JHK 1993

Einige Aspekte der stalinistischen \"Säuberungen\" in der russischen Provinz

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 60-81

Autor/in: Kees N. Boterbloem. (Montreal)

Die Erforschung der sowjetischen Geschichte stieß lange Zeit auf zahlreiche Probleme, weil im Westen nur wenige Quellen zugänglich waren. Während man über den Zeitraum bis 1929 und über die Verbannung von Leo Trotzki zahlreiche Archivalien einsehen konnte, waren zur Periode der Kollektivierung und Industrialisierung nur sehr wenige Dokumente zugänglich. In diesem Zusammenhang stellte nur das Archiv der Provinz von Smolensk - trotz des lückenhaften Aktenbestandes - eine Ausnahme dar.2 Aber man konnte das Smolensk-Material durch Gespräche mit ehemaligen Bürgern der Sowjetunion ergänzen, wie es beispielsweise an der Harvard University geschehen ist.3 Neben der Sichtung von Werken sowjetischer Schriftsteller, Historiker und Dissidenten konnten auch die Erinnerungen von Menschen, die längere Zeit in der UdSSR verbracht hatten und dann in den Westen übersiedelten, etwa Diplomaten und Journalisten, wertvoll sein. Über die Nachkriegszeit war indes fast überhaupt kein Aktenmaterial zugänglich. Eine Situation, die sich inzwischen glücklicherweise fast völlig verändert hat. So war es dem Verfasser möglich, als erster westlicher Forscher in dem Parteiarchiv von Tver zu arbeiten.4Die Sowjetunion war das größte Land der Welt und Rußland ist das noch heute. Dennoch muß man bei der Lektüre sowohl von historischen Abhandlungen als auch von zeitgenössischen Periodika den Eindruck gewinnen, daß es dort nur zwei Städte gibt, in denen alle Bürger der ehemaligen Union zu leben scheinen, nämlich Moskau und Leningrad/St. Petersburg. Entsprechend der politischen Situation, dem Interesse des Augenblicks und vielleicht der Laune des Forschers oder des Journalisten wurden und werden die historischen wie aktuellen Ereignisse nur in Städten wie Kiev, Tiflis, Vilna, Gorki/Nishnij Novgorod, Sverdlovsk/Ekaterinburg oder Erivan, um die größeren zu nennen, angesiedelt. Selbstverständlich hängt dies damit zusammen, daß in der Sowjetunion alle wichtigen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen in Moskau getroffen wurden. Leningrad wurde hier und da miteinbezogen, weil es noch etwas von der alten Grandeur der Hauptstadt der Vorrevolutionszeit, in der 1917 die Revolution ihren Anfang nahm, behalten und deshalb in der Sowjetunion einen besonderen Platz innehatte.5Ich danke Ralph Güntzel von der McGill Universität in Montreal für die Durchsicht dieses Artikels und Dr. Jan Foitzik von der Universität Mannheim für seine mannigfaltige Unterstützung bei der vorliegenden Untersuchung. 2 Fainsod, M.: Smolensk under Soviet Rule. Cambridge (Mass.) 1958. S. 3-17. 3 Vgl. Inkeles, A./Bauer, RA.: The Soviet Citizen. Daily Life in a Totalitarian Society. Cambridge (Mass.) 1961, insbesondere: Appendix 22, S. 464-467. 4 Es handelt sich um das ehemalige Archiv der Parteiorganisation von Tver/Kalinin, das sich im \"Tverskoi tsentr dokumentatsii noveischei istorii\" in der Stadt Tver/Kalinin befindet. 5 Natürlich sollte man hinzufügen, daß nicht nur die blutigen Säuberungen mit der Ermordung Kirows in Leningrad ihren Anfang nahmen, sondern daß diese Stadt auch im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle gespielt hat. In der Nachkriegszeit stand Leningrad wenigstens zweimal im Zentrum der Auf- K. N. Boterbloem: Stalinistische \"Säuberungen\" in der ProvinzIHK1993 61Moskau hat heute etwa 11 Millionen Einwohner. In Rußland leben dagegen nahezu 150 Millionen Menschen.6 Da noch immer wenig darüber bekannt ist, was eigentlich in Moskau zur Zeit Stalins und seiner Nachfolger geschah, wird es zweifellos sehr wichtig bleiben, sich auch weiterhin mit den Ereignissen und Entwicklungen im politischen Zentrum der Union zu beschäftigen. Gleichwohl ist jedoch nicht absehbar, wie lange es möglich sein wird, in Rußland oder in den anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion ohne Einmischung der Behörden zu forschen. Nicht zuletzt deshalb ist es also wichtig zu versuchen, auch das Leben der Sowjetbürger außerhalb Moskaus zur Zeit des Stalinismus in den Blick zu nehmen.7 Im großen und ganzen hat bislang nur Merle Fainsod mit seiner Untersuchung einen solchen Versuch unternommen.8 Seine Arbeit ist noch immer sehr nützlich, beleuchtet aber vornehmlich die politische Struktur einer russischen Provinz.9 Die Forschungsdesiderate der Regionalgeschichte des Stalinismus sind immens. So ist es immer noch unbekannt, welches Ausmaß die Unterdrückung hatte, wieviele Personen \"kollaborierten\" oder vielleicht tatsächlich an eine bessere sozialistische Zukunft glaubten. Welchen Erfolg hatten diejenigen, die versuchten, den Behörden aus dem Weg zu gehen, und wie erlebte und verarbeitete der durchschnittliche Sowjetbürger das System?Die folgende Darstellung der Ereignisse der Jahre 1937 und 1938 in der Provinz von Kalinin versteht sich als ein Beitrag zum besseren Verständnis des Lebens in der russischen Provinz in dieser Zeit. Fainsod ist nur am Rande auf die Geschehnisse im Gebiet der späteren Provinz von Kalinin eingegangen.10 Da von 1929 bis 1935 die raiony von Ostashkov, Kamen\', Lukovnikovo, Zubtsov, Staritsa, Pogorel\'oe-Gorodishche, Olenino, Selizharovo und Rzhev, samt den raiony, die 1944 teilweise zur Provinz von Welikie Luki kamen, zum westlichen Teil der Provinz gehört hatten, gab es einige Hinweise auf die besagte Region.11 Ferner veröffentlichte Helmut Altrichter 1984 ein wichtiges Buch über die Bauern in der Guberniia von Tver in den zwanziger Jahren.12 Die Guberniia umfaßte in dieser Zeit etwa das Gebiet der kalininschen Provinz zwischen 1944 und 1957.13 Von Januar 1935 bis August 1944 gehörten ihr im Westen noch einige Teile insgesamt 24 raiony - der späteren Provinzen von Welikie Luki und Pskow an. In dieser Zeit hatte die Provinz eine gemeinsame Grenze mit Lettland gehabt.merksamkeit der sowjetischen Behörden, und zwar 1946 beim Anfang der Shdanowshchina und 1949 mit der erneuten Parteisäuberung in der Stadt. 6 Vgl. Chislennost\' naseleniia soiuznykh respublik po gorodskim poseleniiam i raionam na I ianvara 199! g. Statisticheskii sbornik. Moskva 1991. S. 3. Dort wird für die gesamte RSFSR die Zahl 148.572.700 genannt. 7 Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, daß der Forschung zahlreiche Dokumente verloren gehen, weil für die Aufbewahrung nicht genügend Finanzmittel zur Verfügung stehen. 8 Fainsod, Smolensk under Soviet Rule, a.a.O. 9 Provinz wird fortan als Synonym für die russischen Worte ablast und guberniia gebraucht. 10 1929 wurden die uezdy von Rzhev und Ostashkow der Tverer guberniia mit der guberniia von Smolensk und anderen Gebiete zu der westlichen Oblast\' zusammengeschlossen. Vgl. Fainsod, Smolensk under Soviet Rule, a.a.O., S. 52 und Kartenanhang. Als Beispiel für die Beschreibung einiger Ereignisse in der späteren kalininischen Provinz vgl. insbesondere: ebenda, S. 179. 11 Die Provinz von Kalinin wurde 29. Januar 1935 geschaffen. 12 Altrichter, H.: Die Bauern von Twer. Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung. München 1984. 13 Vgl. TsSu RSFSR, Statisticheskoe Uprawlenie Kalininskoi Oblasti. Kalininskaia oblast\' za 50 Jet v tsifrakh. Statisticheskii Sbornik. Moskwa 1967. S. 11. 62 JHK 1993AbhandlungenDie folgenden Ausführungen beschränken sich auf einige Aspekte in der Geschichte dieser Provinz, hauptsächlich während der \"Säuberungen\" der dreißiger Jahre.14 Fainsod war es nicht möglich, seine Geschichte der russischen Provinz weiter als bis zum Herbst 1937 zu führen, weil es im Archiv der Provinz Smolensk über die nachfolgende Periode keine Materialien gab. 15 Daher ist es um so interessanter zu versuchen, die Ereignisse in der Provinz bis zum Ende der Ezhovshchina zu beschreiben und auf diese Weise Fainsods Arbeit zu vervollständigen. Zumindest in der Provinz Kalinin waren die \"Säuberungen\" Ende 1937 noch voll im Gange und kamen erst etwa ein Jahr später zu ihrem Ende. So kann die folgende Darstellung gleichzeitig auch als eine Erweiterung der Arbeit von Robert Conquest über den \"Großen Terror\" dienen.16Im Dezember 1939 gab es in der kalininschen Provinz offiziell 2.489.200 Einwohner.17 Nur 24 Prozent (609.800) waren Stadteinwohner und 76 Prozent (1.879.400) lebten noch immer auf dem Lande. 13 Jahre zuvor, also 1926, waren noch fast 90 Prozent der Bevölkerung ländlich geprägt. 18 Die Bevölkerung Kalinins bzw. Tvers hat sich zwischen 1926 und 1939 ebenso wie die Einwohnerzahl der zweitgrößten Provinzstadt, Vyshnii Volochek, verdoppelt. Rzhev, noch in den zwanziger Jahren die zweitgrößte Stadt, war 1939 von Vyshnii Volochek überholt worden, obgleich auch Rzhev um mehr als 20.000 Einwohner gewachsen war. Weiterhin gab es 1939 noch acht Siedlungen mit mehr als zehntausend Einwohnern.19Die Stalinsche Revolution der Kollektivierung, Industrialisierung und Urbanisierung hatte natürlich auch Auswirkungen auf die Provinz von Kalinin. Die Industriestruktur hat sich dennoch nicht gravierend verändert. Wie schon in den zwanziger Jahren war die Textilindustrie noch immer am wichtigsten. 1937 machten Konsumgüter 60 und Produktionsmittel 40 Prozent der gesamten Produktion der Großindustrie aus.20 In diesem Jahr arbeiteten fast 29.000 Arbeiter in den zehn Textilfabriken von Kalinin und Vyshnii Volochek.21 Nur zwei Jahre später soll es schon 38.500 Arbeiter in der Textilindustrie14 In meiner Dissertation beschäftige ich mich mit der Sozialgeschichte der unmittelbaren Nachkriegszeit. 15 Fainsod, Smolensk under Soviet Rule, a.a.O., S. 5, 61. 16 Conquest, R.: The Great Terror: Stalin\'s Purge of the Thirties. London, New York 1968 (1. Auflage).Vgl. auch die nachfolgenden, erweiterten Auflagen. 17 Kalininskaia oblast\' za 50 !et v tsifrakh, a.a.O., S. 12. 