühl für Maßstäbe und Proportionen zu schärfen, ist die Aufgabe, die über den Tag hinausweist\" (9).Der langjährige Leitende Historiker des MGFA, Manfred Messerschmidt, (\"Aus der Geschichte lernen - vom Umgang mit der Erblast des Nationalsozialismus in der Bundeswehr und der NVA\") befaßt sich mit militärgeschichtlichen Aspekten von Faschismus und Militarismus in der Historiographie der früheren DDR und der Bundesrepublik. Während die DDR z.B. den Zusammenhang zwischen der Rolle der KPD und der Entstehung des Nationalsozialismus überproportionierte, wurde dieser in der Bundesrepublik faktisch vernachlässigt. Die militärgeschichtliche Interpretation der gemeinsamen Geschichte des Nationalsozialismus und der Wehrmacht war in der DDR in ein gescl:lossenes Weltbild integriert, während sie in der Bundeswehr weitgehend ausgeblendet blieb. Dadurch wurde nicht nur die Beteiligung des Militärs an Kriegsverbrechen verschleiert, sondern auch die Voraussetzung für die Einbeziehung des ehemaligen Wehrmachtspersonal in den Aufbau der Bundeswehr geschaffen; Messerschmidt dokumentiert das am Beispiel der militärpolitischen Berater Adenauers und deren Umgang mit der Tradition der deutschen Wehrmacht. Sein Fazit ist, daß, begünstigt durch die Zugehörigkeit zu antagonistisch eingestellten Machtsystemen, auf beiden Seiten sowohl \"erhebliche Erkenntnis-Defizienzen\" als auch fortwirkende Überzeugungen vorhanden waren, auf DDR-Seite die eines antinationalistischen und antiimperialistischen Patriotismus, auf BRD-Seite auch ein \"Nachwirken der Goebbels-Propaganda, die Haltung vieler Funktionäre [...] des NS-Systems, ferner das Bemühen, die Vergangenheit zu vergessen auf dem Wege zum \"Europäer\" (25). Auch in der DDR waren Nachwirkungen von Goebbels-Propaganda und nationalsozialistischer Sozialisation durchaus noch virulent, wurden aber nicht öffentlich artikuliert. Seine Hoffnung, daß jetzt die Offenheit für die kritische Bewertung des Nationalsozialismus und für die Befreiung der Tradition von Stereotypen gegeben sei, wird wohl erst bestätigt werden, wenn die Bundeswehrkaserne in Füssen von \"Generaloberst Dietl\"- in \"Kurt Eisner\"-Kaserne umgetauft werden sollte.Reinhard Brühl, bis 1989 Direktor des Potsdamer Militärgeschichtlichen Instituts, plädiert in seinem Beitrag \"Zur Militärpolitik der SED - Zwischen Friedensideal und Kriegsapologie\" für ein vorurteilsfreies und durch überprüfbare Fakten bestimmtes Nachdenken über die Militärpolitik der SED. Man müsse von der These ausgehen, daß die NVA ein Produkt sowjetischer Politik, nicht aber ein Herrschaftsinstrument der SED gewesen sei. Daß sie es auch war, kann angesichts ihrer inneren Aufgabenstellung, wie sie z.B. im Beschluß des SED-Politbüros vom November 1956 dokumentiert wurde (Vgl. Joachim Krüger: Votum für bewaffnete Gewalt. Ein Beschluß des SED-Politbüros vom November 1956, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 4/ 1992, S. 75-85, bes. S. 81 ff), nicht bezweifelt werden.Bühl analysiert die Konsequenzen des Beitritts der DDR zum Warschauer Pakt und der damit gegebenen Dominanz der sowjetischen Militärs in der DDR als Supervisoren und Initiatoren militärpolitischer Entscheidungen. Die dafür wie für die ausführlichen Schilderungen der Tagesordnungen des Nationalen Verteidigungsrats herangezogenen Quellen stammen aus den sechziger Jahren. Die selbstkritischen Äußerungen über die Haltung der Berufssoldaten der ehemaligen DDR gegenüber der Entwicklung in ihrem Land bedeuten nicht, daß er den Vorwurf akzeptiert, \"daß wir vom Frieden gesprochen, aber den Krieg gewollt hätten\" (47). Nach dem, was er über das Primat der sowjetischen Militärpolitik im Warschauer Pakt gesagt hat, kann bezweifelt werden, daß die SED je das Recht und die Möglichkeit zur Kriegserklärung und -führung besessen hat, aber nicht, daß die Mehrzahl der Berufssoldaten der NVA zu einem Krieg gegangen wäre. 502 JHK 1993EinzelrezensionenDas illustrieren auch die Beiträge von Wolfgang Markus, zuletzt \"Oberst, und in der Bundeswehr Kommandeur der Militärpolitischen Hochschule Grünau\", über \"Das Offizierkorps der NVA - Ein soziales Porträt-\" sowie von Kurt Held: \"Soldat des Volkes? Über das politische Selbstverständnis der Soldaten der NVA\".Markus leitet seinen Beitrag mit einem Exkurs über die Bedingungen ein, die das Selbstverständnis der NVA-Offiziere bestimmt hätten. Die Behauptung, daß die meisten der Offiziere die Uniform angezogen hätten, um zu verhindern, daß von Deutschland wieder Faschismus und Krieg ausgehen, wirkt ebenso verklärend wie die, daß im Herbst 1989 es vor allem die Kommandeure und Berufssoldaten waren, die dafür gesorgt hätten, \"daß keine Panzer rollten und kein Blut floß\" (52); hätten sie es nicht getan, wären sie keine \"Armee des Volkes\" gewesen.Interessant in seinem Beitrag sind die soziologischen Daten zur Sozial-, Alters- und Bildungsstruktur sowie zur politischen Haltung und Motivation des NVA-Offizierskorps sowie Aussagen über Persönlichkeitseigenschaften. Immer weniger Offiziere waren ihrer sozialen Herkunft nach Arbeiter (aber Arbeiter waren auch die Parteifunktionäre als \"Beauftragte der Arbeiterklasse\"), und bis Anfang 1989 bekannten sich 90 Prozent und mehr der zu 98 Prozent der SED angehörenden Offiziere (Soldaten waren zu über 90 Prozent parteilos) zur SED, der DDR, dem Bündnis sowie zur Verteidigung des Sozialismus; das bestimmte auch bei 77 Prozent die Berufswahl. Weitere Angaben erlauben einen guten Einblick in das Selbstverständnis der ehemaligen Offiziere und die Gründe der Unzufriedenheit mit dem Beruf; es waren sehr unterschiedliche, aber in keinem Fall explizit politische; ein \"Eggesiner Signal\" aus der NVA wäre als Echo des \"Darmstädter\" nicht zu vernehmen gewesen.Held, langjähriger Mitarbeiter in der Politischen Hauptverwaltung, d.h. der Parteileitung der SED in der NVA, war zuletzt Leiter der Unterabteilung Grundsatzfragen in der Abteilung Personelle und regionale Konversion im Eppelmann-Ministerium. Er versucht darzustellen, unter welchen politischen Bedingungen sich das Militär in der DDR entwickelt hat, wie sich die Berufssoldaten zur NVA, zur SED und zum Staat verhalten haben und welches politisches Resultat das zeitigte:\" Die meisten hielten die Politik der SED über lange Zeit für richtig - wenn auch mit Einschränkungen auf einzelnen Gebieten\" (69). Seine Darstellung ist untermauert durch soziologische Daten und begleitet von ernst gemeinten selbstkritischen Äußerungen; sie sind auch ein Appell an die \"Sieger\", über ihre eigene politische Sozialisation und deren Resultate nachzudenken.Kritisch und differenziert wertet Florian Wamke in seinem Beitrag \"Die NVA der DDR - Eine Betrachtung im Lichte völkerrechtlicher Überlegung\" die militärstrategische Konzeption der NVA als Armee des Warschauer Pakts, stellt die Mitverantwortung der DDR an der Besetzung der CSSR 1968 fest, unabhängig davon, ob NVA-Soldaten beteiligt waren oder nicht, verweist auf die völkerrechtliche Bedeutung der Änderung der Militärstrategie des Warschauer Pakts 1987, als diese der Doktrin der Kriegsverhinderung unterworfen wurde und widmet sich verstärkt dem Beitrag der NVA zum \"Humanitären Völkerrecht\" im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Zusatzprotokolle zu den Genfer Rot-Kreuz-Abkommen. Sein Resümee, daß den \"Fragen der Menschenrechte und den hierzu durch die ehemalige DDR eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen nur unzureichende Aufmerksamkeit zuteil (wurde)\" (85) ist angesichts der Rolle von Angehörigen der lange zur NVA gehörenden Grenztruppen bei der gewaltsamen Verhinderung von Grenzübertritten sehr moderat.Martin Kutz macht unzufriedene und frustrierte Offiziere sowie die Diskussionen über Friedens- und Sicherheitspolitik seit 1987 als Potentiale für die von ihm vermutete \"Demokratisierung der NVA? Die verspätete Reform 1989/1990\" aus. Die verstärkte Wahrnehmung der Diskrepanzen zwischen Worten und Taten der SED-Führung speiste auch den Widerstand gegen eine neue Militärdoktrin der DDR, mit der die SED den Wandel der sowjetischen Militärstrategie negieren wollte. Er verdeutlicht das am Beispiel des \"Neuen Denkens\" und der Reform der Doktrinen in der Sicherheitspolitik zwischen 1987 und 1989 sowie Einzelrezensionen.!HK 1993 503der auf die Wende folgenden \"Etablierung einer Reformbürokratie\" und der Gründung der dann bedeu­ tungslos gebliebenen \"Regierungskommission Militärreform\" im Januar 1990. Die Reformen, die Zivil­ dienstregelungen