18 Ebenda. Innerhalb der Grenzen von 1944 bis 1956 - künftig als \"kleinere Provinz\" bezeichnet - lebtenAnfang 1939 579.800 Menschen in Städten und in städtischen Siedlungen. Vgl. TsSU SSSR. Statisticheskoe upravlenie Kalininskoi Oblasti. Narodnoe Khoziaistvo Kalininskoi Oblasti. Statisticheskii Sbomik. Kalinin 1957. S. 7. Die Differenz zur genannten Zahl in Kalininskaia oblast\' za 50 !et v tsifrakh, a.a.O., S. 12 beträgt nur 30.000. Obgleich die Tver-Provinz 1991 flächenmäßig nicht viel kleiner war als 1939, lebten dort nur 1.676.200 Menschen (71,8 Prozent städtische und 28,2 Prozent ländliche Einwohner). Vgl. Chislennost\' naseleniia soiuznykh respublik po gorodskim poseleniiam i raionam na 1 ianvara 1991 g. Statisticheskii sbornik, a.a.O., S. 4. 19 Narodnoe Khoziaistvo Kalininskoi Oblasti, a.a.O., S. 7. 20 Kostiukovich, V.B./Orlov, V.S.: Kalininskaia partiinaia organizatsiia v bor\'be za zavershenie sotsialisticheskoi rekonstruktsii narodnogo khoziaistva (1933-1937 gg.), in: Ocherki istorii kalininskoi organizatsii KPSS. Moskva 1971. S. 378-419, 384f. 21 Pashkevich, V.I.: Khlopchatobumazhnaia promyshlennost\', in: Uchenye zapiski MGU, 37: Geografiia. Promyshlennost\' Kalininskoi oblasti, Tom II, chast\' vtoraia. Moskva 1939. S. 52. K. N. Boterbloem: Stalinistische \"Säuberungen\" in der ProvinzJHK 1993 63der beiden Städte gegeben haben.22 Daneben arbeiteten 1940 3,5 Prozent aller Arbeiter in den großindustriellen Flachsbearbeitungsfabriken.23Obgleich es im September 1940 insgesamt 351.100 Arbeiter und Angestellte gab, waren davon nur 135.000 in der Massengüterindustrie der kleineren Provinz24 beschäftigt.25 Weiterhin arbeiteten 23.600 Menschen bei der Eisenbahn, 17.600 beim Bau, 11.800 im LKW-Transportbereich und als Stauer.26Die Statistiken der industriellen Produktion im Jahre 1940 waren nicht sehr ermutigend. In mehreren Betrieben wurde weniger als noch drei Jahre zuvor produziert. Die Provinz stellte beispielsweise weniger Papier, Lederschuhe, Ziegelsteine, Fensterglas, Holz und Butter her.27 Vielleicht war dies eine Folge des Finnland-Krieges, es ist jedoch wahrscheinlich, daß die noch zu beschreibenden Ereignisse einen ungünstigen Einfluß ausgeübt haben.Auf dem Lande waren in dieser Zeit noch immer mehrere Tausende als Gewerbetreibende beschäftigt, wie zum Beispiel in der Schuherzeugung im Umkreis von Kimry.28 Am Ende der dreißiger Jahre gab es in Kimry ungefähr 10.000 in Kooperativen vereinte Schuster, was der Zahl der Arbeiter in den fünf Textilwerken in Vyshnii Volochek entsprach.29 In den Sowchosen, MTS und anderen Fabrik- oder Staatsbetrieben der Landwirtschaft arbeiteten 17 .900 Menschen.30 Außerdem waren noch mehrere Tausend auf dem Lande als Ärzte, Lehrer oder Verkäufer in Dorfläden beschäftigt.Die Kollektivierung hatte auch in der Provinz von Kalinin zu einem großen Verlust an Vieh geführt. Noch im Januar 1941 lag der Kuhbestand unter dem von 1916.31 Kolchosen und landwirtschaftliche Staatsbetriebe besaßen 1941 insgesamt 247.400 Pferde, durchschnittlich kamen damit etwa 18 auf jede Kolchose.32 Da die Relation von Kolchosen und Traktoren bei den MTS nicht einmal 2: 1 betrug, blieben Zugtiere für die Landarbeit sehr wichtig.33 Der Schweinebestand ist zwischen 1928 und 1941 nur22 Selin, M.A.: Kalininskaia partiinaia organizatsiia v bor\'be za uprochenic sotsialistichcskogo obshchestva (1937g. - iiun\' 194lg.), in: Ocherki istorii kalininskoi organizatsii KPSS, a.a.O., S. 420-457, hier S. 434. Es ist schwierig, genau einzuschätzen, inwieweit diese sowjetischen Quellen zutreffend sind.23 Kalininskaia ablast\' za 50 let v tsifrakh, a.a.O., S. 35. Vgl. auch die Tabelle im Anhang dieser Arbeit. 24 Vgl. oben. 25 Vgl. Narodnoe Khoziaistvo Kalininskoi Oblasti, a.a.O., S. 70. 26 Ebenda. 27 Ebenda, S. 15-17. 28 Alampiev, P.: Promyshlennost\' Kalininskoi oblasti (vvodnyi ocherk), in: Uchenye zapiski MGU, 37,a.a.O., S. 15; Pervozvanskii, A.V.: Kozhevenno-Obuvnaia promyshlennost\', in: ebenda, S. 77. 29 Vgl. Pervozvanskii, Kozhcvenno-Obuvnaia promyshlennost\', a.a.0., S. 77; Pashkevich, Khlopchato-bumazhnaia promyshlennost\', a.a.O., S. 52. Insgesamt gab es 1940 innerhalb des Gebietes der \"kleineren\" Provinz nach offiziellen Angaben 32.900 Mitglieder der Gewerbe-arteli. Vgl. Narodnoe Khoziaistvo Kalininskoi Oblasti, a.a.O., S. 70. 30 In der kleineren Provinz. Vgl. ebenda, S. 70. 31 Ebenda, S. 43. 32 Vgl. ebenda, S. 44. Die Kolchosen hatten insgesamt 230.800 Pferde. 1945 sprach der erste Parteisekretär der Provinz, I.P. Boitsov, in seiner Rede vor der sechsten Parteikonferenz der Provinz von 12.957 Kolchosen, die es unmittelbar vor dem Krieg gegeben habe. Vgl. Tverskoi tsentr dokumentatsii noveishei istorii, fond 147, opis\' 3, delo 2679, list 7ob (künftig: TTDNI, 147/3/2679, L.7ob). 33 TTDNI, 147/3/2679, L.7ob. Insgesamt hat es vor dem Krieg 5.639 Traktoren, 730 Mähdrescher und \"Tausende andere landwirtschaftliche Maschinen und Geräte\" gegeben. Während es noch 1928 in der Tverer guberniia 480.000 Pferde gab, halbierte sich dieser Bestand in etwa bis 1941. Der Schwund 64 JHK 1993Abhandlungenschwach angestiegen.34 Am 1. Januar 1941 standen den Kolchosen insgesamt 174.600 Kühe, 90.500 Schweine und 420.400 Ziegen und Schafe für den persönlichen Gebrauch zur Verfügung.35 Es ist schwierig abzuschätzen, wieviele Tiere jeder Hof besaß, aber es ist unwahrscheinlich, daß viel mehr als die Hälfte der Höfe über eine Kuh für den eigenen Gebrauch verfügte.Die Kollektivierung hat die Struktur des Ackerbaus stark verändert. 1937 wurde doppelt so viel Land mit Flachs bebaut als noch neun Jahre zuvor, und auch der Anbau von Futterkulturen hatte sich erheblich gesteigert.36 Der Staat versuchte also, eine Art von Rationalisierung des Ackerbaus und der Viehzucht einzuführen, weil er das ländliche Gebiet der kalininschen Provinz als außerordentlich geeignet für den Flachsanbau und die Milchwirtschaft betrachtete. Überhaupt wurde 1937 viel mehr Land bebaut als 1928, was auf den langfristig projektierten Versuch der sowjetischen Regierung zurückzuführen sein dürfte, durch eine Vergrößerung des kultivierten Landes die Ackerbauergebnisse zu verbessern.37 Es ist merkwürdig, daß 1940 der Umfang des Ackerlandes viel kleiner war als noch drei Jahre zuvor; auch der Anbau von Flachs, Kartoffeln und Getreide war merklich zurückgegangen.38Noch kurz vor Kriegsausbruch, im Frühjahr 1940, wurden die Bauern von 41.593 khutor-Höfen - d.h. von landwirtschaftlichen Betrieben, deren Bewirtschafter zwar formell Kolchosen angehörten, aber immer noch eigene Häuser außerhalb der zentralen Kolchosedörfer besaßen - gezwungen, in Häuser der zentralen Kolchosenhöfe umzusiedeln. 39 Da sie fernab dieser kollektiven Siedlungen gewohnt hatten, waren sie wohl der angestrebten Rationalisierung der Landwirtschaft im Wege. Diese Zwangsumsiedlung kann als letzter Schritt der Kollektivierung angesehen werden. Sie betraf allein in der besagten Provinz vermutlich mehr als 160.000 Menschen.40Sicherlich vermitteln diese Zahlen nur ein unvollständiges Bild der historischen Wirklichkeit. Selbstverständlich müssen die Auswirkungen der Ezhovshchina und weiterer damit verbundener \"Säuberungen\" hinzukommen. Es läßt sich indes mit gewisser Wahrscheinlichkeit sagen, daß in der Provinz Tver die Kollektivierung größere Auswirkungen als die \"Säuberungen\" ab 1935 gehabt hat. Im Sommer 1992 führten im Auftrag des Verfassers zwei Professoren der Universität in Tver 110 Interviews mit Einwohnernwurde jedoch in den sowjetischen Statistikhandbüchern der fünfziger und sechziger Jahre ignoriert. Vgl. Altrichter, Die Bauern von Twer, a.a.O., S. 209 (Tabelle X). Die Guberniia des Jahres 1928 war etwas kleiner als die Provinz von 1956. Vgl. Kalininskaia oblast\' za 50 Jet v tsifrakh, a.a.O., S. 11. Die dortigen Angaben werden im predislovie zugrundegelegt, in: Narodnoe Khoziaistvo Kalininskoi Oblasti sti, a.a.O., S. 5. 34 Vgl. Altrichter, Die Bauern von Twer, a.a.O., S.209 (Tabelle X) und Narodnoe Khoziaistvo Kalinins-koi Oblasti, a.a.O., S. 43. 35 Vgl. Narodnoe Khoziaistvo Kalininskoi Oblasti, a.a.O., S. 44. 36 Ebenda, S. 26. 37 Vgl. beispielsweise Medvedev, Z.A.: Soviet Agriculture. New York, London 1987. S. 132f. undMertsalov, A.N.: Stalinizm i osveshchenie proshlogo, in: ders. (Hrsg.): Istoriia i stalinizm. Moskva 1991, S. 382-447, hier S. 402. Mertsalov spricht von einer Vergrößerungsmanie, die es unter Stalin ge-geben habe. 38 Narodnoe Khoziaistvo Kalininskoi Oblasti, a.a.O., S. 26. 39 Selin, Kalininskaia partiinaia, a.a.O., S. 447; Korytkov, N.G.: Kalininskoe selo: proshloe, nastoiash-chee, budushchee. Moskva 1978, S. 3lf. 40 D.h., wenn man davon ausgeht, daß ein durchschnittlicher Hof aus vier Personen bestand. K. N. Boterbloem: Stalinistische \"Säuberungen\" in der ProvinzJHK 1993 65der Provinz über ihre Erlebnisse in der Stalin-Zeit.41 Obwohl sich die Gespräche hauptsächlich auf Kriegs- und Nachkriegsereignisse konzentrierten, sprachen dennoch sehr viele, nach den persönlichen Erfahrungen mit der Stalinschen Unterdrückung befragt, vom Terror der Kollektivierung. Viel weniger war von erlebten Repressionen nach 1935 die Rede.42 Typisch ist vielleicht der Lebensweg von Mariia 1. Potemkina (Jg. 1912), einer Schullehrerin, die in dieser Zeit in der Nähe von Nelidovo auf dem Lande lebte. Ihr Vater, ein Arzt, wurde 1930 verhaftet, weil er \"einen Artikel[ ...] über die Übertreibungen der lokalen Behörden bei der Durchführung der Kollektivierung geschrieben hat\". Dennoch war sie damals der Ansicht, daß das NKWD und die OGPU unverzichtbare Organe seien. Ebenso wurde 1929 der Onkel von Antonina 1. Ryzhakova verhaftet, beinahe auch ihr Vater, weil beide vor der Revolution ein Stück Wald und etwas Land besessen hatten. Tatjana Novikova, eine Dorfbewohnerin aus dem Rayon Udoml\'ia, erfuhr von ihrem Ehemann von einer Verhaftung nach 1945 und berichtete von mehreren Arretierungen von Kulaken zur Zeit der Kollektivierung. In allen drei Fällen hatten die Befragten nichts über die \"Säuberungen\" in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahren mitgeteilt. So erinnerte sich auch Mariia N. Nadyseva (Jg. 1915), die während der Kollektivierung auf dem Lande lebte, zuvörderst an die \"Entkulakisierung\" sowie an die Erschiessung des Dorfgeistlichen. Nachdem sie 1937 nach Kalinin umgesiedelt war und angefangen hatte, als Textilarbeiterin zu arbeiten, bemerkte