werden leider völlig ausgeklammert, werden von ihm sowohl unter dem Aspekt der poli­ tischen und innerdienstlichen Realisierung als auch bezogen auf die Widersprüchlichkeiten in der Politik des letzten DDR-Verteidigungs- und Abrüstungsministers Eppelmann kritisch betrachtet; dieser hatte kein Interesse daran, Impulse für eine Militärreform nach der Vereinigung zu geben.Das bestätigt Ex-DDR-Verteidigungsminister Theodor Hoffmann, nach der März-Wahl 1990 letzter militärischer Chef der DDR, der von seinem eigenen Minister wie auch von der militärischen Spitze der Bundeswehr brüskiert wurde. Er sagt einiges \"Zur nicht-vollendeten Militärreform der DDR\" und bezeich­ net als wichtigste Leistung den Eintritt der NVA in die deutsche Einheit \"ohne ein Sicherheitsrisiko zu sein\" (114).Bald, \"Militär im Nachkriegsdeutschland. Bundeswehr und Nationale Volksarmee\" und Joachim Gold­ bach (ehemals Chef für Technik und Bewaffnung der NVA), \"Die Nationale Volksarmee. Eine deutsche Armee im Kalten Krieg\" stellen die vorangegangen Beiträge in einen zeitgeschichtlichen und politischen Zusammenhang. Bald untermauert seine These, daß die Geschichte von Bundeswehr und NVA durch strukturelle und formale Gemeinsamkeiten verknüpft sei, mit zehn Zusammenfassungen zur Geschichte des Militärs und seinen politischen Bestimmungsfaktoren in Nachkriegsdeutschland. \"Siegermentalität\", und nicht die fehlende Bereitschaft zur Integration eines \"antidemokratischen Potentials\" hätte zur Auflö­ sung der NVA statt zu ihrer Integration in die Bundeswehr geführt. Das veranlaßt Goldbach zu der Be­ merkung: \"In der Ausgrenzung leben die alten Feindbilder fort, bei den Ausgrenzern wie bei den Ausge­ grenzten\" (134). Er warnt vor den Folgen einer einseitigen Betrachtung der von ihm kritisch distanziert und zugleich solidarisch vorzüglich referierten politischen Geschichte der NVA. Wenn Bald für die Bun­ deswehr feststellt, daß sich diese künftig nicht mehr aus ihrem Gegensatz zur NVA ableiten kann, auch \"weil beide teilhaben an der deutschen Militärgeschichte\" (123), dann ist damit, das Fazit Goldbachs über die NVA als Produkt und Instrument sowjetischer Politik und als Stütze und Mittel der Politik des SED­ Regimes bis zu dessen Ende hinzugenommen, das erkenntnisleitende Interesse für die Militärgeschichte Nachkriegsdeutschlands formuliert.Gera Neugebauer EinzelrezensionenJHK 1993 503Richter, Holger: Güllenbuch. Ein Buch über Bausoldaten. Forum Verlag, Berlin 1991, 115 S.Das Thema \"Bausoldaten\" in der DDR hat bisher in der wissenschaftlichen Forschung eine - wenn auch noch nicht sehr breite - Beachtung gefunden. Zu nennen sind hier vor allem die Monographien bzw. Auf­ sätze von Bernd Eisenfeld, Jan Gildemeister, Theo Mechtenberg, Klemens Richter u.a. So verdienstvoll diese Arbeiten auch sind, sie vermitteln nicht (und beabsichtigen dies wohl auch nicht) ein Stück weit den Alltag von Bausoldaten in der DDR. Dies aber versucht Holger Richter mit seinem authentischen Bericht; er gehört zum letzten \"Durchgang Bausoldaten\" (ab November 1988) vor dem staatlichen Ende der DDR.Die Institution des Bausoldatendienstes geht zurück auf eine \"Anordnung des Nationalen Verteidi­ gungsrates\" vom 7. September 1964. Ihr wesentlicher Inhalt: Wehrpflichtige, \"die aus religiösen Anschau­ ungen oder aus ähnlichen Gründen den Wehrdienst mit der Waffe ablehnen\", werden \"zum Dienst in den Baueinheiten\" herangezogen.Holger Richter schildert sehr einprägsam und eindringlich den Ausbildungsweg, den Alltag einer Gruppe von Bausoldaten, die als Christen - zwei von ihnen mit der Studienabsicht Theologie - für sich die Entscheidung eines waffenlosen Wehrersatzdienstes getroffen haben. Wie die \"normalen\" NVA-Rekruten, so unterliegen auch die Bausoldaten in ihrem Alltag denselben Normen und Erwartungshaltungen, wie 504 JHK 1993Einzelrezensionenstrikter Gehorsam gegenüber ihren Vorgesetzten, Disziplin, Ordentlichkeit, Sauberkeit etc., erfahren sie Lob und Anerkennung für vollbrachte Leistungen, aber auch Leid, Schikane, Willkür für kritisches, von vorgegebenen Normen abweichendes Verhalten. Und dennoch: Zwei Unterschiede im Status und im Ausbildungsprofil \"normaler\" Soldaten und Bausoldaten bleiben bestehen und haben sich auch während der gesamten Geltungsdauer der Baueinheiten-Anordnung bis zum Herbst 1989 durchgehalten: Bausolda­ ten legen zum Beginn ihrer Ausbildungszeit ein Gelöbnis ab (Rekruten einen Fahneneid), ihre Ausbildung erfolgt nicht an der Waffe.Geändert (im Sinne einer Verbesserung der Gesamtsituation) aber haben sich die Arbeitsbedingungen sowie teilweise auch die rechtlichen Kompetenzen der Bausoldaten. Anders noch als in den sechziger Jah­ ren arbeiten die \"Angehörigen der Baueinheiten\" am Ausgang der achtziger Jahre (und auch schon in der Zeit zuvor) nicht mehr primär an als militärisch wichtig eingeschätzten Objekten (zum Beispiel \"Ausbau von Verteidigungs- und sonstigen militärischen Anlagen\", wie im§ 2 der Anordnung ausdrücklich vorge­ sehen), sondern vornehmlich in zivilen Sektoren der Volkswirtschaft. Zum anderen erfahren spezifische Grundrechte, wie die der Glaubens- und Religionsfreiheit, eine stärkere Beachtung in der Alltagswirklich­ keit (Erlaubnis zum Bibellesen, zum sonntäglichen Gottesdienstbesuch).Der Bericht Richters ist auch in diesem Sinne ein authentisches Zeugnis, als er in den Dialogen zwi­ schen Bausoldaten und ihren militärischen Vorgesetzten etwas von dem kritischen Bewußtsein, von den Zweifeln der jungen Männer an dem Sinn von Ausbildungsformen und -inhalten unter den Bedingungen eines mit atomaren und biologischen Waffen geführten Krieges berichtet. Der Sprache (mit der ihr eigenen Begrifflichkeit - \"Güllensprache\"), der sich die Soldaten, nicht aber die Offiziere bedienen, wird von Rich­ ter in ihrer Funktion als Kommunikations- und Identifikationsmedium thematisiert, aber auch in ihrer Be­ deutung als Mittel zum politisch-gesellschaftlichen Protest sichtbar gemacht: Eine Gruppe von Bausolda­ ten verfaßt im bereits politisch-krisenhaften Frühjahr/Sommer 1989 einen Offenen Brief, in dem sie die Schaffung eines \"Zivilen Ersatzdienstes\" fordert. Sehr deutlich wird dabei in der Darstellung auch, wie der politische Niedergang der DDR im Herbst 1989 zur schrittweisen Auflösung der Autoritätsstrukturen in den Baueinheiten der NVA und schließlich zur faktischen sowie rechtlichen Abschaffung der Institution des Bausoldatendienstes führte.Horst Dähn 504 JHK 1993EinzelrezensionenFurian, Gilbert: Der Richter und sein Lenker. Politische Justiz in der DDR. Berichte und Dokumente, mit Nachbemerkungen von Gottfried Forck. Verlag Das Neue Leben, Berlin 1992, 271 S.Die untergegangene DDR war ein Unrechtsregime, dessen Untaten jetzt auch justitiell \"aufgearbeitet\" werden müssen - so oder ähnlich ist die Meinung der meisten Westdeutschen und wohl auch sehr vieler Ostdeutscher. Hinter diesen Vorstellungen steckt die richtige Erkenntnis, daß im SED-Staat die Justiz keine unabhängige, ebenfalls an das Gesetz gebundene dritte Gewalt, sondern das Recht insgesamt in allen gesellschaftlichen Bereichen Instrument der Machtsicherung der Herrschenden, der Führungsclique der SED, war. Doch erklärt das schon alles? Erklärt das auch die Bedingungen, unter denen die Rechtsetzen­ den, die Rechtsprechenden und die Rechtdurchsetzenden gearbeitet haben, in welchem Umfang sie sich schuldig gemacht haben bzw. schuldig machen mußten? Kann die Grenzlinie zwischen Opfern und Tätern mit aller Trennschärfe gezogen werden?Gab es vielleicht bei den Tätern auch jene \"Verwicklung\" in ein System, das zwar seine Handlanger sy­ stematisch produziert, aber eben auch Gläubige mißbraucht hat? Die Tragik der jüngsten Mauerschützen­ prozesse zeigt, wie schwer ein Urteil jenen fällt, die nicht in einem solchen System gelebt haben, aber jetzt Richter spielen (müssen). Hier bedarf es noch viel Aufklärung - und dieser Aufgabe unterzieht sich Furian Einzelrezensionen.!HK 1993 505auf eine bemerkenswerte und höchst ehrenwerte Weise. Der Autor, der selbst aus der Bürger(rechts)bewe­ gung der DDR, der Initiative für Frieden und Menschenrechte, kommt, der selbst Justizopfer der SED ist, klagt nicht an, urteilt nicht selbst, aber er entschuldigt, verharmlost und verdreht auch nicht, was er offen­ legt, ja überhaupt erst einmal verständlich gemacht werden muß. Seine Methode ist einfach - und gegen­ würtig vielleicht die angemessenste: Er läßt Zeitzeugen, die heute im Rampenlicht der Öffentlichkeit