offensichtlich auch sie nicht viel von dem Terror, und sie ist sich erst heute dessen bewußt, wie schrecklich das System war. Der Vater Evgeniis A. Golubevs (Jg. 1930) wurde während der Kollektivierung verhaftet; Aleksandr Golubev weigerte sich, sich einer Kolchose anzuschließen, wurde dann arretiert und verschwand im Lager. Mariia V. Kornetova (Jg. 1917), eine Buchhalterin und zwischen 1933 (!) und 1951 Sekretärin eines Dorfsowjets, schätzte, daß in ihrem Dorf zwischen 1929 und 1933 ein Viertel der Einwohner \"entkulakisiert\" wurde, wobei ihr die Motive der sowjetischen Behörden unerklärlich blieben. Sie heiratete indes einen Mann, der in der Nachkriegszeit Angestellter des MWD war. Mit ihrem Ehemann lebte sie dann von 1951 bis 1954 in dem von Konzentrationslagern umringten Magadan, wo dieser im Stab des MWD-Heeres arbeitete. Sie hat, vielleicht verständlicherweise, niemals Angst davor gehabt, verhaftet zu werden. Interessant ist die Antwort von Sergei M. Volkov, als er gefragt wurde, ob er41 Herzlich danken möchte ich an dieser Stelle Herrn Professor Andrei Nikolaevich Sakharov, korrespondierendes Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, seinem Sohn, lgnatii Andreevich Sakharov, sowie den Professoren Vladimir Glebovich Osipov und Nikolai Nikolaevich Lukovnikov (Universität Tver) für ihre Hilfe bei den Interviews. Bei den Befragten handelt es sich um vor 193 l geborene Einwohner der Städte Tver und Vyshnii Volochek, der Dörfer rund um diese Städte bzw. der Rayone von Udoml\'ia und Konakovo. Die Umfrage ist teilweise der Tatsache geschuldet, daß die NKWD-Archive immer noch verschlossen und deshalb vermutlich sehr wichtige Quellen nach wie vor unzugänglich sind; auch die Vollständigkeit dieser Aktenbestände ist ungewiß. Vgl. beispielsweise Sakharov, A.: Memoirs. 2. Aufl., New York 1990. S. 531. Auf die \"weißen Flecken\" bei der Aufarbeitung der NKWD-Geschichte verweisen: Kotliarskaia, L.A./Freidenberg, M.M.: Iz istorii Tverskoi Kul\'tury. Anatolii Nikolaevich Vershinskii (1888-1944). Uchebnoe posobie. Tver 1990. S. 130 (Fußnote 40). Darüber hinaus ist es auch sehr wichtig, durch Umfragen die Erlebnisse und Erfahrungen der Provinzeinwohner zu dokumentieren. Denn auch mit der Hilfe von Archivquellen ist es oft unmöglich, einzuschätzen, was die einfachen Sowjetbürger, insbesondere außerhalb der Partei, in dieser Zeit gedacht und empfunden haben.42 Auch den Erlebnissen mit dem Terror der deutschen Besatzung kam eine zentrale Bedeutung zu. 66 JHK 1993Abhandlungendie eigene Verhaftung, die seiner Familie oder die von Freunden befürchtet habe. \"Es gab eine Furcht vor dem Unbekannten. Wenn wir damals gewußt hätten, daß Stalin hauptsächlich die Intelligenz und die Behörden \'gesäubert\' hat, und die Arbeiter [dann und wann verhaftet wurden, K.B.], nur um den Schein zu wahren, dann wären wir viel ruhiger gewesen.\" Volkov, Arbeiter in einer der Textilfabriken in Vyshnii Volochek, geht also davon aus, daß die \"Säuberungen\" - und hier sprach er nur von jenen, die nach seinem Geburtsjahr 1930 erfolgten - lediglich die Elite betrafen, mit dem durchschnittlichen Arbeiter aber nichts zu tun hatten. Auch der Schullehrer Petr M. Shepelev, 1928 auf dem Dorfe geboren, Studium in Kalinin, dann Lehrer in Vyshnii Volochek, gab auf die gleiche Frage eine ähnliche Antwort: \"Ich hatte Angst [arretiert zu werden, K.B.], weil die Behörde vor allem die Intelligentsiia festgenommen hat\". Obgleich einst Kommandant einer Abteilung der Roten Armee im Bürgerkrieg, wurde auch der Vater der Schullehrerin Nina N. Golubeva (Jg. 1921) schon 1933/34 als ehemaliger Offizier des zaristischen Heeres verhaftet. Er starb beim Bau des WolgaBaltischen Kanals.Die befragten Parteimitglieder scheinen ihre Verhaftung nur befürchtet zu haben, wenn sie überhaupt die Existenz von Repressionen einräumten. In solchen Fällen nannten sie oft die Periode ab 1936. Dies gilt auch für Anastasiia V. Kruglova (Jg. 1910), seit 1939 Parteimitglied. Sie wies darauf hin, daß viele ihrer Landsleute zwischen 1936 und 1951 wegen Sabotage (vreditel\'stvo) verhaftet wurden. Auch sie selbst habe in dieser Zeit ständig mit ihrer Arretierung gerechnet. Wie auch Chruschtschow auf dem XX. Parteikongreß der KPdSU 1956 geht sie davon aus, daß das NKWD sich nur seit 1937 ungerechter Verfahren schuldig gemacht habe. Mariia A. Golubeva (Jg. 1916), eine Buchhalterin, Einwohnerin der Stadt Kalinin, wurde 1946 Parteimitglied. Obwohl sie von einer 1937 erfolgten Verhaftung eines Verwandten ihres Mannes gewußt hatte (der Verhaftete arbeitete als technischer Direktor eines Unternehmens zur Herstellung von Eisenbahnwaggons), befürchtete sie keine Festnahme. Denn als \"ehrliche Angestellte\" sei sie weder wichtig gewesen noch habe sie sich etwas zu Schulden kommen lassen. Der Parteiapparatschik Ivan 1. Tiaglov (Jg. 1916) wurde 1937 als Volksfeind angeklagt und hatte danach Glück gehabt. Die Anklage wurde zurückgenommen, und Tiaglov machte in der Partei Karriere. Er wurde Anfang der fünfziger Jahre erster Rayonparteisekretär im Rayon von Krasnokholm und war zwischen 1962 und 1966 Mitglied des Obersten Sowjets der UdSSR. Auch dem Parteimann Aleksandr A. Kondrashov (Jg. 1911) war 1937 das Glück hold, nachdem er in Torzhok auf einer Rayonparteikonferenz verhaftet worden war. Trotzdem konnte er später eine Parteikarriere machen und wurde zuletzt 1959 Sekretär des Obkoms in Kalinin. Erwartungsgemäß hinterließen die \"grossen Säuberungen\" bei den Parteianhängern einen stärkeren Eindruck als die Ereignisse Anfang der dreißiger Jahre. Vielleicht waren manche Befragte aber auch noch zu jung gewesen oder hatten fest daran geglaubt, in der Zeit der Kollektivierung persönlich nichts befürchten zu müssen. Einige, mit und ohne Parteibuch, behaupteten, von allem überhaupt nichts gewußt und bemerkt zu haben, während andere darauf hinwiesen, daß dies beispielsweise im Falle der Konzentrationslager gänzlich unmöglich gewesen seindürfte. Manche Befragte, besonders aus ländlichen Regionen, scheuten sich jedoch offen-kundig, einem Unbekannten - möglicherweise auch gegen sie selbst verwertbare - Informationen über diese Zeit mitzuteilen. Und Valentina 1. Gaganova beispielsweise, eine K. N. Boterbloem Stalinistische \"Säuberungen\" in der Provinz _ _ _ _ _ _ _ _ _ _JHK 1993 6767_vorbildliche Textilarbeiterin der Chruschtschow-Zeit, ist auch heute noch eine Anhängerin des Sowjetsystems und glaubt nach wie vor, zu sozialistischen Zeiten gut gelebt zu haben, obwohl ihr Vater 1939 :1ufgrund zu geringer Arbeitsleistungen verhaftet und acht Monate festgehalten worden war. Zusammenfassend kann man dennoch sagen, daß der durchschnittliche Sowjetbürger in der Tverer Provinz zwischen 1929 und 1953 fast ohne Ausnahme mit der staatlichen Schreckensherrschaft konfrontiert worden ist, wobei der Terror nicht nur in den Jahren von 1936 bis 1938 erfahrbar war. Im Grunde war diese Periode nur für die KPdSU-Mitglieder und für die Angehörigen der Sowjetelite besonders einschneidend, was aber nicht heißt, daß während dieser Zeit die ländliche Bevölkerung unbehelligt geblieben ist. Den Interviews zufolge scheint während der dreißiger Jahre die Situation für die Fabrikarbeiter im großen und ganzen noch am erträglichsten gewesen zu sein, weil sie zumeist von den Repressionsmaßnahmen verschont blieben.43 Einige Befragte hatten sich geweigert, Mitglied der Partei zu werden, obwohl ihnen dies angetragen wurde. Es war zweifellos nicht die schlechteste Strategie, so wenig wie möglich aufzufallen.Ein ähnliches Beispiel findet sich auch in dem ehemaligen Parteiarchiv in Tver. So bat ein gewisser Lifshits im Juni 1937 während einer Diskussion über die vorgeschlagenen Kandidaten für das neue Provinzparteikomitee (Obkom) darum, ihn von der Kandidatenliste zu streichen, weil er mit seiner Arbeit in drei anderen Parteikomitees schon genug beschäftigt sei.44 Auf Vorschlag des ersten Parteisekretärs der Provinz, Mikhailov, kamen die Konferenzdelegierten diesem Wunsch nach. Tatsächlich dürfte Lifshits aber nur deshalb auf eine Mitgliedschaft im Provinzparteikomitee verzichtet haben, weil zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Mitglieder verhaftet worden waren. Es ist nicht bekannt, ob Lifshits die \"Säuberungen\" überlebt hat.Es ist schwierig festzustellen, inwieweit die Bevölkerung über die Verhaftungen und die sonstigen Repressionen informiert war. Zurückblickend stellen heute einige Historiker aus Tver fest: \"Welche Gerüchte gab es über diese fürchterliche Arbeit und wie weit drangen sie ein in das Volk? Wir wissen es nicht. Und das Schrecklichste war wahrscheinlich, daß die Leute gleich neben dieser unmenschlichen mörderischen Maschine lebten, arbeiteten, Kinder zur Welt brachten, und sich langsam an sie gewöhnten.\"45Die Parteisäuberungen in der Provinz Kalinin begannen im Frühjahr 1937. So sagte der Vorsitzende des Komsomol ein gewisser Brandin, anläßlich der zweiten Parteikonferenz der Provinz im Juni 1937: \"[n der letzten Zeit sind in unserer Provinzorganisation eine ganze Reihe von Fakten entdeckt worden, denen zufolge Volksfeinde nicht ohne Erfolg versucht haben, die Komsomolzen für die Durchführung konterrevolutionärer Arbeit zu gebrauchen. Auf diese Weise wurden zum Beispiel im Oktiabr\'-Rayon im Holzkombinat eine Gruppe von Komsomolzen unter der Leitung eines hitlergetreuen Komsomolzen entdeckt,[ ...] im Grunde eine Untergrundorganisation, die im Werk lange Zeit Zersetzungsarbeit betrieben hat. Am Pädagogischen Technikum im Rayon von Kimry ist43 Dies ist selbstverständlich nicht völlig geklärt. Bei Rybakov (Ryhakov, A.: Fear. Boston, Toronto, London 1992. S. 489) ist es beispielsweise schwierig, Wahrheit und Erfindung zu trennen, weil es sich um einen Roman handelt. Angesichts der sonstigen Ereigni.sse in der Provinz scheint es sehr gut möglich zu sein, daß 1937 tatsächlich einfache Arbeiter der \"Proletarka\"-Textilfabrik verhaftet wurden.44 Vgl TTDNI, 147/1/527, L. 103 45 Kotliarskaia, L.A./Freidenbcrg, M.M.: 17 istorii Tverskoi Kul\'tury. Anatolii Nikolacvich Vershinskii( 1888-1944). Uchebnoe posobic. Tver 1990. S. 130. 68 JHK 1993Abhandlungeneine Gruppe von drei Leuten entdeckt worden - alle drei Mitglieder des [Komsomol-, K.B.] Komitees -, die unter den Studenten konterrevolutionäre Propaganda betrieben haben. In Kalinin, in der medizinischen Arbeiterfakultät ist eine Gruppe von Komsomolzen unter der Leitung von Sergeev entdeckt worden, die es geschafft hat, die Organisation aufzubrechen. Der Feind hat die Komsomolorganisation der medizinischen Arbeiterfakultät in eine Situation des organisatorisch-politischen Zerfalls geführt. Ich könnte diese Art von Fakten, von Fakten über die Arbeit des Feinds, fortführen.\"46 Brandin fügte hinzu, daß Kaganovskii, der Komsomolführer des Okrugs von Welikie Luki, und die Mitglieder des Okrugkomiteebüros des Komsomol dem Volksfeind Enov Beihilfe geleistet hätten,47 worauf sie offenkundig aus der Organisation ausgeschlossen wurden. Ein anderes wichtiges Mitglied des Komsomol, Shor, wurde als Teilnehmer der trotzkistischen Untergrundorganisation in der Sowjetunion \"entlarvt\" .48 In der Rede Brandins sind auch einige interessante Fakten über die allgemeine Lage der Komsomolzen in der Provinz zu finden. Wie bereits erwähnt, war die Bevölkerung der Provinz von Kalinin noch immer größtenteils in der Landwirtschaft beschäftigt. Dennoch war die Partei auf dem Land nur schwach vertreten, weshalb der Komsomol dort Parteifunktionen übernehmen mußte.49 Jedoch war auch der Komsomol in den ländlichen Gebiete nur unzulänglich organisiert und gewachsen:50 Von insgesamt ungefähr 14.000 Kolchosen hatten nur 2.660 Komsomolzellen.Die ehemalige Parteisekretärin der Provinz, AS. Kalygina, ZK-Kandidatin, war schon vor dem Juni 1937 einer Parteisäuberung zum Opfer gefallen.51 Der Vorsitzende des Vollzugskomitees des Oblastsowjets, V.F. Ivanov, verschwand kurz vor oder während der zweiten Parteikonferenz; er soll 1938 im Alter von drei- oder vierundvierzig Jahren gestorben sein.52 Vermutlich ist auch er ein Opfer der \"Säuberungen\" geworden. N.I. Goliakov, ein Mitglied des Stadtparteikomitees von Kalinin, der auf dieser Konferenz in das Parteibüro gewählt worden war, aber schon am 26. August aus der Partei ausgeschlossen wurde, kritisierte Kalygina und Lipshits für deren Versuche, zu ihrer46 TTDNI, 147/1/526, L.82. Vgl. auch Fainsod, Smolensk under Soviet Rule, a.a.O., S. 424. 47 TTDNI, 147/1/526, L.83. 48 Ebenda, L.84. 49 Offiziell gab es im Juli 1938 nur 5.026 Kandidaten und Mitglieder der Partei, die unmittelbar auf demLande aktiv waren. Im April 1939 gab es 6.670 Kommunisten auf dem Lande (1940: knapp 10.000), die in 827 primären Parteiorganisationen integriert waren. Vgl. Selin, Kalininskaia partiinaia, a.a.O., S. 444. Es sei nochmals darauf hingewiesen, daß die ländliche Bevölkerung Ende 1939 bei fast 1.900.000 lag. 50 TTDNI, 147/1/526, L.91. 51 Kostiukovich/Orlov, Kalininskaia partiinaia organizatsiia v bor\'be za zavershenie sotsialisticheskoi rekonstruktsii narodnogo khoziaistva, a.a.O., S. 383 und TTDNI, 147/1/526, LL.216-219. Sie wird als Opfer der Säuberungen genannt in Medvedev, R.: Let History Judge. The Origins and Consequences of Stalinism. Revised and Expanded Edition. Edited and translated by George Shriver. New York 1989. S. 409. Es mutet unheimlich an, daß sie, ähnlich wie Mikhailov später, erst 1936 offiziell nach Woronezh übergesiedelt war. Vgl. Ocherki istorii kalininskoi organizatsii KPSS, a.a.O., S. 703. Dieser offiziellen Information zufolge starb sie 1937. Zusammen mit ihr und einem gewissen Lipshits wurde wahrscheinlich eine ganze Gruppe, ihre \"Klienten\", die angeblich manchmal von ihr und Lipshits bestochen wurden, von Parteimitgliedern verhaftet. 52 Ocherki istorii kalininskoi organizatsii KPSS. a.a.O. prilozhenie 2. S. 703. K. N. Boterbloem: Stalinistische \"Säuberungen\" in der ProvinzJHK 1993 69Unterstützung Parteimitglieder zu bestechen.53 Guzenko, ein Mitglied des Provinzkomitees, der bereits im Mai als Volksfeind und Konterrevolutionär ausgeschlossen worden war, wurde von Goliakov als ein Empfänger dieser Geldmittel benannt,54 auch die Parteiorganisatoren der Eisenbahnwaggonfabrik seien durch die beiden bezahlt worden. Demnach hatten die \"Säuberungen\" auch schon in dieser Fabrik angefangen.55 Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß im Laufe jenes Jahres auch der technische Direktor, ein Verwandter von Mariia Golubeva, verhaftet worden war. Nach Ansicht Goliakovs hätten die Trotzkisten den Stadtsowjet von Kalinin unter ihre Kontrolle gebracht;56 der Vorsitzende, Novikov, das politische Vertrauen der Partei deshalb verloren, weil sein erster und zweiter Vertreter sowie der Vorsitzende der Transportabteilung des Sowjets als Trotzkisten entlarvt worden seien. Die schlechte Wasserversorgung und die stockenden Bauprojekte seien auf die Sabotageaktivitäten jener Leute zurückzuführen.Darüber hinaus wurden 1937 mehrere Angestellte des Vollzugskomitees des Provinzsowjets verhaftet.57 Auch die unzureichende Effizienz der Finanz- und der inneren Handelsabteilung, die zu Mängeln geführt hatte, wurde von Goliakov auf diese einfache Weise \"erklärt\". Sicherlich versuchte Goliakov, mit seiner Rede die eigene Haut zu retten. Obwohl er mit den Beschuldigten zusammengearbeitet hatte, beteuerte er, nichts von deren Aktivitäten gewußt zu haben und zeigte sich darüber hinaus über die Aufdeckung dieser \"Volksfeinde\" ebenso überrascht wie entsetzt. Sein Versuch scheiterte jedoch, innerhalb von drei Monaten wurde auch er verhaftet. Die von Goliakov Denunzierten wurden gleichwohl zu universell verwendbaren Sündenböcken, die jedwede Fehlentwicklung zu verantworten hatten. Die wirtschaftliche Situation in der Provinz Kalinin verbesserte sich dadurch in den Jahren 1939/40 natürlich nicht.Die zweite Parteikonferenz fand im Juni 1937 statt, also zu einem Zeitpunkt, als die \"Säuberungen\" auch die höheren Schichten der Roten Armee erfaßten.58 So sagte der lokale Armeeführer Khro(a)menko am 5. Juni: \"Sie wissen, daß sie [d.h. Spione, Volksfeinde, Diversanten, K.B.] nicht nur in die unteren Reihen eingedrungen sind, in die unwichtige Arbeit, sondern selbst das Haupt der politischen Verwaltung der Armee, Gamarnik, hat sich als einer dieser Volksfeinde herausgestellt.\"59 Er dankte dem NKWD für seine Aufmerksamkeit und gab seiner Hoffnung Ausdruck, daß die nunmehr gereinigte Armee ihre Tätigkeit fortführen könne.60 Er sollte natürlich nicht Recht behalten. Denn diese Verhaftungen waren nur der Anfang einer großen Säuberungswelle.53 TTDNI, 147/1/526, L.216. Zu der Wahl von Goliakov vgl. TTDNI, 147/1/528, L.84, zu seinem Ausschluß TTDNI, 147/1/528, L.120. Er wurde übrigens als erster zu einer anderen Arbeitsstelle außerhalb der Provinz versetzt. Vgl. TTDNI, 147/1/528, L.92.54 TTDNI, 147/1/526, L.217 und TTDNI, 147/1/528, L.81. 55 TTDNI, 147/1/526, L.217. 56 Ebenda,L. 225. 57 Ebenda, LL.225/226. 58 Vgl. TTDNI, 147/1/525, 147/1/526, 147/1/527. Die Konferenz fand vom 2. bis zum 7. Juni 1937 statt.Woroshilow machte die Verhaftungen und Geständnisse der Kommandanten am 13. Juni 1937 publik. Vgl. beispielsweise Heller, M./Nekrich, A.: Utopia in Power. The History of the Soviel Union from 1917 to the Present. New York 1986. S. 304 Fainsod gibt an, daß die Prawda schon am 10. Juni 1937 über die Tuchatsjewski-Hinrichtung berichtet hat. Vgl. Fainsod, Smolensk under Soviel Rule, a.a.O., S. 59. Gleichzeitig fand auch in der Provinz Smolensk eine Parteikonferenz statt, und zwar die fünfte. Vgl. ebenda, S. 59. 59 TTDNI, 147/1/526, L.229. 60 TTDNI, L. 230. 70 JHK 1993AbhandlungenWir kennen den weiteren Lebensweg von Khro(a)menko nicht, weil er schon innerhalb von zwei Monaten zu einer anderer Arbeit außerhalb der Provinz versetzt wurde, obwohl er erst im Juni zum Kandidaten des Obkombüros gewählt worden war.61 Aber wahrscheinlich war dieser Arbeitsplatzwechsel der Anfang vom Ende, denn in den meisten anderen Fällen war eine solche \"Ernennung\" ein Zeichen für eine baldige Verhaftung. Dies trifft übrigens auch auf den ersten Parteisekretär Mikhailov zu.62Über den Letzteren ist dank des Romanzyklus von Anatoli Rybakow über die dreißiger Jahre etwas mehr bekannt. Der Protagonist Rybakows, Sascha Pankratow, erinnerte sich an Mikhailov als er aus dem Exil zurückkehrte.63 1935 war er zum ersten Parteisekretär der Provinz von Kalinin ernannt worden.64 Er war damals Kandidat des Zentralkomitees und Mitglied des zentralen Vollzugskomitees des Sowjets; zuvor hatte er als Parteisekretär des Moskauer Provinzkomitees gearbeitet.65 1919 war Mikhailov im Alter von 17 Jahren in die Partei eingetreten und scheint in den zwanziger Jahren in Moskau gelebt zu haben.66 Nach Rybakow war sein Familienname ein Pseudonym, was sehr wahrscheinlich ist, weil sein Vater Efim hieß, ein jüdischer Name, während Mikhailov einen russischen trug.67 Ebenso wie Pankratow verließ Mikhailow die Stadt, als zahlreiche Verhaftungen stattfanden.68Am 6. Juni ging die Konferenz mit der Diskussion über die Kandidatenliste für das neue Obkom weiter.69 Alle Kandidaten wurden verpflichtet, eine kurze Biographie zu erstellen, in der auch anzugeben war, ob sie jemals eine Parteiopposition unterstützt hatten. Erwartungsgemäß war dies bei der großen Mehrheit eigenem Bekunden zufolge nicht der Fall. Dennoch verloren die meisten rasch ihre Positionen.70 Als am 8. Juni 1937 das erste Plenum des neugewählten Obkoms stattfand, waren von den 88 Mitgliedern und Kandidaten nur zwei nicht anwesend.71 Ein Jahr später, am 6. Juli 1938, trat das erste, von der dritten Provinzparteikonferenz gewählte Plenum des Obkoms zusammen. Nunmehr waren unter den 68 Mitgliedern und Kandidaten aber nur noch sechs alte Namen wiederzufinden.72 Vier weitere ehemalige Mitglieder wurden ab Juli 193861 TIDNI,147/1/528, L.92. 62 Nur einen Monat nach der zweiten Provinzkonferenz von Kalinin im Juli 1937 wurde er zum erstenParteisekretär der Woronezh-Provinz ernannt, dann im Dezember 1937 aus dem Obkom Kalinins als ein vom ZK \"enttarnter\" Volksfeind und Mitglied einer antisowjetischen Organisation ausgeschlossen. Er soll 1938 gestorben sein. Vgl. TTDNI, 147/1/528, L.89 und 147/1/529, L.5, vgl. auch Ocherki istorii kalininskoi organizatsii KPSS, a.a.O, prilozhenie 2. S. 705. 