ste­ henden \"Justiz-Täter\" selbst zu Wort kommen. Über ihren Werdegang und ihre damaligen Auffassungen, ihr Politikverständnis und auch ihre politischen Hoffnungen berichten ein Oberrichter am Obersten Gericht und ein Staatsanwalt beim Generalstaatsanwalt, zwei Richterinnen und eine Staatsanwältin an einem Kreisgericht, ein höherer Funktionär im Ministerium für Justiz, zwei Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, ein Rechtsanwalt und eine wissenschaftliche Assistentin für Strafrecht. Ihre aufschlußrei­ chen Bekenntnisse kontrastiert der Autor mit Auszügen aus DDR-Gerichtsakten (für die man sich aller­ dings gelegentlich zitierfähige Quellenangaben wünscht), aus DDR-Gesetzen und aus Dokumentationssen­ dungen von Rundfunkanstalten, so daß das individuell Gesagte auf treffliche Weise manchmal nur illu­ striert, gelegentlich auch verallgemeinernd auf eine das ganze System analysierende Ebene gehoben wird.In einem kurzen Epilog teilt uns der Autor mit, daß zwei ehemals prominente Anwälte, Gregor Gysi und Lothar de Maiziere, eine Mitwirkung abgelehnt haben und daß die Berliner Justizsenatorin Jutta Lim­ bach eine Einladung zu einem Geleitwort nicht einmal beantwortet hat.Wer bereit ist, sich auf ein Kennenlernen der von der alten Bundesrepublik so verschiedenen lebens­ weltlichen Realität von 40 Jahren DDR-Geschichte einzulassen, sollte sich die Lektüre dieses schmalen Bandes nicht entgehen lasssen. Er erfährt - wie es Gottfried Forck in seinen Nachbemerkungen formuliert - \"eine Hilfe, die Vergangenheit in der DDR besser zu verstehen\".Johannes Kuppe EinzelrezensionenIHK 1993 505Rehlinger, Ludwig A.: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963-1989. Ullstein Verlag, Berlin, Frankfurt/M. 1991, 251 S.Das Buch handelt von einem in der aktuellen Publizistik spektakulären Thema: dem Freikauf von in der DDR verurteilten Häftlingen durch die BRD. Ludwig Rehlinger, seines Zeichens u.a. früherer Staatssekre­ tär im innerdeutschen Ministerium der BRD, schildert dieses Kapitel der deutsch-deutschen Nachkriegsge­ schichte bewußt aus der subjektiven Sicht eines an den Verhandlungen zentral Beteiligten. Rehlinger führ­ te bereits 1963, als aus der DDR erstmals eine solche Offerte kam, die Gespräche mit dem Vertreter des anderen deutschen Staates. Das Ergebnis war, daß die ersten acht Häftlinge für entsprechende Gegenlei­ stungen aus der DDR in die BRD entlassen wurden.Bis 1989 wurde auf diesem Wege die Freilassung von 33.755 politischen Häftlingen erreicht und konn­ ten 250.000 Familienzusammenführungen geregelt werden. Die von der BRD in diesem Zeitraum erbrach­ ten Gegendienste, die zumeist über materielle Güter abgegolten wurden, beliefen sich auf einen Wert von über 3,5 Milliarden D-Mark. Doch hinter diesen Zahlen verbergen sich oft ergreifende menschliche Schicksale, die Rehlinger teilweise deutlich werden läßt. Insbesondere erhellt er die Hintergründe der Ver­ handlungen auf bundesdeutscher Seite. Zwar hält der Autor diese Art von \"Geschäften\" generell für mora­ lisch zweifelhaft und für ein Symptom der Amoralität des DDR-Regimes, aber im Interesse der Betroffe­ nen erscheinen sie ihm notwendig.Sicherlich läßt sich ein solches Urteil vor dem Hintergrund eines weltweit praktizierten Agentenaustau­ sches, einer sich über den Markt realisierenden Gesellschaft und der in früheren Gemeinwesen üblichen Ausgleichszahlungen für kriminelle Handlungen relativieren. Uneingeschränkt inhuman und kritikwürdig ist es hingegen, wenn die DDR bestimmte Seiten ihrer Strafpolitik den ökonomischen Anreizen dieses 506 JHK 1993Einzelrezensionen\"Handels\" untergeordnet hat. Letzten Aufschluß darüber erlangt man jedoch erst, wie Rehlinger konsta­ tiert, wenn die Akten beider Verhandlungspartner erschlossen sind.Noch einmal scheint in diesem Buch die Unfähigkeit der Führung der DDR auf, die politischen Kon­ flikte und Widersprüche innerhalb des Landes auch politisch zu lösen. Vielmehr griff die DDR durchgän­ gig auf zum Teil menschenrechtlich problematische Straftatbestände zur (scheinbaren) Konfliktregulierung zurück. Ebenso wird auch aus den Erfahrungen des Autors deutlich, daß es durch die Spitze der SED kei­ nerlei wirkliche Analyse der sozialen Ursachen für Republikflucht und massenhafte Ausreiseanträge gab. Gerade eine solche Analyse hätte nämlich notwendig einschneidende konzeptionelle Veränderungen für die Gesellschaftsgestaltung verlangt.Leider bleibt Rehlinger in seinem Buch eine genaue Aufschlüsselung der politischen Häftlinge nach den verletzten Delikten schuldig. Für ihn haben, abgesehen von einigen Ausnahme, alle Verurteilten (ob wegen sogenannter Kriegsverbrechen oder wegen Republikflucht) einen gewissen Makel des Illegitimen. Andererseits deutet Rehlinger das Eingebundensein beider deutscher Staaten in die weltpolitisch bedeut­ samen Lager und die daraus abgeleiteten Zwänge an. Er zeigt, daß die Verhandlungspositionen der DDR von ihrem Rechtsverständnis aus gesehen meist schlüssig waren und die DDR die getroffenen Absprachen genauestens einhielt.Volkmar Schöneburg 506 JHK 1993EinzelrezensionenKrüger-Potratz, Marianne: Anderssein gab es nicht. Ausländer und Minderheiten in der DDR. Mit Beiträ­ gen von Georg Hansen und Dirk Jasper. Waxmann Verlag, Münster, New York 1991, 279 S.Die organisierten und \"spontanen\" Aktionen rechtsextremer Gewalt im vereinigten Deutschland, die seit Hoyerswerda im Herbst 1991 so deutlich und lebensbedrohlich zunahmen, werden in der Öffentlichkeit immer wieder - etwas scheinheilig - auf ein Problem der fünf neuen Länder als Hypothek der entschwun­ denen DDR reduziert. \"Freundschaft\" - insbesondere die deutsch-sowjetische, \"Völkerverständigung\", \"proletarischer Internationalismus\" und \"Antifaschismus\" seien zwischen 1945 und 1989 \"von oben\" ver­ ordnet gewesen und entweder als leere Worthülsen ohne Erfahrungsgehalt für die Mehrheitsbevölkerung oder aber geradezu als propagandistische Umkehrung für deren Haltungen verstanden worden. Unter ei­ nem politischen Firnis vom real existierenden Sozialismus in der Gemeinschaft der Volksdemokratien ha­ be sich ein handfester konventioneller deutscher Nationalismus erhalten, der sich vor allem in einer relativ offen geäußerten Polenfeindschaft Luft machte. Das Staatsvolk der DDR habe sich an den Umgang mit Ausländern im Alltag nicht gewöhnen können, weil schlicht kaum welche in der DDR lebten.Was ist dran an diesen historischen Argumenten? Bisher sind die zeitgeschichtlichen Kenntnisse über das Verhältnis zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Ausländern beziehungsweise Minderheiten wie z.B. den Sorben in der DDR, über die Bedingungen der \"Gastarbeit\" im RGW-Bereich, über das Verhält­ nis von DDR-Deutschen zu ihren polnischen Nachbarn und über Theorie und Praxis einer antirassistischen Erziehung noch nicht allzu fundiert.Die vorliegende Untersuchung einer Autorin und zweier Autoren - alle drei aus Westdeutschland -ver­ sucht, auf der Grundlage von Recherchen, die seit 1987 in der DDR durchgeführt worden sind, diese Fra­ gen zu beantworten und die Fülle an kleineren politischen Beiträgen im Bereich der \"grauen\" Zeitschrif­ tenliteratur, die vorwiegend nach 1989 entstanden sind, zusammenzufassen. Auslöser für das vorliegende Buch waren die Meldungen über ein erstarkendes Selbstbewußtsein der jugendlichen rechtsextremen Szene in der DDR in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre und über die als \"exemplarisch\" geführten Strafprozesse gegen solche jungen Leute. EinzelrezensionenJHK 1993 507Die Beiträge werden ergänzt durch einen Dokumententeil mit ausgewählten Materialien zur gesetzlichen Regelung des Aufenthalts von Ausländern, zur Ausländerbeschäftigung im Spiegel der DDR-Presse, zur kirchlichen Arbeit mit Ausländern und schließlich zu Initiativen der Bürgerbewegung zum Thema Menschenrechte und Gleichberechtigung von Ausländern in der DDR.Marianne Krüger-Potratz skizziert in ihrem Beitrag die bescheidenen Anfänge einer Migrationsforschung in der DDR, die die eigene Republik erst spät ins Zentrum des Forschungsinteresses stellte, während sich eine ideologisch aufgeladene historische Migrationsforschung über die \"Kontinuität imperialistischer Fremdarbeiterpolitik\" vom Deutschen Kaiserreich bis zur Bundesrepublik seit den fünfziger Jahren an der Universität Rostock etablieren konnte. Dahinter stand auch das offizielle Selbstbild der DDR-Gesellschaft von einer homogenen \"deutschen\" Gesellschaft, in der es abgesehen von rund 