63 Rybakov, Fear, a.a.O., S. 451. 64 Ebenda; Kostiukovich/Orlov, Kalininskaia partiinaia organizatsiia v bor\'be za zavershenie sotsialisticheskoi rekonstruktsii narodnogo khoziaistva, a.a.O., S. 385. 65 Ebenda, S. 382. 66 Ocherki istorii kalininskoi organizatsii KPSS, a.a.O., prilozhenie 2. S. 705.67 Vgl. Rybakov, Fear, a.a.O., S. 555. 68 Ebenda, S. 683. 69 Vgl. TTDNI, 147/1/527 LL.2-201. 70 Vgl. TTDNI, 147/1/528, L.83 und 147/1/529, L.34. 71 Nur M.I. Petrova, die als Kandidatin gewählt wurde, und 1.1. Sokolov wurden nicht ins Protokoll auf-genommen. Folglich wurden insgesamt 88 Kandidaten und Mitglieder ins Obkom gewählt. Zur Wahl von Petrova vgl. TTDNI, 147/1/528, L.84. Zu Sokolov vgl. Protokol No. 2 (8. Juli 1937) oder No. 3 (26. Juli 1937), in: TTDNI, 147/1/528, L.88 oder 147/1/528, L.91. Er wurde am 28. Dezember ausgeschlossen, und sein Fall dem NKWD übertragen. Vgl. TTDNI, 147/1/529, L.5. 72 Nämlich I.P. Volchenkov, erster Parteisekretär des Oktiabr\'-Rayons der Stadt Kalinin (im Oktober 1938 jedoch vom NKWD verhaftet), D.I. lvanov, I.la. Kalinin (im Dezember 1938 aufgrund großer K. N. Boterbloem: Stalinistische \"Säuberungen\" in der ProvinzJHK 1993 71Vorsitzende von Obkomabteilungen,73 wobei unklar ist, ob sie dann auch als Obkommitglieder galten. P.P. lzvekov, am 8. Juni 1937 als Rayonsekretär anwesend, nicht jedoch als Mitglied oder Kandidat, wurde im Juli 1938 zum Mitglied gewählt, wie auch einige andere Rayonsekretäre oder Abteilungsleiter.74 Höchstens fünf Funktionäre, die im Juni 1937 auf dem ersten Plenum zwar nicht anwesend waren, aber möglicherweise schon damals oder kurze Zeit später die Positionen von Rayonsekretären bekleideten, wurden auf der dritten Parteikonferenz befördert.75 Kurzum: Das Mitte 1937 gewählte Obkom war innerhalb von dreizehn Monaten fast völlig verschwunden. Aus den Akten des Parteiarchivs geht zwar nicht hervor, wieviele Funktionäre umgebracht worden sind, doch bei einigen ist zumindest die Verhaftung verbürgt. Am 8. Juli 1937 wurde der erste Sekretär Mikhailov vom ZK zum ersten Sekretär der Woronezh-Provinz, sein bisheriger Stellvertreter, der zweite Sekretär P.G. Rabov, zu seinem Nachfolger ernannt.76 Ein anderes Vollmitglied des Obkombüros, G.S. Peskarev, wurde erster Parteisekretär der Provinz Kursk. Zwei Kandidaten wurden zu vollberechtigten Obkom-Mitgliedern, einer aus demselben ausgeschlossen und anschließend unzweifelhaft vom NKWD verhaftet.77Schon innerhalb von zwanzig Tagen fand ein weiteres Obkomplenum statt: 78 LA. Chukanov, bisher erster Parteisekretär des Okrugs von Opochetskii im Westen der Provinz, wurde zweiter Sekretär als Nachfolger von Rabov. G.N. Mishnaevskii, ein Büromitglied, das für die Landwirtschaft verantwortlich gewesen war, verließ die Provinz, um andernorts \"führende\" Arbeit zu leisten.79 Vermutlich wurde er als Vorsitzender der Provinzverwaltung für die Landwirtschaft gestürzt, weil er in seiner Rede auf der zweiten Parteikonferenz auf zahlreiche Fehler in der Landwirtschaft verwiesen hatte, für die er, nach Ansicht der Partei, letztendlich selbst verantwortlich war.80 Daneben verließen auch Büromitglied Goliakov, der \"Säuberer\" der zweiten Parteikonferenz, und Khramenko, der Armeekommandant, die Provinz, um anderweitige Aufgaben zu übernehmen. 81 Auf diese Weise wurden innerhalb von zwei Monaten schon fünf der sechzehn Kandidaten und Mitglieder des Obkombüros, das am Ende der zweiten Parteikonferenz gewählt worden war, durch das ZK-Sekretariat ausgesiedelt.82 Wenn es sich dabei umpolitischer Fehler aus der Partei ausgeschlossen}, L.A. Mashkova, M.Ia. Petrova (sie verlor jedoch ihre Position im Parteibüro) und A.A. Shavaleva. Vgl. TTDNI, 147/1/528, L.83 und 147/1/529, L.34. Zu den Fällen Volchenkov und Kalinin vgl. TTDNI, 147/1/529, L.46, 50, 53 und 64. 73 Die vier waren T.M. Il\'ichev, F.I. Lysenkov, N.E. Kapranov und P.I. Chukhrov. Vgl. TTDNI, 147/1/528, L.83 und 147/1/529, L.35. 74 Zu Izvekov vgl. TTDNI 147/1/528, L. 84 und 147/1/529, L.34. Die andere sind G.D. Bulagin (vgl. beispielsweise TTDNI 147/1/528, L.124 und 129), F.M. Bulakhov (vgl. TTDNI 147/1/528, L.88), 1.1. Moiseev (vgl. TTDNI 147/1/528, L.129), M.M. Romashev (vgl. TTDNI 147/1/528, L.88) und A.S. Savvin, der jedoch später auch ausgeschlossen wurde (siehe TTDNI 147/1/528, L.129). 75 Es ist unsicher, ob Vinogradov und Komarov, nach Juli 1938 Rayonsekretäre, mit den einstigen Mitgliedern P.K. Vinogradov und D.E. Komarov identisch sind. Vgl. TTDNI, 147/1/528, L. 83 mit TTDNI 147/1/529, LL. 46 und 53. 76 TTDNI, 147/1/528, L.89. 77 Mitglieder wurden F.G. Klimenko und LF. Bulygin; A.A. Deviatkin wurde ausgeschlossen. 78 TTDNI, 147/1/528, L.92. 79 TTDNI, 147/1/527, L.4 und 147/1/526, L.66. 80 TTDNI, 147/1/526, LL.66-74. 81 TTDNI, 147/1/528, L.92. 82 Auf dem ersten Plenum des Obkoms wurden G.V. Voskanian, Herausgeber der Provinzzeitung \"Proletarskaia Pravda\", N.I. Goliakov, V.P. Dombrovskii, NKWD-Chef, M.B. Kuzenits, P.P. Kurnaev, M.E. 72 JHK 1993Abhandlungenkeine Erfindung Rybakows handelt, dann wurde es in dieser Zeit ehemaligen Häftlingen und Verbannten verboten, in der Stadt Kalinin zu wohnen.83 Dabei muß es sich um sehr viele Menschen gehandelt haben, da die Stadt an der Oktobereisenbahn zwischen Moskau und Leningrad liegt, also beliebt gewesen sein muß. Etwas später wurde A.M. Amosov als Volksfeind und Mitglied einer antisowjetischen Organisation ausgeschlossen. 84 Der eifrige \"Säuberer\" Goliakov wurde am 26. August ausgeschlossen, wahrscheinlich noch bevor er mit seiner neuen Arbeit angefangen hatte.85 M.V. Slonimskii, Polizeichef und NKWD-Mitarbeiter, wurde am 1. September 1937 aus der Partei und dem Obkom ausgeschlossen - als Trotzkist und wegen seiner Verbindung mit \"Volksfeinden\".86In dieser Zeit - im Juli 1937 - wurde durch eine Verordnung von Ezhov eine sogenannte Troika ernannt, die die \"Säuberungen\" in der Provinz durchzuführen hatte:87 Ihre Mitglieder waren der erste Parteisekretär Rabov, der NKWD-Leiter Dombrovskii und der Provinzstaatsanwalt Bobkov.88 Es scheint dieser Troika aufgetragen worden zu sein, eine bestimmte Anzahl von \"kriminellen und kulakischen\" Elementen durch das NKWD verhaften zu lassen.89 Ein halbes Jahr später legte das ZK eine zusätzliche Quote von 2.000 Verhaftungen in der Provinz Kalinin innerhalb von nur sechs Wochen fest.Am 10. und 11. September 1937 fand bereits das vierte Plenum des Obkoms seit der zweiten Konferenz statt.90 Der Fall von A.V. Gorlov wurde vom Plenum an das Büro überwiesen. Auch andere spezielle Akten, die leider im ehemaligen Parteiarchiv in Tver nicht auffindbar waren, wurden diskutiert. V.I. lvanov wurde zum dritten Parteisekretär und Mitglied des Büros gewählt, I.F. Gusikhin, vorher nur Kandidat des Obkoms, zumMikhailov, G.N. Mishnaevskii, G.S. Peskarev, M.F. Pitkovskii, P.G. Rabov und LA. Chukanov als Vollmitglieder des Obkombüros gewählt. E.E. Alekseevskii, Leiter der Obkom-Landwirtschaftsabteilung, G.l. Krul\', M.Ia. Petrova, K.A. Gadbank, Leiter der Obkomabteilung für Industrie und Transport, und A.N. Khramenko wurden zu Kandidaten gewählt. Vgl. TTDNI, 147/1/528, L.84. Obkombüromitglieder gehörten der Nomenklatura des ZK an. 83 Vgl. Rybakov, Fear, a.a.O., S. 497, S. 680. Vgl. auch den Brief von N.D. Danilova \"My byli \"shchepkami\", in: Samsonov, A.M.: Znat\' i pomnit\'. Dialog istorika s chitatelem. Moskva 1989. S. 44f. Nachdem Danilova in den vierziger Jahren aus dem Lager entlassen worden war, war es ihr nicht erlaubt, in insgesamt 39 Städten der UdSSR zu leben, wahrscheinlich war Kalinin eine davon. 84 TTDNI, 147/1/528, L.114. Wie auch in den Fällen Goliakov und Slonimskii (vgl. unten) wurde die Entscheidung seines Parteiausschlusses dem Protokoll des Plenums vom 26. Juli beigefügt. Offiziell scheint der Ausschluß aber erst nach einer Abstimmung unter den Obkommitgliedern vollzogen worden zu sein. Vgl. TTDNI, 147/1/528, L. 91. 85 Ebenda, L.120. Es ist seltsam, daß ihn die Partei in Kalinin ausschließen sollte, denn er war dort offiziell überhaupt kein Mitglied mehr. Das gleiche geschah - mit größerer Verspätung - auch im Fall von Mikhailov. Recht wahrscheinlich ist, daß beide ihre neuen Arbeitsplätzen überhaupt nicht antreten konnten oder nur sehr kurz dort gearbeitet haben. Stattdessen sind sie vermutlich sofort oder kurze Zeit später verhaftet worden. Eine ähnliche Vorgehensweise ist auch bei Tukhachevskii, Iagoda und Ezhovbekannt. 86 Ebenda, L.122 und 147/1/594, L.2; Medvedev, Let History Judge, a.a.O., S. 426. 87 Gevorkian, N.: Vstrechnye plany po unichtozheniiu sobstvennogo naroda, in: Moskovskie Novosti,No.25, 21 Iiunia 1992 g., S. l8f. 88 Bobkov wurde im Juli 1938 von I.P. Boitsov denunziert. Vgl. TTDNI, 147/1/554, L.95. Obwohl er ei-ne wichtige Funktion hatte, wurde er niemals ins Obkom gewählt. Dombrovskii wurde zwischen Juli 1937 und Juli 1938 als Volksfeind \"entlarvt\". Vgl. TTDNI, 147/1/554, L.120 und 147/1/594, L.2, sowie Medvedev, Let History Judge, a.a.O., S. 426. 