60.000 Sorben so gut wie keine Ausländer und Minderheiten gegeben habe, und in der eine überschaubare Zahl von ausländischen Arbeitskräften und Studenten den Deutschen in ihren Arbeits- und Lebensbedingungen gleichgestellt worden seien. Mögliche Konflikte werden darin immer als individuelles Fehlverhalten gedeutet.Im Rückblick wird jedoch deutlich, daß in den achtziger Jahren auch \"ohne Auftrag\" über Minderheiten, Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus Material gesammelt und geforscht worden war - etwa am Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig. Hier wurde zwischen 1978 und 1989 unter Schülern in der DDR eine deutliche Polarisierung positiv und negativ besetzter Stereotypen festgestellt: Danach wurden Jugendliche aus kapitalistischen Ländern kurz vor der Wende deutlich positiver bewertet als zehn Jahre früher, während das Fremdbild von vietnamisischen oder afrikanischen Jugendlichen zunehmend von negativen Vorurteilen besetzt wurde. So ließen vergleichende Befragungen unter Jugendlieben von 15 und 16 Jahren in der alten Bundesrepublik und der DDR nach der Wende in der entschwundenen DDR auf deutlichere Ressentiments gegen Ausländer schließen.Auch der pädagogische Forschungsbereich der antifaschistischen und antirassistischen Erziehung ging zu DDR-Zeiten von der Voraussetzung aus, daß es Ausdrucksformen von Faschismus, Antisemitismus oder Rassismus nur außerhalb des realsozialistischen Staatenblocks gebe. Die pädagogische Umsetzung bestand vereinfacht gesagt nur noch in der Aufgabe, diesen Traditionsbestand, der gleichzeitig auch den Gründungsmythos der DDR darstellte, an die nachfolgenden Generationen in der DDR weiterzugeben, und sie dauerhaft für die Beteiligung an der Durchsetzung dieser Ziele in anderen Ländern zu motivieren.Gerade die Medien leisteten durch die Form der \"Dethematisierung\" aller mit Ausländern und Minderheiten in der DDR bestehenden Fragen einer Ritualisierung unter dem Stern der \"Völkerfreundschaft\" und der Ignorierung tatsächlicher Probleme im Zusammenleben Vorschub, die höchst allgemein meist nur als \"Probleme\" bezeichnet wurden. Selbst Informationen zu den rechtlichen Bedingungen des Aufenthaltes von ausländischen Arbeitern und Studenten blieben vor der Wende unter Verschluß. Allein die in der DDR erscheinenden Kirchenzeitungen schrieben \"vom latenten, aber spürbaren Rassismus\" und von der \"Isolation durch deutsch-distanziertes Fernhalten\", die \"ausländische Christen\" aus Indien und Afrika in der DDR erlebten.Mit der Wende seit Herbst 1989 setzten sich die Aggressionen und Gewalttätigkeiten gegen Ausländer und Minderheiten in der DDR der achtziger Jahre fort und verschärften sich. Die Linien der Ausgrenzung verschoben sich. Während nach 1989 praktizierende Christen problemlos in die \"Mehrheitsgesellschaft\" integriert wurden, verstärkte sich der diskriminierende Druck auf Zeugen Jehovas, Sinti, Afrodeutsche, Juden, auf die Sorben, die bis dahin als ethnisch-folkloristische Minderheit behandelt worden waren, und auf neue Gruppen von Ausländern - auf Flüchtlinge und Exilanten - und auf die \"sowjetischen Freunde\", also die ehemalige Besatzungsmacht.Dirk Jasper beschreibt in seinem Beitrag die \"zwischenstaatliche Migration von Arbeitskräften der RGW-Ländcr\" in die DDR. Ein wichtiger Unterschied zur oftmals individuellen Arbeitsmigration in Westeuropa bestand in der gruppenweisen, vertraglich auf maximal vier bis fünf Jahre befristeten Anwer- 508 JHK 1993Einzelrezensionenbung auf Grund von zwischenstaatlichen Abkommen. In größerem Umfang setzte die Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften erst Mitte der sechziger Jahre ein. Ein Leitgedanke war damals die Idee, ei­ nen einheitlichen RGW-Wirtschaftsraum zu schaffen, daher kamen die ersten angeworbenen ausländischen Arbeitskräfte aus Polen, Bulgarien, Jugoslawien und Ungarn, seit den siebziger Jahren aus Vietnam. Von allen RGW-Ländern waren in der DDR mit Abstand die größte Zahl ausländischer Arbeitskräfte beschäf­ tigt. Die Schätzungen für Mitte der siebziger Jahre bewegten sich zwischen 60.000 und 100.000 Personen. Jasper widmet sich neben den Fragen der Anwerbungspolitik auch ausführlich den arbeits- und aufent­ haltsrechtlichen Bedingungen und den verschiedenen Kompetenzen der Massenorganisation zur \"Betreuung\" der Ausländer in der DDR.Im knappen letzten Beitrag skizziert Georg Hansen die Geschichte der Sorben, der einzigen ethnischen Minderheit, die in der DDR eine kulturelle und sprachliche Teilautonomie erlangte, die jedoch in den sechziger Jahren eingeschränkt wurde. Er zeigt, daß jenseits des verfassungsmäßig gesicherten Minderhei­ tenschutzes die Gewährung kultureller Autonomie einer gewissen Fassadenhaftigkeit nicht entbehrte.Das Buch bietet eine erste Einführung in den Problemzusammenhang von Mehrheit und Minderheit, Eigenem und Fremdem. Es bewegt sich aber, was die Materialgrundlage, die zitiert wird, angeht, leider häufig auf dünnem Eis - ein Umstand, der darauf zurückzuführen ist, daß sich die Autoren praktisch aus­ schließlich auf gedruckte Quellen stützen.Karin Hartewig 508 JHK 1993EinzelrezensionenStark, Meinhard (Hrsg.): \"Wenn Du willst Deine Ruhe haben, schweige\". Deutsche Frauenbiographien des Stalinismus. Klartext Verlag, Essen 1991, 253 S.Der Untertitel stellt, gelinde gesagt, eine Untertreibung dar. Denn der vorliegende Band versammelt - dies eine seiner Stärken - Lebensberichte dreier höchst unterschiedlicher Frauen, die ein gemeinsames Schick­ sal eint: fast zwei Jahrzehnte als \"Politische\" in sowjetischen Lagern und in der Verbannung verbracht zu haben, um schließlich im Rahmen der Entstalinisierung rehabilitiert zu werden und in die DDR umzusie­ deln. Die Texte basieren auf Tonbandinterviews, die der Herausgeber unmittelbar nach dem Mauerfall zu führen begann und die er - erfreulicherweise um größtmögliche Authentizität bemüht - stilistisch nur sehr behutsam redigiert hat.Bemängelt werden muß indes die schlampige Redaktion, Setzfehler wie Orthographie betreffend, welche den Lesefluß zuweilen unnötig hemmt. Fließend nämlich verliefe die Lektüre ansonsten allemal, wissen doch alle drei Schicksale auch Leser und Leserinnen, die im Lesen von Berichten aus dem GULag geübt sind, auf höchst eigene Weise zu interessieren:Da ist zum einen Frieda S., Jahrgang 1908, die in jungen Jahren aus einem schlesischen Dorf nach Berlin kam, dort von einem Mitarbeiter Tschitscherins aufgelesen und kurzerhand mit nach Moskau ge­ nommen wurde. Als apolitische und mit Sprache wie Gepflogenheiten des Landes unvertraute Ehefrau ei­ nes hohen Funktionärs, der den \"Säuberungen\" bereits einige Monate vor ihrer eigenen Verhaftung zum Opfer fiel, durchlebte sie alles, was ihr widerfahren sollte, gleichsam passiv, aber gerade deshalb umso verzweifelter, auch innerlich stets in der Opferrolle verharrend und nicht in der Lage, sich von dem, was man ihr antat, wenigstens \"mit dem Kopf\" zu distanzieren (und damit zugleich ein kleines Stück weit zu befreien); entsprechend fällt ihr Bericht, aus dem eine extreme innere Aufgewühltheit deutlich herausles­ bar ist, sehr emotional und subjektiv aus.Anders demgegenüber Gertrud P., mit 1990 achtzig Jahren die jüngste der drei, die freizügig, beredt, ja mit Witz und fast schon geschwätzig Auskunft gibt über ihren Lebensweg. Dieser sollte die aus der spießig-verlogenen Enge ihrer kleinbürgerlichen Familie früh geflohene, lebenslustige, politisch zumindest EinzelrezensionenJHK 1993 509interessierte Frau mit \"Männerberuf\' an der Seite eines Sowjetbürgers nach Moskau und schließlich ins Lager führen. Gertrud indes gehört zu jenem Typ Mensch, der sich stets \"durchzuwursteln\", stets das Beste aus noch so verzweifelter Lage zu machen weiß, beseelt von einem geradezu extremen Überlebenswillen, und dies wiederum hat ihren Bericht stark geprägt.Schließlich vor allem Erna K., 1904 in eine sozialdemokratische Berliner Arbeiterfamilie hineingeboren und bereits seit früher Jugend fanatische KPD-Aktivistin: Nach monatelanger kommunistischer Widerstandstätigkeit mußte sie im Herbst 1933 ihr todkrankes Kind notgedrungen in Deutschland zurücklassen und ging als Politemigrantin nach Moskau, um dort als KI-Sekretärin zu arbeiten. Falls derart extremes Leid denn überhaupt in irgendeiner Form gegeneinander aufgewogen werden kann, so hatte Erna von allen drei hier vorgestellten Frauen in mehrerlei Hinsicht das vielleicht schwerste Schicksal zu erdulden. Vor allem: Ihr nahm man die