89 Gevorkian, Vstrechnye plany, a.a.O., S. 18f. 90 TTDNI, 147/1/528, LL.124/125. K. N. Boterbloem: Stalinistische \"Säuberungen\" in der ProvinzJHK 1993 73vollberechtigten Mitglied und gleichzeitig zum Vollmitglied des Büros. R.A. Briskina hatte andere Arbeit außerhalb der Provinz bekommen und verlor ihre Funktion als Leiterin der Obkomabteilung für die Presse und das Verlagswesen. V.V. Lezin wurde ihr Nachfolger. L.F. Bulygin, der nur kurz zuvor befördert worden war, wurde nun als \"Volksfeind\" und Mitglied einer konterrevolutionären Organisation aus dem Obkom ausgeschlossen. M.F. Pitkovskii wurde von seinen Pflichten als Büromitglied befreit, ohne bereits als \"Volksfeind\" bezeichnet zu werden. Den Leiter der Provinz-Konsumgesellschaft, F.G. Klimenko, schloß man wegen angeblicher Mängel bei der Führung dieser Gesellschaft, insbesondere wegen Verschwendung von Mitteln der Kooperative, aus. Der Leiter der Abteilung für Propaganda und Agitation, V.A. Tomashevich, verlor ebenfalls seinen Sitz im Obkom, weil die Leistungen seiner Abteilung sich nicht verbessert, sondern eher verschlechtert hatten. Weiter warf man ihm vor, nicht aktiv genug die Volksfeinde bekämpft und damit einen Fehler wiederholt zu haben, den er schon im Rahmen seiner früheren Funktionen im ZK-Apparat von Weißrußland und im Stadtkomitee von Gomel\' begangen haben soll.91 P.E. Ivanov wurde aus dem Obkom ausgeschlossen, weil er empfohlen hatte, den \"Volksfeind\" Grai (Sokolov) zum vollberechtigten Parteimitglied zu machen, und sich zudem bei der \"Entlarvung\" von konterrevolutionären Elementen zu passiv verhalten habe. Schließlich wurde auch D.A. Rozenko aus seinen Pflichten als Obkommitglied entlassen, weil er die Parteiorganisation von Kalinin verließ.Am 5. Oktober 1937 fand das fünfte Plenum statt.92 Nun verließ der erst kürzlich gewählte zweite Provinzsekretär, LA Chukanov, die Oblast, weil er eine leitende Funktion in einer anderen Provinz bekommen hatte. S.la. Vershinin wurde aus dem gleichen Grund seiner Pflichten entbunden. A.V. Guminskii, der neue Leiter des NKWD für die Provinz, wurde ins Obkom kooptiert, wofür man beim ZK um eine Bestätigung bat. Weiterhin wurden neun Kandidaten zu vollständigen Mitgliedern des Obkoms gemacht.93 V.I. Ivanov stieg vom dritten zum zweiten Provinzsekretär auf, I.Ia. Kalinin wurde dritter Sekretär und gleichzeitig zusammen mit A.V. Guminskii sowie T.M. ll\'ichev in das Büro gewählt.94 T.A. Nodel\', bisher Leiter der Obkomabteilung für Schule, Wissenschaft und wissenschaftlich-technologische Erfindungen, wurde entlassen und durch I.P. Telezhkin ersetzt.A.V. Gorlov, der schon früher verdächtigt worden war, wurde im September oder Oktober als \"Volksfeind\" und Mitglied einer antisowjetischen Organisation ausgeschlossen.95 Ende Oktober wurde R.M. Iarishkin, nachdem er bereits durch das NKWD verhaftet worden war, aus dem Obkom als \"Volksfeind\" ausgeschlossen.96 Mitte November verloren die Büromitglieder Kuzenits und Alekseevskii ihre Funktionen.97 Die Lawine schob sich Ende Dezember weiter, als unter anderen Mikhailov und Borodachev nach91 Zu seinem Nachfolger als Abteilungsleiter wurde umgehend F.I. Lysenkov ernannt, vgl. ebenda, L.125.92 Ebenda, LL.128-130. Irrtümlicherweise wird im Delo als Datum der 5. September angegeben. 93 Und zwar N.B. lvushkin, N.T. Afonin, V.F. Nikiforov, N.V. Nikonov, 1.P. Telezhkin, I.Ia. Kalinin,S.A. Novichkov. K.F. Abramov und P.K. Aseev. 94 Il\'ichev war vom vierten Plenum im September zum Haupt der Obkomabteilung für führende Parteior-gane ernannt worden (Siehe TTDNI, 147/1/528, L.125). 95 Ebenda, L.140. 96 Ebenda, L.142. 97 Ebenda, L.144. 74 JHK 1993Abhandlungenihrer \"Entlarvung\" durch das ZK ausgeschlossen wurden.98 Auch Volkov, Rayonsekretär des Rayons von Kamen, und Nazarov hatten das \"politische Vertrauen verloren\"; ihre Akten wurden zunächst dem Komitee für Parteikontrolle überreicht, was sie vielleicht noch retten konnte. Sokolov hatte aber weniger Glück, denn seine Akte wurde unmittelbar dem NKWD zugestellt. Der Grund für den Ausschluß des Kandidaten Krysov war auf dieser Parteiebene zu jener Zeit etwas außergewöhnlich, denn er hat angeblich der Partei seine Herkunft aus einer Kulakenfamilie verborgen. Ferner soll er in seinem Rayon aktiv gewordenen Volksfeinden geholfen haben.99Anfang Januar 1938 fand ein weiteres Plenum statt.100 Die wichtigste, zu diskutierende Frage war, wie die \"Folgen der Sabotage in der Landwirtschaft\" zu liquidieren seien und die anstehende Frühlingsaussaat vorbereitet werden könne. Deshalb lud man zu dieser Sitzung ausnahmsweise auch die 70 Vorsitzenden der Vollzugskomitees der Rayonsowjets und die 110 Direktoren der MTS und MTM ein. Mishnaevskii wurde bei dieser Gelegenheit vom Obkom für seine \"antiparteilichen Handlungen als Leiter der Obkomlandwirtschaftsabteilung und Leiter der provinzialen Verwaltung für die Landwirtschaft\" verurteilt. Er wurde aus dem Obkom ausgeschlossen, obwohl er offiziell schon seit Monaten nicht mehr in der Provinz gearbeitet hatte. Das Obkom wurde ferner beauftragt, das ZK über die \"antiparteilichen Handlungen\" Mishnaevskiis zu informieren. Der Kreis der ausgeschlossenen Mitglieder vergrößerte sich weiter: D.L. Bedachev und A.N. Marov verloren das politische Vertrauen, N.V. Nikonov soll als Raikomsekretär von Pustoshinskii nicht eifrig genug \"Volksfeinde\" entlarvt haben und es an politischen Führungsqualitäten mangeln lassen, bei dem Büromitglied und Herausgeber der Provinzzeitung Proletarskaia Pravda, G.V. Voskanian, vermißte man die Einhaltung der richtigen politischen Linie und A.F. Denisov soll ein \"Volksfeind\" gewesen sein usw.Ein wichtiges Plenum fand am 22. März 1938 statt. Politbüromitglied Andreev und ZK-Sekretär Malenkov waren kurz zuvor in der Provinz Kalinin angekommen.101 Es ist unwahrscheinlich, daß Andreev sich noch in Kalinin aufhielt, als das Plenum stattfand, aber wenigstens Malenkov befand sich noch in der Stadt, denn er informierte die Anwesenden über eine ZK-Entscheidung, in der die Fehler des kalininschen Obkoms und des Vollzugskomitees des Provinzsowjets verurteilt wurden. Erst im nachhinein, im Juli 1938, wurden die Kritikpunkte des ZK auf Versäumnisse bei der Bekämpfung von Volksfeinden bezogen.102 Die Mißerfolge der ins Stocken geratenen Wirtschaft wurden auf die Tätigkeit konterrevolutionärer Gruppen zurückgeführt, die ihre Aktivitäten fortgesetzt haben sollen. Auch soll es das Obkom versäumt haben, das parteischädigende98 Ferner waren betroffen: T.N. Volkov, I.I. Sokolov, L.Ia. Nazarov, V.M. Trufanov und S.E. Krysov. Vgl. TTDNI, 147/1/529, L.5/6.99 Es war nicht festzustellen, um welche Rayons es sich handelte. 100 TTDNI, 147/1/529, LL.2-4 und LL.7-8. In der vom Obkom angenommenen Resolution wurden dieParteiführungsgremien u.a. aufgefordert, den \"Kampf für die Entlarvung und Zerstörung der Volksfeinde zu intensivieren\" und alle Partei- und parteilose Bolschewiken zu einer \"noch höheren Wachsamkeit\" zu mobilisieren. Vgl. TTDNI, 147/1/529, LL.7/8. Also ungeachtet dessen, daß 1937 schon sehr viele lokale Parteiführer den Säuberungen zum Opfer gefallen waren, sollte ein Ende noch nicht absehbar sein. 101 TTDNI, 147/1/529, L.27 und 147/1/554, L. 3ob.; die offizielle Entscheidung war auf den 20. März 1938 datiert. Vgl. TTDNI, 147/1/554, L. 3ob. Andreev nahm noch am 17. März an einer Konferenz von Parteisekretären teil. Vgl. TTDNI, 147/1/554, L.240. 102 TTDNI, 147/1/554, L.3 K. N. Boterbloem: Stalinistische \"Säuberungen\" in der ProvinzJHK 1993 75Verhalten der Parteiführer Rabov, Ivanov und Gusikhin aufzudecken. Denn diese drei hätten die Entlarvung von Volksfeinden in führenden Positionen des Staates, der Wirtschaft und der Kultur aufgehalten.103 Weiter heißt es in dem Bericht der Konferenz vom Juli 1938: \"Die Sabotagearbeit der faschistischen Agenten, die beabsichtigten, die Macht der Parteiorganisation, insbesondere auf dem Land, zu schwächen, wurde nicht entlarvt [...]. Das antiparteiliche Verhalten des Amtes des Provinzstaatsanwaltes in Bezug auf Fragen des Kampfes gegen Provokationen und Provokateure, auf Verstösse gegen die revolutionäre Rechtsordnung usw. wurde nicht aufgedeckt.\" 104 Auch die ungesetzlichen Zustände in vielen Kolchosen seien vom Obkom nicht bemerkt worden.105 Ein Beispiel solch ungesetzlicher Handlungen gab ein Prawda-Artikel vom 20. März 1938, der der Situation in der Provinz Kalinin gewidmet war.106 Zu viele der Kolchosevorsitzenden im Bezhanitskii-Rayon seien zunächst \"auf eigenen Wunsch\" von ihren Pflichten entbunden worden, weil sie \"nicht mit ihrer Arbeit fertig wurden\". Daneben habe in der Provinz Kalinin lange \"eine Bande von Volksfeinden gearbeitet. Die rechts-trotzkistischen Schurken taten alles, um die Kolchosen aufzulösen und um die Kolchosekader zu zerschlagen. Die neue Führung des Rayons zog aus all dem keine Schlußfolgerungen.\" 107 Noch immer würden Kolchosevorsitzende ununterbrochen ausgewechseJt.108 Die Rayonzeitung habe ebenfalls in der \"antiparteilichen\" Linie des Raikoms und Raiispolkoms mitgespielt. Sie habe versucht, bei der Entlarvung der Umstürzler behilflich zu sein, übertrieb aber nach Meinung des Prawda-Korrespondenten. Denn zwei Drittel der von der Rayonbehörde und der Zeitung erhobenen Anklagen gegen Kolchosevorsitzende seien von der Staatsanwaltschaft abgewiesen worden.Man hat hier den Eindruck, daß die neuen Rayonführer in Bezhetsk nicht mehr recht wußten, wo bei den \"Säuberungen\" in ihrem Rayon anzufangen und wo aufzuhören war. Sicherlich gab es nach der Meinung der zentralen Parteileitung Umstürzler im Bezhanitskii-Rayon, denn ohne Zweifel hat der Prawda-Korrespondent die ZK-Meinung formuliert. Dennoch war die lokale Führung offensichtlich nicht imstande, die \"ehrlichen\" erfolglosen Vorsitzenden von den \"konterrevolutionären\" Vorsitzenden zu unterscheiden. Es ist möglich, daß die neuen Rayonführer und Rayonszeitungsmacher sich rasch als \"rechts-trotzkistische Schurken\" herausgestellt haben. Wahrscheinlich bezog sich die Kritik des Prawda-Artikels nicht nur auf die Situation in diesem Rayon, sondern auch auf die Fehler der Rayonbehörden in den Provinzen im allgemeinen, und der Bericht über den Bezhanitskii-Rayon diente nur als Beispiel. Während seines Besuchs versuchte vermutlich Andreev, den regionalen Parteisekretären der Provinz zu erklären, wie Volksfeinde aufzuspüren seien, denn offenkundig führten die \"Säuberungen\" in der Provinz allmählich zu einem Chaos. Auch die Wirtschaftsentwicklung war im Juli 1938 alles andere als befriedigend.103 Es ist unklar, weshalb dem zweiten Sekretär, V.I. Ivanov, noch bis zur dritten Parteikonferenz erlaubt wurde, den Sitzungen des Obkoms beizuwohnen. Er war beim Plenum am 29. Juni anwesend, als Rabov und Gusikhin ausgeschlossen wurden. Vgl. TTDNI, 147/1/529, L.31.104 TTDNI, 147/l/554,L.3/3ob. 105 Ebenda, L.3ob. 106 Orlov, K.: V Bezhanitskom raione razgoniaiut kolkhoznye kadry (Po telefonu ot korrespondenta\"Pravdy\" po Kalininskoi oblasti), in: Pravda, 78 (7043), 20 marta 1938, S. 3. 107 Ebenda. 108 Ebenda. 76 JHK 1993AbhandlungenDer Juli-Bericht der dritten Parteikonferenz kritisierte, daß unter Rabov auch die Verteidigungsarbeit in der Provinz vernachlässigt wurde.109 Der noch im Juli 1937 bei Khramenko feststellbare Optimismus hatte sich also als verfrüht herausgestellt. Rabov verlor im März seine Position als erster Parteisekretär und seine Mitgliedschaft im Obkom, weil er angeblich nicht entschieden genug gegen die Folgen der Zersetzungsarbeit vorgegangen sei und nur ungenügend Volksfeinde aufgedeckt habe.110 An seiner Stelle wurde I.P. Boitsov Obkom- und Büromitglied sowie erster Sekretär.111 Das Schicksal von I.F. Gusikhin, der offensichtlich einige Zeit der Vorsitzende des Vollzugskomitees des Oblastsowjets gewesen war, sollte in einer Sitzung des Oblispolkoms entschieden werden. Roy Medvedev zufolge, fiel Gusikhin später auch dem NKWD in die Hände. 12 Dagegen heißt es in der offiziellen Geschichte der Parteiorganisation von Kalinin, daß dieser von 1938-1941 Leiter des industriellen Rats der Provinz war, also entweder gar nicht oder nur für kurze Zeit verhaftet wurde.113Am 29. Juni 1938 fand das letzte Plenum des Obkoms der zweiten Parteikonferenz statt.114 Nur 33 der ursprünglichen 88 Mitglieder waren noch anwesend. Zwei Fragen wurden behandelt: Erstens der Bericht über die Arbeit des Obkoms für die dritte Parteikonferenz der Provinz, die am 1. Juli beginnen sollte (LP. Boitsov wurde mit der Aufgabe betraut, den entsprechenden Bericht der Konferenz vorzulesen), und zweitens eine Reihe von sogenannten Organisationsfragen, ein euphemistischer Ausdruck für weitere \"Säuberungen\", die von I.Ia. Kalinin besprochen wurden. Nun waren G.I. Krul\', E.Ia. Nosovskii, V.F. Karsanov, I.P. Zhdanov und K.A. Gadbank an der Reihe, die jetzt anscheinend ihr wahres Gesicht als Volksfeinde gezeigt hätten und deshalb aus dem Obkom ausgeschlossen wurden.115 Gleiches Schicksal ereilte die Mitglieder des Revisionskomitees, G.G. Liamin und I.M. Petukhov, weil sie \"des Titels eines Mitglieds des Revkoms der VKP(b) nicht würdig\" gewesen seien. Auch P.G. Rabov, I.F. Gusikhin, Trushin, Briskina, Ivushkin, Peskarev, Chukanov und Mitrakov, die zuvor schon die Provinz verlassen hatten, wurden jetzt formell ausgeschlossen.Vom 1. bis zum 4. Juli 1938 fand die dritte Parteikonferenz statt.116 Unter Mithilfe des NKWD hatte die neue Parteiführung seit März 1938 mit der Ausrottung der konterrevolutionären Gruppen in der Provinz Erfolg gehabt, 117 und mancher Nachwuchskader war bereits nachgerückt. Dennoch hieß es im Juli 1938 noch immer, daß die Beseitigung der Folgen der Zerstörung erst begonnen habe.118 Wie wenig sich die wirtschaftliche Situation gebessert hatte, spiegelten Klagen wider, wonach in der Landwirtschaft, bei-109 TTDNI, 147/1/554, L.3ob. 110 TTDNI, 147/1/529, L.27. Er soll 1943 im Alter von 39 Jahren gestorben sein. Die genaueren Um-stände sind unbekannt, d.h. er kam vermutlich im Lager ums Leben. Vgl. Ocherki istorii kalininskoi organizatsii KPSS, a.a.O., S. 705. 111 TTDNI, 147/1/529, L.28. Boitsov hatte zuvor als Sekretär des Okruzhkoms von Pskov gearbeitet und war wahrscheinlich der großen Mehrheit der Obkommitglieder unbekannt. Vgl. TTDNI, 147/1/555, L.245. Das Amt des ersten Parteisekretärs bekleidete er von März 1938 bis November 1946. Vgl. Ocherki istorii kalininskoi organizatsii KPSS, a.a.O., prilozhenie 2. S. 701. 112 Medvedev, Let History Judge, a.a.O., S. 410. 113 Ocherki istorii kalininskoi organizatsii KPSS, a.a.O., prilozhenie, S. 703. 114 TTDNI, 147/1/529, LL.31/32. 115 Ebenda, L.31. 116 TTDNI, 147/1/554 und 147/1/555. 117 TTDNI, 147/1/554, L.3ob. 118 Ebenda, L.4. K. N. Boterbloem: Stalinistische \"Säuberungen\" in der ProvinzJHK 1993 77spielsweise im Flachsanbau und in der Viehzucht, die Folgen der Sabotage noch immer nicht aufgeholt worden seien.119 Die gleichen Probleme, die schon von dem bald in Ungnade gefallenen Mishnaevskii in Juni 1937 benannt wurden, waren also auch noch ein Jahr später in der Landwirtschaft der Provinz anzutreffen.120 Dank der Umstürzler stagnierte im Juli 1938 auch die Industrie, und die Staatspläne, insbesondere bezüglich der Produktqualität, wurden ebenfalls nicht erfüllt.121Boitsov beschäftigte sich in seiner langen Rede sehr eingehend mit den Problemen der Provinz. So sei die Staatsanwaltschaft, die zwischen 1935 und 1937 insgesamt 59.000 Menschen aus ländlichen Gebieten verurteilt habe, übereifrig gewesen. 1937 wurden die Verfahren gegen 2.060 Personen eingestellt.122 Die Zahl der Verurteilten war trotzdem erstaunlich hoch (mehr als 3 Prozent der ländlichen Bevölkerung!),123 denn diese drei Jahre fielen nicht in die Kollektivierungsperiode. Obwohl bisher meist vom Terror gegen die Sowjetelite in jenen Jahren gesprochen wurde, darf nicht vergessen werden, daß auf dem Lande die Unterdrückung der Bevölkerung auch nach der Kollektivierung kaum nachließ. Der Fall N.M. Mironov illustriert diese Schreckensherrschaft: 124 Mironov wurde im Februar 1930 \"entkulakisiert\", aus dem Dorf verbannt und sein Haus enteignet. Ein Jahr später kehrte er in sein Dorf zurück und versuchte erfolglos, seine Wahlrechte zurückzuerlangen. 1937 wurde er schließlich von einer Troika als \"antisowjetisches Element\" und als \"Volksfeind\" zu einer Strafe ohne Korrespondenzrecht verurteilt, also höchstwahrscheinlich hingerichtet.Boitsov scheint den Versuch gemacht zu haben, durch seine Kritik die Zahl der Verhaftungen zu verringern.125 Dennoch zeigte er kein Mitleid mit den Obkom-\"Volksfeinden\" und gab eine zu geringe Zahl von \"entlarvten Volksfeinden\" an. So meinte er, daß fünf von elf Büromitgliedern und 28 Obkom-Kandidaten und -Mitglieder enttarnt worden seien.126 Obgleich er Rabov, Gusikhin und V.l. Ivanov heftig kritisierte, bezeichnete er sie - noch? - nicht als Volksfeinde. Einern anderen typischen Element der \"Säuberungen\" begegnen wir in der Kritik Boitsovs an V.l. lvanov. lvanov war bis dahin der zweite Parteisekretär und soll infolge seiner Beziehungen zu der karelischen Minderheit für den bourgeoisen Nationalismus in der Provinz verantwortlich gewesen sein.127119 Ebenda. 120 Mishnaevskii hatte auf der zweiten Parteikonferenz nacheinander die Fruchtfolge bzw. den Kleean-bau, die landwirtschaftlichen Forschungsstationen, die Umsiedlung von Bauern, die noch immer außerhalb des Kolchosendorfes als Khutor lebten, die Situation der Kader, die Lage in der Viehzucht und in den MTS kritisiert, wobei auch er festgestellt hatte, daß alle diese Fehler auf die Arbeit von Saboteuren zurückzuführen seien. Vgl. TTDNI, 147/1/526, LL.66-74. 121 TTDNI, 147/1/554, L.4 122 Ebenda, L.95 123 Vgl. oben die Bevölkerungszahl von 1939. 124 Asinkritov, G.: Raskulachennyi, in: Glasnost\'. Udomel\'skaia obshchestvenno-politicheskaia gazeta Tverskoi oblasti, II, No.9 (46), liun\' 1992, S. 5-6. 125 TTDNI, 147/1/554, LL.95/96. Damit ist seine Rede vergleichbar mit dem einen Monat zuvor veröffentlichten Prawda-Artikel. 126 Ebenda, LL.120/121. 127 Vgl. ebenda, L.122. 1939 wurde - vielleicht im Zusammenhang mit dem Finnland-Krieg - der autonome Okrug der Karelier in der Provinz aufgehoben. Vgl. Kotliarskaia, L.A./Freidenberg, M.M.: Iz istorii Tverskoi Kul\'tury. Anatolii Nikolaevich Vershinskii (1888-1944). Uchebnoe posobie. Tver\' 1990. S. 117, vgl. auch Vinogradov, V.: Karel\'skoe \"delo\". Tver\' 1991. 78 JHK 1993AbhandlungenDas auf dem ersten Plenum am 6. Juli gewählte Büro hatte eine völlig andere personelle Zusammensetzung als noch im Juni 1937.128 I.P. Boitsov wurde erster, A.A. Abramov zweiter und I.Ia. Kalinin dritter Sekretär. I.P. Volchenkov wurde Leiter der Obkomabteilung für führende Parteiorgane und LA. Perepelkin Leiter der Abteilung für Propaganda und Agitation. Das dritte Plenum im Oktober 1938 diskutierte das Mitgliederwachstum der Partei, das nach Meinung des Obkoms zunehmen mußte. Ferner wurde die unbefriedigende politische Schulung der Jungkommunisten diskutiert. Obwohl nicht explizit thematisiert, war nunmehr die Vergrößerung der Partei dringend notwendig, weil zuvor zahlreiche Kommunisten, insbesondere erfahrene Kader, verhaftet worden waren.129 Dennoch wurden die Büromitglieder Volchenkov und G.D. Bulygin sowie der ehemalige Parteisekretär des Rayons Kimry ausgeschlossen, nachdem sie vom NKWD verhaftet worden waren. A.Ia. Frolov, Leiter der Landwirtschaftsabteilung des Obkoms, wurde Kandidat und Perepelkin Vollmitglied des Obkombüros.Vermutlich markiert das Plenum vom 21. bis zum 23. Dezember 1938 das Ende der \"großen Säuberungen\" in der Provinz.130 Die nunmehr Ausgeschlossenen hatten wahrscheinlich allzu emsig Konterrevolutionäre in der Provinz verfolgt, wie beispielsweise Ezhov und seine Mitarbeiter in Moskau. AN. Nikonov, der NKWD-Leiter, wurde von seinen ehemaligen Kollegen unter Arrest gestellt und dann ausgeschlossen. Büromitglied Kalinin wurde aus der Partei entfernt, weil ihm grobe politische Irrtümer zur Last gelegt wurden, und das Mitglied F.E. Zhukov und der Kandidat A.S. Savvin wurden wegen politischer Fehler aus dem Obkom ausgeschlossen. I.Ia. Kalinin hatte sich früher mit \"Organisationsfragen\" beschäftigt und mochte sich dabei etwas zu begeistert gezeigt haben. A.Ia. Frolov stieg zum Vollmitglied des Büros auf. Zweifelsohne war Nikonov ein Mann Ezhovs, weil er in seiner, auf der dritten Parteikonferenz im Juli 1938 vorgetragenen Biographie feststellte, daß das ZK ihn 1936 auf die höhere Schule für Parteiorganisatoren geschickt habe, und er anschließend 1937 vom ZK zur Arbeit im NKWD berufen wurde.131 Ezhov war noch 1936 verantwortlicher ZK-Sekretär für die Parteiorgane und wurde dann Mitte 1937 zum Volkskommissar ernannt, genau zu dem Zeitpunkt, als auch Nikonov zum NKWD versetzt wurde.Mitte November 1938 gaben Molotow und Stalin den Befehl, die nahezu willkürlichen, die ganze Sowjetunion betreffenden Verhaftungen der Jahre 1937 und 1938 einzustellen.132 Im Provinzmuseum für Heimatkunde der Stadt Tver kann man in der ständigen Ausstellung über die \"Säuberungen\" heute feststellen, daß am 3. Dezember 1938 die fünf Provinzführer des NKWD - unter anderen offensichtlich Nikonov - verhaftet worden sind. Auch hier wurde Ezhovs Truppe, genauso wie in Moskau und anderen Orten der UdSSR, durch neue Leute ersetzt. Die Provinzabteilung des NKWD hatte seit Juni 1937 nacheinander drei Leiter, nämlich Dombrovskii, Guminskii und dann Niko-128 TTDNI, 147/1/529, L.35/36. Boitsov, Abramov, Kalinin, Volchenkov, A.P. Starotorzhskii, Vorsitzender des Oblispolkoms, A.N. Nikonov, NKWD-Leiter und S.M. Antoniuk, Herausgeber der Zeitung, wurden zu vollberechtigten Mitgliedern, Perepelkin und L.I. Krylov zu Kandidaten gewählt. Vgl. auch TTDNI, 147/1/529, L.31. Wenigstens drei, Boitsov, Starotorzhskii und Krylov, waren im Januar 1943 noch immer Obkommitglieder. Vgl. Rossiiskii tsentr khraneniia i izucheniia dokumentov noveishchei istorii (Moskva). Fond 17. Opis\' 43. Delo 742. List 1.129 TTDNI, 147/1/529, LL.46-51. 