anderthalbjährige Tochter und damit zugleich die Möglichkeit, sich in all den vielen Jahren jemals mit ihrem Schicksal \"abzufinden\", innerlich in irgendeiner Form zu arrangieren. Gleichwohl wirken ihre Schilderungen äußerst konzentriert und reflektiert, durchaus auch selbstkritisch, merkt man noch der hochbetagten Erzählerin ihre politische Schulung an; von ihr erfahren wir am meisten über Dinge, welche über das persönliche Schicksal hinausgehen. All dies macht ihren Bericht zu demjenigen, aus welchem sich die Atmosphäre im Lager und in der Verbannung vielleicht am authentischsten nachvollziehen läßt.Berichte aus dem GULag gibt es, seit überlebende Opfer dem Zugriff des Stalinismus und seiner Verfallsformen entkommen konnten. Die Stärke speziell dieses Bandes liegt zum einen darin, daß er die \"kleinen Leute\" unter den Opfern zu Wort kommen läßt, nicht die exponierten Parteifunktionäre, nicht die Intellektuellen, sondern \"einfache\" Menschen. Gerade die Tatsache zudem, daß die drei berichtenden Frauen so verschieden sind, so unterschiedliche Vorleben führten und ihre Haft jede auf ihre Weise durchlebten, läßt das \"Wesenhafte\" der stalinistischen Verbrechen und des Leidens in Lager und Verbannung um so deutlicher hervortreten.Zu Beginn der Verhaftungswellen mag vielfach noch die blinde Gläubigkeit an Stalin geholfen haben, das Unverständliche zu verarbeiten - in Gertruds Worten: \"Daß einer unschuldig verhaftet wurde - der Gedanke kam uns überhaupt gar nicht\" (193). Als dann schließlich der eigene Ehepartner bzw. man selbst an der Reihe war, mußten massivere Verdrängungsstrategien entwickelt werden. Alle anderen waren schuldhaft und damit zurecht verhaftet, nur man selbst bzw. die engsten eigenen Angehörigen nicht, das Schicksal der eigenen Familie also ein - aufklärbarer - Irrtum: Daß man sich \"die Finger wundgeschrieben an Stalin\" habe (so Erna), das ist ein - in variierter Form zwar - in allen drei Berichten auftauchender Topos. Letztendlich mußten Erklärungsmuster herhalten, die nach eben jenem Schema geformt waren, welches zur selben Zeit in Deutschland die Formel \"Wenn das der Führer wüßte\" gebar, und schließlich gar wußten fünfzehn Jahre Lager und Verbannung nicht zu verhindern, daß Erna bei der Nachricht von Stalins Tod, die sie an ihrem Verbannungsort erreichte, \"wie ein Köter\" heulte (135). Jahrzehnte später noch mußte die auch in der DDR nach wie vor treu zum \"real existierenden Sozialismus\" stehende Altkommunistin sich erst aus innerer Selbstzensur befreien, bevor sie ihrem Interviewer frei berichten konnte.Genau dies verweist auf ein zentrales Charakteristikum stalinistischen Terrors, das dem Band den Titel gab: Nach durchlittener Inhaftierung war der Martyrien noch kein Ende, erwartete die Überlebenden trotz erfolgter Rehabilitierung eine weitere, die vielleicht noch größere \"Strafe\": das Schweigenmüssen, das Nichtdarübersprechendürfen, das die Opfer daran hinderte, sich innerlich wie äußerlich vom Ruch eigener Schuld völlig zu befreien.Bleibt die Frage, was an den drei hier versammelten Schicksalen denn nun \"frauenspezifisch\" ist. Denn wohl nicht von ungefähr befragte der Herausgeber nur weibliche Opfer des Stalinismus, sucht er, uns bewußt \"Frauenschicksale\" zu präsentieren. Wenn es aber im Kontext des Leidens im GULag überhaupt etwas \"Frauenspezifisches\" geben sollte, so kann die Rezensentin bestenfalls etwas \"Ehefrauenspezifisches\" 510 JHK 1993Einzelrezensionenausmachen: Immerhin im Falle von Frieda und Gertrud führte die eheliche Bindung zur Verhaftung, was beide damit quasi zur Verkörperung des unschuldigen Opfers schlechthin macht, selbst in keinerlei Weise in die politischen Abläufe involviert und noch weniger als andere fähig, Erklärungen dafür zu finden, warum man ihnen wie ihren Männern dies alles antat. In dieses (Frauen-)Bild paßt dann freilich die KI­ Sekretärin Erna nicht...Gleichwohl: Erlebnisberichte dieser Art sind besser als jede wissenschaftliche Untersuchung geeignet, beschränkte - Einblicke in eine perfide, barbarische Maschinerie zu gewähren und damit die schwärzesten Kapitel der Geschichte einigermaßen \"erfahrbar\" zu machen. Wenn es denn einen Weg geben sollte, die Nachgeborenen wirklich aus der Geschichte lernen zu lassen, die nächsten Generationen resistent zu ma­ chen gegen totalitäre Bestrebungen jedweder Couleur, dann muß er über die Erinnerungen und Berichte der Opfer beschritten werden, auch und gerade der vielen namenlosen Opfer, denen mit diesem Band Re­ verenz erwiesen wird.Andrea Hoffend 510 JHK 1993EinzelrezensionenohnMacht. DDR-Funktionäre sagen aus. Hrsg. von Brigitte Zimmermann und Hans-Dieter Schütt. Verlag Neues Leben, Berlin 1922, 258 S.Gleichlautende Fragen zur Einschätzung des eigenen Anteils bzw. Spielraums in den Machtstrukturen der DDR, des Verhältnisses zu den jeweiligen Vorgesetzten, der Kontakte zur Umwelt und einer Bewertung des untergegangenen Sozialismus, vor allem seiner Schwächen beantworten 13 ehemalige leitende Funk­ tionäre der DDR-Elite. Die heutige Sicht der Geschichte der DDR und des eigenen Lebens ist recht unter­ schiedlich, natürlich subjektiv und auch nicht in jedem Fall überzeugend. Hervorstechend ist jedoch die mit verschiedenartigsten Beispielen belegte allgemeine Schlußfolgerung, wie überzentraliert und dadurch auch ineffektiv die Machtausübung des Politbüros war. Bemerkenswert auch, daß Zugehörigkeit zum Po­ litbüro für die Bezirkssekretäre von Magdeburg und Karl-Marx-Stadt, W. Eberlein und S. Lorenz, zwar Autoritäts- und Machtzuwachs im Bezirk bedeutete, nicht aber echte Zugehörigkeit zum engeren Machtbe­ reich der SED-Zentrale.Zu den Autoren gehören neben den erwähnten SED-Sekretären der Bezirke der langjährige Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, G. Schürer, Kulturminister H.-J. Hoffmann, der Protokollchef der DDR, F. Jahsnowski, der DDR-Botschafter in den USA, H. Gruner, der Präsident der Akademie der Pädagogi­ schen Wissenschaften, G. Neuner, der Direktor der Berliner Werkzeugmaschinenfabrik in Marzahn, A. Dellheim, der Wissenschaftsphilosoph H. Hörz und der Leiter der Abteilung für internationale Verbindun­ gen des ZK der SED, G. Sieber.Spielräume im eigenen Umfeld waren zwar gegeben, wenn auch bestimmte Grenzen deutlich erkennbar waren und von keinem der Befragten der Versuch unternommen wurde, sie zu überschreiten. Bei aller Un­ terschiedlichkeit der angegebenen Motive lassen die Funktionäre erkennen, daß sie von der Notwendigkeit einer deutschen Alternative zum bundesdeutschen Staat, an deren Legitimität wie der Berechtigung und historischen Notwendigkeit einer sozialistischen Ordnung überhaupt überzeugt waren. Heute sind ihre Ansichten auch in dieser Hinsicht recht verschieden. Vor allem benennen sie viele Schwächen und Defor­ mationen der letzten Periode der DDR. Sie betreffen die eigentliche Parteipolitik, die Innen- wie Außen­ politik, die Wirtschaft, die Volksbildung und Fragen der Ideologie.Es sind mehr Mosaiksteine, weniger Verallgemeinerungen, obwohl auch Ansätze zu ihnen vorhanden sind. Die letzteren sind gerade deshalb interessant, weil sie nicht von Gegnern des DDR-Regimes vorge­ nommen werden, sondern von Mitgestaltern, die die DDR-Geschichte nicht nur negativ sehen und aus der deutschen Geschichte verdrängen wollen. Dabei überwiegen der Versuch einer durchaus kritischen Aufar- EinzelrezensionenJHK 1993 511beitung, sei es auch meist von Teilaspekten, und das Bemühen herauszufinden, wie und mit welchen Er­ gebnissen anderes eigenes Handeln möglich gewesen wäre. Die Antwort ist jedoch letztlich: Ohnmacht. Damit zweifellos nicht befriedigend, aber auch nicht unbegründet.Wer Sensationen erwartet, kommt nicht auf seine Kosten. Das Buch schildert dennoch viel vom Alltag in der DDR, insbesondere der Funktionärsschicht. Deshalb ist es ein Beitrag zur Zeitgeschichte. Manches regt zum Nachdenken an, was über den Rahmen der eigentlichen DDR-Geschichte hinausgeht.Stefan Doernberg Einzelrezensionen.!HK 1993 511Hölder, Egon (Hg.): /111 Trabi durch die Zeil - 40 Jahre Lehen in der DDR. .!. /3. Metz/ersehe Verlag,·­ buchhandlung und Carl Ernst Peschel Verlai, Stuttgart 1992, 341 S.Der Band, versehen mit einem Vorwort vom damaligen Präsidenten des Statistischen Bundesamtes, Egon Hölder, und mit einem Geleitwort des Vorsitzenden der Enquete-Kommission des deutschen Bundestages \"Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland\", Rainer Eppelmann, enthält 23 Beiträge von Statistikern zur Entwicklung aller wesentlichen Wirtschafts- und Lebensbereiche der DDR. Die Verfasser der Aufsätze waren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Staatlichen Zentralverwal­ tung für Statistik der DDR und arbeiten jetzt in der Zweigstelle Berlin des Statistischen Bundesamtes. Der Herausgeber setzte sich zum Ziel, \"Lebensmöglichkeiten des Durchschnittsmenschen\" in der DDR zwi­ schen 1949 und 1989 beleuchten zulassen. \"Jetzt nach der Wiedervereinigung!...]\", schreibt Hölder, \"ist eine Erschließung vieler Informationen der DDR-Statistik für diese Erkenntnisse möglich.\"Mit diesem Satz werden Erwartungshaltungen geweckt. Wieweit werden sie im Band erfüllt? Auffällig ist zunächst, daß der Thematik der Arbeits-, Lebens- und Freizeitbedingungen der Menschen in Ostdeutschland Priorität gegeben wird gegenüber dem wirtschaftsanalytischen Teil. Dem ersten Kom­ plex können 15, der zweiten Gruppe acht Beiträge zugeordnet werden. Im Statistischen Jahrbuch der DDR waren die Proportionen eher umgekehrt. Wie von dieser Anlage des Bandes her zu erwarten, sind die für den Historiker interessanten, über bisher Bekanntes bzw. einem breiteren Publikum Erschließbares hinaus­ gehenden Informationen vor allem in den kommentierten Daten über das Alltagsleben der DDR-Bürger zu finden. Wie entwickelte sich die Lebenserwartung der Menschen in Ostdeutschland? (38 ff.) Wie vollzo­ gen sich in der DDR schleichende Preiserhöhungen für Konsumgüter? (116 ff.) Welche Rolle kam den Delikt- und Exquisitgeschüften zu? (118, 152) Wie groß waren die Chancen für die Alten, einen der sub­ ventionierten Plütze in einem Feierabend- bzw. Pflegeheim zu erhalten? (281) Auf diese und andere Fragen geben die Autoren, gestützt auf jahrelang erhobene, aber selten veröffent­ licht Daten, bereitwillig Auskunft. Zwei der 15 dem Alltagsleben und den alltäglichen Erfahrungen der DDR-Bürger gewidmete Themen hatten in den Statistischen Jahrbüchern der DDR kaum Berücksichtigung gefunden: Die Umweltverschmutzung (199-208) und die Analyse der Hausarbeit und des Freizeitverhal­ tens auf der Grundlage von (in der DDR seit Ende der fünfziger Jahre) durchgeführten Zeitbudgetuntersu­ chungen (293-306). Der Vorteil der wirtschaftso.nalytischen Beiträge für den Leser liegt sicherlich weniger in den Informa­ tionen selbst als im Überblick, der über vier Jahrzehnte geboten wird. Ungeachtet dessen werden von Fall zu Fall interessante, kaum zugängliche Detailinformationen geboten. Wenn es um den Produktivitätsrück­ stand geht, dann wird dieser nicht nur in den bekannten globalen Daten, sondern z.B. auch anhand der Produktion von numerischen Werkzeugmaschinen oder den Verfahren zur Herstellung von Rohstahl nach­ gewiesen ( 168 f.). Im Abschnitt über den Produktivitätsrückstand geht es natürlich nicht ohne den Vergleich zur Bundes­ republik. Ansonsten vermißt man ihn - trotz gelegentlicher schüchterner Versuche einzelner Autoren. Für 512 JHKl993Einzelrezensionenden Leser ist das ein Manko, auch wenn es mathematisch-statistische Vorbehalte gibt, einen solchen Ver­ gleich zu versuchen (20 f.). Für einen deutsch-deutschen Vergleich aber spricht: In vielen Bereichen, z.B. auf demographischem Gebiet, hätte man durchaus mit \"Naturalzahlen\" arbeiten können. Insgesamt ist der Eindruck ein erfreulicher: Der Leser wird sachlich informiert. Die Autoren halten sich in der Bewertung zurück. Der Leser hat auf der Grundlage des vorzüglichen statistischen Materials, angereichert mit Gra­ phiken und Bildern, die Chance, sich selbst ein Urteil zu bilden. Das wirkt wohltuend angesichts des seit der Wende von manchen Autoren in ihren Publikationen verbreiteten Anspruchs, ganz genau zu wissen, wie da Leben in der DDR war und warum es zu ihrem Ende kam.Jörg Roesler 512 JHK 1993EinzelrezensionenHerzberg, Guntolf, Meier, Klaus: Karrieremuster. Wissenschaftlerportraits. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1992, 444 S.Guntolf Herzberg und Klaus Meier haben von September 1991 bis Januar 1992 dreizehn Wissenschaftle­ rinnen und Wissenschaftler mit einem Interviewleitfaden befragt, der ca. 40 Fragen zu Lebensstationen umfaßt. Von den dreizehn Befragten sind zwei Frauen, eine Althistorikerin und eine Germanistin, sechs Männer kommen aus naturwissenschaftlichen und fünf aus geisteswissenschaftlichen Berufen. Jedes dieser veröffentlichten Portraits wurde von den Befragten für die Veröffentlichung autorisiert. Die Befragten wurden zwischen 1925 und 1954 geboren; von den dreizehn Teilnehmern arbeiteten sieben in Instituten der Akademie der Wissenschaften. Die Herausgeber Guntolf Herzberg und Klaus Meier stellen sich aus­ führlich vor (!Of.): Guntolf Herzberg, Philosoph, der 1985 die DDR nach zahlreichen Auseinandersetzun­ gen verließ und fortan in West-Berlin lebte und Klaus Meier, der am Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft der Akademie der Wissenschaften als Soziologe gearbeitet hat. Der Aufbau der Interviews folgt dem auf Seite 12 genannten Leitfaden. Die gestellten Fragen tauchen in den Portraits nicht auf, so daß der Leser bzw. die Leserin sich häufig mit krassen Themenwechseln konfrontiert sieht. Mit einer knappen Einführung verweisen die Herausgeber auf die Rolle und Funktion der Wissenschaft in der DDR, nämlich Wissenschaft als Reputationsobjekt des Staates (8f.), verbunden mit dem Mißbrauch der Gesellschaftswissenschaften zur Legitimation bei gleichzeitiger Intellektuellenfeindlichkeit (15), wo­ bei der Begriff \"Intellektuelle\" diejenigen umfaßt, die wissenschaftlich arbeiten. Sie heben auch hervor, daß es nicht die DDR gegeben habe, sondern verschiedene DDR-Zeiten (14), jedoch ohne wissenschaftshi­ storische Periodisierungen oder Entwicklungsstufen zu nennen.Die Portraits sind sehr persönliche berufliche Verläufe einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissen­ schaftler, aber sie tragen nicht zur Erhellung des Organistionsschemas des Wissenschaftssystems bei. Am Ende weiß man nicht so recht, wodurch sich das alltägliche Geschäft im Wissenschaftsbetrieb und die Or­ ganisationsstrukturen in den Karrieren von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von denen in ande­ ren Ländern unterscheiden, denn Behinderungen bei der Bearbeitung von wissenschaftlichen Themen durch fachnahe oder -ferne Personen oder nicht erfolgte Publikationen gehören zum alltäglichen Geschäft des Wissenschaftsbetriebs auf der ganzen Welt. Der Eindruck entsteht dadurch, daß der Arbeit der Unter­ suchungsgegenstand und die Fragestellung fehlen. Es fehlt eine Einführung in das akademische Milieu und seine Berufe, eine historische Beschreibung zur Rolle und Funktion der Intelligenz im sozialistischen La­ ger bzw. in der DDR in Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Gruppen, eine Darstellung der Lehr­ und Forschungssorganisation, zum Beispiel eine Erläuterung dazu, wie die Forschungspläne in den einzel­ nen Disziplinen zustande kamen, wie sich die Themen im historischen Zeitablauf veränderten und worin und woran sich die politischen Einflüsse beziehungsweise Eingriffe besonders deutlich zeigen (zum Bei­ spiel wenn Forschungsvorhaben aufgrund politischer Anordnung eingestellt oder wenn aufgrund des EinzelrezensionenJHK 1993 513Durchgangs von Kontrollbrigaden (174) oder Parteikommissionen, Leiterinnen und Leiter sowie Personal von Forschungs- und Universitätsinstituten gemaßregelt bzw. diese Einrichtungen geschlossen wurden). Es wäre außerordentlich hilfreich für die Leserinnen und Leser gewesen, etwas über Handlungsanweisungen und Kontrollen durch die politischen Bürokratie der DDR in Forschung und Lehre zu erfahren. Diese Portraits zeigen erstaunlich facettenreiche berufliche Karrieren, die trotz oder gar wegen zahlreicher politischer Ein- und Übergriffe entwickelt wurden, wobei die Allmacht der Partei und ihrer Handlanger in eini-gen Erzählungen zu kleinbürgerlichen Possen a Ja \"Feuerzangenbowle\" gerinnen (Soziologe, 174; Althi-storikerin, 82). Der wissenschaftliche Werdegang wird in dieser Darstellung zur individuellen Erfolgsgeschichte, die sich trotz Allgegenwart politischer Kontrollen und hierarchisch gegliederte Befehlsstrukturen, letztendlich gegen diese durchsetzt. Publikations-, Lehr-, Auftritts-, Reise- bis hin zu Arbeitsverboten, die zu jedem Zeitpunkt im Lebenslauf auftreten können, lösen keine wissenschaftspolitischen Kontroversen aus, sondern sie lesen sich wie Auszeiten oder psychosoziale Moratorien, in denen überraschender Weise auch Kritiker und Kritisierte im gleichen Boot sitzen (vgl. Portrait Krüger). Die Abgrenzung zur alten Bundesrepublik, das emphatische Modell \"Sozialismus\" und eine \"zwanghafte Dankbarkeit\" an das politische System (Psychiater, 196) sind Strukturen in den Intelligenzkarrieren, die Loyalität erzeugen und gleichzeitig Kontroversen zwischen Wissenschaft und Politik verhindern. Wissenschaftlich ist die Studie, da ihr eine Fragestellung fehlt, schwer einzuordnen: Die amorphe Datenbasis eignet sich wenig für biographie-soziologische Fragestellungen, die Kategorisierungen sind unscharf, wechselnd und lückenhaft, wenn es zum Beispiel um die soziale Herkunft, die eigene Familie oder auch um den Studien- und Berufsverlauf geht. Ansprüchen der Oral-History-Forschung genügt diese Arbeit deshalb nicht, weil die Herausgeber es versäumt haben, einzelne Aussagen in den Portraits zeitgeschichtlich zu kontextualisieren und in einem Fußnoten- und/oder Anmerkungsapparat zu ergänzen bzw. zu kommentieren. Dem interessierten DDRstaatsfremden Leser sind viele Begriffe und Personen nicht geläufig. Dazu einige Beispiele: Was ist Zirkeltätigkeit (10); was sind Kopfnoten (110); warum war die Freistellung von der Volksbildung nicht gern gesehen (111 ); was ist daran verwunderlich, daß eine Zeitschrift für \"Technologie\" psychologischhistorische und wissenschaftstheoretische Artikel nicht publizieren will; was waren die Kühlungsborner Tagungen der Wissenschaftsphilosophen (115); oder was steht dahinter, wenn Hans-Peter Krüger sagt: \"Es ging damals (vermutlich 1985, E.M.H.) nicht mehr um \'Kritik der bürgerlichen Ideologie\', sondern um eine sachliche Auseinandersetzung\" (387); oder wie unterscheidet sich der rechtliche und praktische Status einer Kaderakte der DDR von einer Personalakte im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik; was ist eine Wahrnehmungsprofessur oder -assistenz und wie grenzen sich diese von der Dozentur, Professur, Assistenz ab, bzw. wie waren diese Positionen hierarchisch verankert; was waren die politischen Anlässe, die Promotionen A und B einzuführen, welche Titel verbergen sich dahinter; was verbirgt sich hinter \"immateriellem Export\" (115), was ist eine \"Schule der sozialistischen Arbeit\" (86); war die Möglichkeit zur Promotion B abhängig davon, ob jemand für Leitungsfunktionen vorgesehen war oder nicht (vgl. Portraits Stark (87) versus Langhoff (156)); zu welchen Bedingungen wurden welche (planmäßigen und andere) Aspiranturen gewährt, sind sie mit Stipendien vergleichbar; war die Position des 1. Sekretärs der FDJHochschulgruppenleitung ein bezahlter voller Beruf (167), um hier nur einige Fragen zu nennen. Da sich mit diesen Portraits Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Teil auch mit ihren Publikationen vorstellen, müßten diese zumindest auch bibliographisch in einem Anhang oder einer Fußnote genannt werden. Erwähnte Kolleginnen und Kollegen werden einmal mit vollständiger Namensbezeichnung genannt, dann wieder ohne Vornamen, die den Portraits vorangestellten tabellarischen Lebensläufe sind in höchstem Grade uneinheitlich, mit den akademischen Positionsbezeichnungen Habilitation, Promotion, Promotion A und B, politischen und beruflichen Positionen und Auszeichnungen usw. wird mehr als unhistorisch und salopp umgegangen. Das alles ist meines Erachtens wissenschaftliche Arbeit für Herausgeberinnen und Herausgeber, die diesem Buch fehlt und die es auch als wissenschaftliches Quellenmaterial 514 JHKl993Einzelrezensionenbzw. Datenbasis bedenklich machen. Und ich kann es nicht verhehlen, daß mich in einigen Portraits die bedenkenlos dokumentierte Frauenfeindlichkeit mehr als verstimmt hat, so wenn zum Beispiel der Psycho­ loge Lothar Sprung über die wissenschaftliche Arbeit und Publikationen mit \"seiner\" Frau redet und nicht einmal ihren Vor- oder Zunamen nennt oder der Soziologe Peter Voigt seine \"Fische\" mit zum Zeiten nimmt (172). Das ist an der Grenze des Erträglichen.Erika M. Hoerning 514 JHK 1993EinzelrezensionenWilke, Manfred/Hertle, Hans-Hermann: Das Genossen-Kartell. Die SED und die IG Druck und Papier/IG Medien. Dokumente. Verlar; Ullstein, Frankfurt/M., Berlin 1992 (Ullstein Report), 451 S.Durch die Öffnung der Archive in der ehemaligen DDR und der damit verbundenen Zugänglichkeit neuer Quellen sahen sich viele Historiker genötigt, schnell mit Veröffentlichungen aufzuwarten, um auf dem Markt der Neuerscheinungen Schritt halten zu können. Viel zu oft blieben dabei Inhalt und Form auf der Strecke. So auch bei dem hier anwzeigenden Buch. Ziel der Autoren ist es zu belegen, daß die SED auch in Westdeutschland \"ein politischer Faktor\" war, und nicht zuletzt vom DGB \"- besonders von der IG Druck und Papier - auch als Bündnispartner geschätzt wurde\" (15). Auf rund 200 Seiten Darstellung und einem etwa ebenso umfangreichen Dokumentenanhang versuchen die Autoren, diese These zu untermau­ ern.Die sieben Darstellungskapitel gehen weit über den Dokumentationszeitraum hinaus. Ausgehend von der Reaktion des DGB auf den \"Zusammenbruch der SED-Diktatur\", wird retrospektiv die deutschland­ politische Programmatik des DGB seit 1949 und dessen Rolle im Konzept der SED-Deutschlandpoltik und Umsetwng anhand der IG Metall, aber vor allem der IG Druck und Papier im DGB untersucht. Die am Ende der Darstellung als \"offen\" bezeichnete Frage, ob die Beziehungen zwischen der IG Druck und Pa­ pier zum FDGB \"nur ein Beitrag zur sozialdemokratischen Entspannungspolitik\" waren, oder ob \"es gar in vielen Fragen eine politische Koalition\" gab (202), ist hier nur eine rhetorische. Schon der Titel verrät, daß die Autoren in der IG Druck und Papier im DGB einen Handlanger der SED sehen, der - vermittelt und angeleitet durch den FDGB - deren Positionen in den DGB hineintrug. Generell werden die vorn DGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften seit den siebziger Jahren aufgenommenen offiziellen Kontakte zum FDGB, mehr noch als die Ostpolitik der sozial-liberalen Ära, als \"Wandel durch Anbiederung\", oder \"Wandel durch Verbrüderung\" charakterisiert. Möglich ist dies durch eine einseitige Auswahl von und ei­ nen fahrHissigen Umgang mit Quellen. Die 75 abgedruckten Dokumente - Sekretariatsbeschlüsse und \"Maßnahme- pläne\" des FDGB, Berichte an die SED-Führung liber Besuche westdeutscher Gewerk­ schaftsdelegationen in der DDR und /ihnliches - stammen ohne Ausnahme aus dem ehemaligen Archiv des FDGB der DDR. Sie bilden die Basis für die Analyse der Ziele wie der Intensität und Erfolge der Westar­ beit des FDGB zwischen 1972 und 1989. Der FDGB wird damit zum Kronzeugen für den Erfolg seiner eigenen und der Politik der SED. Die Fragwürdigkeit der so gewonnenen Ergebnisse liegt auf der Hand. Und obwohl die Autoren explizit auf die noch ausstehende Auswertung korrespondierender Quellen aus DGB-Provinienz im Vorwort hinweisen ( 16), bemühen sie sich kaum um eine kritische Bewertung und Relativierung der aus den Dokumenten übernommenen Schilderungen und Bewertungen. Die Absicht, damit einen ersten \"Schritt zur Aufklärung dieser deutsch-deutschen Beziehungen\" (15f.), das heißt zwi­ schen DGB/-Gewerkschaften und FDGB zu tun, wird so zur verallgemeinernden Anklage der westdeut­ schen Gewerkschaften, deren Stichhaltigkeit noch eingehend überprüft werden muß. Leider mindert das Fehlen eines kritischen Anmerkungsapparates zu den Dokumenten sowie eines Abkürzungsverzeichnisses den Wert des Bandes für die zukünftige Erforschung der deutsch-deutschen Gewerkschaftsbeziehungen.Josef\"Kaiser EinzelrezensionenJHK 1993 515Alvarez de Toledo, Alonso: Nachrichten aus einem Land, das niemals existierte. Tagebuch des letzten spanischen Botschafters in der DDR. Verlag Volk und Welt, Berlin 1992, 264 S.Der letzte spanische Botschafter in der DDR, seit 1985 in Berlin akkreditiert, schrieb vom 12. September 1989 bis zum 18. März 1990 persönliche Notizen zu den bewegten politischen Geschehnissen jener \"Wendezeiten\" nieder, so wie er sie selbst erlebte. Diese Aufzeichnungen wurden bereits 1990 im spanischen Original herausgegeben, 1992 legte sie der Verlag Volk und Welt dem deutschen Publikum vor.Bereits im Vorwort begründete der Autor den provokanten Titel mit seiner seit langem feststehenden Position, daß \"die Existenz eines international anerkannten Staates nicht aucli bedeute, daß damit ein anderes Land entstanden war\" (8). Die DDR war für ihn immer ein künstliches Gebilde. Autor und Verlag versichern, daß keine der Eintragungen nachträglich korrigiert worden seien, so daß die Ereignisse vom Zeitpunkt der Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze bis zu den ersten freien Volkskammerwahlen authentisch nachvollzogen werden könnten. Demnach stand für den Autor bereits am 18. September 1989 die deutsche Frage wieder aktuell auf der Tagesordnung. Ein wiedervereinigtes, demokratisches und neutrales Deutschland war für ihn vorstellbar.Zunächst aber konzentrierten sich die Spannungen auf die Vorbereitung und Durchführung des 40. Jahrestages der Gründung der DDR am 7. Oktober, einschließlich des Gorbatschow-Besuches in Berlin, danach auf die spektakuläre Abwahl Honeckers und die \"Inthronisierung\" von Egon Krenz. Das Tempo der Entwicklung in der DDR wurde immer schwindelerregender, es kam ein Tag, der für Alvarez \"in die deutsche Geschichte eingehen wird\", der 4. November 1989, an dem 500 000 DDR-Bürger auf dem Berliner Alexanderplatz demonstrierten (75).Fünf Tage später, am 9. November um 21.12 Uhr, erlebte der Autor zusammen mit einem spanischen Reporterteam am Grenzübergang Bornholmer Straße den Fall der Berliner Mauer. Seine Erklärung dieser weltgeschichtlichen Sensation ist denkbar einfach, aber umstritten: Krenz konnte die Situation nicht mehr anders entspannen.Noch Ende November 1989 traten alle politischen Kräfte in der DDR gegen eine Wiedervereinigung Deutschlands auf, \"so wie sie Kanzler Kohl vorgeschlagen hat\" (120). Mit dem am 3. Dezember vom Volk und der Parteibasis erzwungenen Rücktritt aller zentralen SED-Führungsebenen sei dann allerdings \"das bedeutungsvollste Kapitel dieser friedlichen, aber unerbittlichen Revolution geschrieben worden\" (127), wobei ein politisches Vakuum entstand, das unvermeidlich von der BRD ausgefüllt werden mußte und wodurch sich alles veränderte.In Erfüllung dieser Prognose vollzogen sich die weiteren Entwicklungen. In einem weiterhin rasanten Tempo wurden alle inneren und äußeren Widerstände ausgeschaltet bzw. zurückgedrängt, die der schnellen Vereinigung Deutschlands entgegenstanden. \"Mit dem Wegfall der sozialistischen Idee bleibt nur noch die deutsche Identität\" (223), resümierte Alvarez seine detaillierten Schilderungen über die Monate Januar bis März 1990.Seiner Schlußeinschätzung, daß mit den Volkskammerwahlen die friedliche Revolution in der DDR endete, kann man zustimmen. Seine Überlegung, daß es eine \"gestohlene\" Revolution (264) war, mag Diskussionen hervorrufen. Die DDR dürfte allerdings nicht als \"Fußnote der Geschichte\" abzutun sein. Dies beweisen auch die Notizen über 188 Tage ihres Niedergangs, die mit größerem zeitlichen Abstand an Wert gewinnen werden. Wie andere persönliche Erinnerungen sind sie für die historische Aufarbeitung wichtig, auch wenn kein wissenschaftlicher Anspruch durch den \"neutralen\" Zeitzeugen Alvarez erhoben wurde.Gerd-Rüdiger Stephan 516 .!HK 1993f,\'inze/rezensionenLolunmm, Georg: Indifferenz und Gesellscha/i. Eine kritische Auseinc111derserzw1g mit Marx. Suhrkamp Verlag, Frankfürt/M. 1991, 388 S. Mit dieser überarbeiteten und erweiterten Fassung seiner Dissertation zielt der Autor auf eine \"kritische Vergewisserung hinsichtlich Marxens Entfremdungs- und Verdinglichungstheorie, die zu den zentralen In­ stitutionen kritischer Gesellschaftstheorie gehören\". Er wählt den ersten Band des Marxschen \"Kapital\" als zentralen Text für seine Auseinandersetzung, weil mit ihm Marx\' \"theoretisch ausgereiftes und selbst ver­ antwortbares Werk\" vorliegt, \"in dem seine Stärken überwiegen und woran er auch gemessen werden soll­ te\". Ein zweifellos akzeptables Diktum jeder wissenschaftlich ernst zu nehmenden Marx-Kritik.Das eigene theoretische Konzept entwirft der Verfasser einerseits unter Voraussetzung des historischen Faktums, daß die Entfremdungsdiagnose Sozial- und Kulturkritik provoziert hat, andererseits unter An­ nahme der Gegenwartssicht: \"Offenbar greifen intuitive und in der Wirkungsgeschichte der Marxschen Theorie liebgewordene Vorstellungen über das Negative der modernen Gesellschaft nicht mehr überzeu­ gend. Was in der einen Hinsicht negativ gewertet wird, zeigt sich unter einem anderen Aspekt als neutral oder als positiv\" (26). Daher gliedert der Autor das Entfremdungsphänomen in sein umfassender erklärtes lndifferenzkonzcpt ein, das M. Theunissens Darstellung des Zusammenhangs zwischen Herrschaft und Gleichgültigkeit voraussetzt. \"Den Begriff \'Indifferenz\"\', so der Autor, \"verwende ich [ ... ] als einen Sam­ melbegriff, um damit einen komplexen Phänomenbereich zu erfassen, der durch Gleichgültigkeiten in un­ terschiedlichen Hinsichten charakterisiert ist\" (20). Daß Indifferenzphänomene in der Modeme durch die mit Marx\' KapilCll präsentierte Sozialkritik reflektiert werden, ist dann des Autors Ansatz zur Entwicklung seiner Marx-Kritik. In ihr werden vor allem die Bestimmungen des Reichtums, des Gebrauchs- und Tauschwerts, die Marxsche Wertformentwicklung untersucht, komplettiert durch die Feststellung des Marxschen \"ökonomistischen Rechtsfunktionalismus\", der nach Ansicht des Autors den Kollaps Marx­ scher Sozialkritik impliziert. Analysen der Konstitution von Kapital und Lohnarbeit sowie der Selbstbe­ stimmung des Lohnarbeiters vollenden die Darstellung.Ein Rückgriff auf moderne Rekonstruktionen der Marxschen Ökonomietheorie, wie sie etwa M. Mo­ rishirna oder A. Br6dy vorgelegt haben, erfolgt nicht. Das schränkt die Gliltigkeit der Marx-Interpretation des Autors denn doch ein, weil Marx\' analytische Intention gewiß nicht im Programm der Sozialkritik auf­ geht.Perer Ruhen 516 JHK 1993EinzelrezensionenWayand, Gerhard: Marx und Engels zu archaischen Gesellschaften im Lichte der neueren Theorie-Dis­ kussionen. Verlag Dietmar Fölbach, Koblenz 1991, 289 S.Mit der vorliegenden Studie präsentiert der Autor seine 1990 an der Marburger Universität verteidigte Dis­ sertation. Interpretation und Kritik der einschlägigen Texte stehen in der Tradition strukturalistischer Marx-Engels-Exegese und -Rekonstruktion, wie sie seit den sechziger Jahren durch Althusser, Sebag, Go­ de!ier u.a. entwickelt worden sind. Ins Zentrum seiner Untersuchung hat der Autor das umstrittene Ver­ hältnis zwischen Verwandtschaft und Produktionsweise gerückt. Mit Althusser, Balibar und Poulantzas unterscheidet er \"Ökonomie\" in der Bedeutung eines ausdifferenzierten Teilsystems moderner organischer Gesellschaften von \"Ökonomie\" im Marxschen Sinne einer Produktionsweise, die in geschichtlich mannig­ faltiger, konkreter Gestalt besteht und als solche auch für archaische Gemeinschaften bestimmend ist. Wenngleich Verwandtschaftssysteme durchaus eine \"eigene Existenzgrundlage\" und ihre \"immanente Lo­ gik\" haben, darin der Sprache ähnlich, werden die innovativen Änderungen nicht durch ihre Transformati­ on, sondern durch die der jeweiligen Produktionsverhältnisse herbeigeführt. Während Meillassoux die Dif- EinzelrezensionenJHK1993 517schätze (nämlich Gruppen genealogisch mittels Filiation bis in eine mythische Zeit hinein politisch und ideologisch zu verknüpfen sowie räumlich mittels Heiratsallianz), bestehe umgekehrt Habermas\' Irrtum dahin, das Verwandtschaftssystem, die Ausdrucksform der Produktionsverhältnisse, mit eben diesen Ver­ hältnissen zu identifizieren und so Marx\' Konzept durch ein familialistisch-moralisches zu ersetzen.Ein über die zeitbedingte empirische Schranke hinausreichendes theoretisches Defizit in den Arbeiten von Marx und Engels erblickt der Autor in einer Tendenz, die frühen Familienformen im Gegensatz zum eigenen historisch-materialistischen Ansatz als \"naturwüchsig\" (Marx) oder \"natürlich\" (Engels) mittels Identifikation von \"Verwandtschaft\" und \"Blutsverwandtschaft\" anzunehmen und so als biologisch deter­ miniert zu deuten. Mit Blick auf die marxistische Ethnologie unserer Zeit aber urteilt der Verfasser, daß ungeachtet der großen Fortschritte, die sie materialiter gemacht habe, das theoretische Niveau ihrer Refle­ xion auf dem Stand \"eingefroren\" worden ist, den sie mit den Schriften von Marx und Engels erreicht hat.Vielfach setzt die notierte Blockade bereits mit einer vulgarisierenden Marx-Deutung ein, von der frei­ zukommen die vorliegende Studie gewiß hilfreich ist, wenngleich sie den für das Verständnis einer Pro­ duktionsweise so wichtigen Begriff der Produktivkräfte noch immer und unhintefragt als Bestimmung der materiellen Technik unterstellt (statt als individuelle und gemeinschaftliche Produktionsfähigkeit).Peter Ruben

Inhalt – JHK 1993

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