130 Ebenda, LL.53-64. 131 TTDNI, 147/1/555, L.272. 132 Gevorkian, Vstrechnye plany, a.a.O., S. 19. K. N. Boterbloem: Stalinistische \"Säuberunxen\" in der ProvinzJHK 1993 79nov, verloren. Neuer NKWD-Leiter wurde wahrscheinlich D.S. Tokarev, der auch noch während des Krieges das Provinz-NKWD leitete.133Ende 1938 wurde dem Obkomsekretariat über drei Mitarbeiter der Kriminalabteilung des Rayons von Torzhok berichtet, die strafrechtlich verfolgt wurden, weil sie 1937 während der Kampagne gegen die Umstürzler fingierte \"Beweise\" über verschiedene Bürger beschafft hätten.134 Eine Versammlung der Partei- und Komsomolzellen der NKWD-Mitarbeiter von Torzhok war zu dem Ergebnis gekommen, daß diese verwerflichen Praktiken von den NKWD-Führern Dombrovskii und Slonimskii inspiriert worden seien. Die Partei- und Komsomolmitglieder erklärten die drei für unschuldig, weil sie von Mikhailov und Bogdanov, den Rayonvorsitzenden des NKWD-Torzhok, in die Irre geführt wurden, da sie 1937 unerlaubten Druck auf Zeugen ausübten und sie zum Beispiel mehrere Tage lang im Korridor des lokalen NKWD-Büros festhielten.135 Die NKWD-Mitarbeiter der Zellen erklärten, daß sich diese Sache schon seit einem Jahr fortschleppe, die drei sollten deshalb freigelassen werden und statt ihrer Mikhailov und Bogdanov verhaftet werden. Man kann daraus den Schluß ziehen, daß es im Dezember 1938 wieder - wenigstens offiziell - als ungesetzlich betrachtet wurde, innerhalb des NKWD Zeugen unter Druck zu setzen. Darüber hinaus wagten nun die Mitarbeiter der \"Organe\" wieder, ihre Kollegen zu verteidigen.Wie schrecklich die \"verwerflichen Praktiken\" des NKWD in der Provinz von Kalinin vermutlich waren, offenbart folgende Tatsache, über die einige Mitglieder der Tverer Organisation von \"Memorial\" berichteten. Danach habe das NKWD der kalininschen Provinz den Ruf gehabt, bei der Vernichtung sehr vieler Menschen besonders tatkräftig vorgegangen zu sein. Das NKWD in Moskau und Leningrad habe Häftlingsgruppen des öfteren zu \"weiteren Verhören\" in andere Städte geschickt. Die Menschen seien in Eisenbahnwaggons geladen und nach Kalinin zu ihrer Hinrichtung transportiert worden. Genauso habe man auch in Leningrad verfahren. Auf diese Weise habe das NKWD von Kalinin besonders viel Arbeit gehabt. Während das NKWD in Wladimir sich auf außerordentlich grausame Folterungen von Häftlingen spezialisiert habe, waren Massentötungen eine spezielle Aufgabe des kalininschen NKWD. Deshalb sei auch die rasche Durchführung von Begräbnissen für die kalininschen \"Organe\" besonders dringlich gewesen. Die Miliz sei in vielen Nächten damit beschäftigt gewesen, den Leichentransport auf Karren und Lastkraftwagen durch die Straßen von Volynskaia und Barshinkovskaia zum städtischen Friedhof in Fluß zu halten. Schon bald habe es auf dem Friedhof keinen Platz mehr gegeben, weshalb es durchaus möglich sei, daß ein Teil der Opfer einfach auf dem NKWD-Anwesen verbrannt wurde.136133 In dieser Position war er spätestens im April 1939. Vgl. TTDNI, 147/1/594, L.1. Zur Anwesenheit von Tokarev im Jahre 1943 vgl. Rossiiskii tsentr khraneniia i izuchenie dokumentov noveishchei istorii (Moskau). Fond 17. Opis\' 43. Delo 742. List 1.134 TTDNI, 147/1/594, L.2. 135 Man kann sich vielleicht vorstellen, was wirklich geschah, wenn man folgendes liest. Vgl. Kotliars-kaia, /Freidenberg, Iz istorii, a.a.O., S. 130, Anm. 40: \"Wir berichten hier nicht über jene schreckliche Arbeit, die in der Provinz, insbesonders in den TONe [d.h. \"Gefängnissen für besondere Zwckke\", russisch: \"tiur\'my osobogo naznacheniia\", K.B.] oder \"Hinrichtsgcfängnissen\" zum Beispiel in Torzhok, wie sie auch genannt wurden, stattfand.\" 136 Vgl. Kotliarskaia/Freidenberg, Iz istorii, a.a.O., S. 128. Dies konnte vom Verfasser allerdings nicht überprüft werden, weshalb diese Informationen mit Vorbehalt zu behandeln sind. 80 JHK 1993AbhandlungenEs war notwendig, für die seit 1929 Verhafteten mehr Gefängnisse und Lager zu errichten. Freilich wurden sehr viele Häftlinge unter anderem nach Workuta, Kolyma, Karaganda und der Komi-Republik geschickt. Dennoch hat das NKWD auch in der Provinz von Kalinin seine Lager gehabt. Es wurde festgestellt, daß es in diesen Jahren - hauptsächlich wurden die dreißiger Jahre erforscht - im NKWD-Einflußbereich mindestens elf Gefängnisse, 26 Arbeitsstraflager, sechs Waisenheime und zwei Heime für Jugendliebe gab.137 Im Rahmen der durchgeführten Befragung konnten sich etliche an politische Häftlinge erinnern, die Mitte der dreißiger Jahre am Bau des Wolga-Moskwa-Kanals in der Nähe des Städtchen Konakovo mitgearbeitet hatten.138 So meinte L.P. Pliasnikova (Jg. 1930), eine Arbeiterin der Porzellanfabrik von Konakovo: \"Vor dem Krieg haben sie bei uns in der Nähe angefangen, ihn [den Kanal, K.B.] zu bauen. Häftlinge haben ihn gebaut. Die Lager waren entlang des Kanals errichtet worden. Irgendwie war ein Teil der Gefangenen ohne Bewachung. Sie besuchten dann und wann die Häuser und baten um Brot. Die Leute waren ruhig, schweigsam, übermannt von Kummer. Mama hatte gar keine Angst, mich mit ihnen mitzuschicken. Und niemand von ihnen hat uns damals etwas getan.\"Das Lager in der Nähe von Ostashkov war besonders berüchtigt.139 Dort wurde 1939 ein Teil der polnischen, im September/Oktober 1939 von der Roten Armee gefangenen Offiziere interniert. Die meisten Insassen wurden im Frühling 1940 nach Katyn oder vielleicht in das Dorf Mednoe in der Nähe von Kalinin transportiert und dort ermordet.140Nur die wenigsten Opfer des Stalinismus wurden rehabilitiert, so zwischen 1955 und 1987 lediglich 1.980 und 1988/1989 weitere 15.224 Provinzeinwohner.141 Deshalb ist auf die 59.000 Verhafteten auf dem Lande zu erinnern, von denen Boitsov 1938 sprach, obwohl freilich nicht alle aus politischen Gründen festgenommen worden waren. Nach unserem heutigen Erkenntnisstand kann man davon ausgehen, daß alles, was in Moskau während der Ezhovshchina geschah, auf allen Ebenen der Partei und des Staates nachgeahmt wurde. Offenkundig ist ferner, daß die Bevölkerung außerhalb der Partei nicht unbehelligt blieb. Von 1935 bis 1937 wurden auf dem Lande noch immer tausende einfache Menschen verhaftet.Wie in anderen Gebieten der Sowjetunion scheinen auch in der Provinz von Kalinin die \"Säuberungen\" kaum einem Zweck gedient zu haben. Da so viele \"entlarvte Volksfeinde\" usw. des vreditel\'stvo beschuldigt wurden, bekommt man mitunter den Eindruck, daß man versuchte, durch solche massierten Verhaftungen die Resultate der Wirtschaft zu verbessern. Denn die wirtschaftlichen Erfolge der Provinz waren seit der Stalinschen Revolution von 1929/30 gering. Neben den katastrophalen Folgen der Kollektivierung und den Problemen, die der überzentralisierten Planwirtschaft der Sowjetunion ohnehin eigen waren, war dies auch den niedrigen staatlichen Investitionen in der Provinz geschuldet. Vielleicht sollte dies mit Hilfe des Terrors kompensiert werden. Der Prawda-137 Vgl. die Angaben in der ständigen Ausstellung des Tverer Museums für Heimatkunde. 138 Wie stark bei den Zeitzeugen das Mißtrauen auch heute noch ausgeprägt ist und ehrliche Antwortenverweigert werden, wenn man nach den damaligen Erlebnissen fragt, ist daran erkennbar, daß die meisten Einwohner dieses Ortes, die dort schon in den dreißiger Jahren lebten, angaben, nichts von irgendwelchen Lagern gewußt zu haben. 139 Vgl. Abarinov, V.: Katynskii Labirint. Moskva 1991. Insbes. S. 44-54. 140 Zoria, I.:Rezhisser katyn\'skoi tragedii, in: Beriia: Konets kar\'ery. Moskva 1991. S. 175. 141 Vgl. die Angaben der ständigen Ausstellung im Museum für Heimatkunde in Tver. K. N. Boterbloem: Stalinistische \"Säuberungen\" in der ProvinzJHK 1993 81Bericht vom März 1938 beweist aber, daß die \"Säuberungen\" im Gegenteil zum Chaos führten. Es ist indes nicht wahrscheinlich, daß die zentralen Parteiführer dies frühzeitig erkannten, denn die Ausschlüsse aus dem Obkom wurden noch einige Monate lang fortgeführt. Erst etwa Mitte 1938 trug man der Tatsache Rechnung, daß die \"Säuberungen\" und die Verhaftungsdrohungen die Wirtschaft mehr behinderten als förderten. Wahrscheinlich ebbte deshalb die Verhaftungswelle allmählich ab.Man könnte schlußfolgern, daß die Parteielite, wie zum Beispiel Goliakov, deshalb eifrig mitsäuberten, weil sie tatsächlich davon ausging, der Klassenkampf verschärfe sich, so wie dies Stalin im Februar/März 1937 behauptet hatte.142 Diese Erklärung ist allerdings wenig plausibel. Denn es ist sehr zweifelhaft, ob beispielsweise jemand wie Goliakov so naiv war, tatsächlich zu glauben, daß fast alle seine ehemaligen Kollegen im Dienst des Feindes standen. Offenkundig gingen die eifrigen \"Säuberer\" davon aus, daß ihnen die Säuberung erspart bleiben würde, wenn sie nur rücksichtsloser vorgingen als Stalin und die wenigen ZK-Mitglieder, die die Ezhovshchina überlebten. Letztendlich war dies ein Akt der Feigheit. Doch wird Feigheit leider zur Regel, wenn Menschen in Schwierigkeiten geraten. Alte Freundschaften und Loyalitäten zählten nicht länger, wichtig war nur noch, selbst zu überleben und vielleicht von dem Ganzen zu profitieren. Da die Täter später selbst zu Opfern wurden, reichte Strebsamkeit allein meist nicht aus, um die eigene Haut zu retten. Es wäre spannend zu erfahren, was geschehen wäre, wenn genügend Menschen erklärt hätten: Alles ist erlogen, es kann nicht sein, daß die Helden der Oktoberrevolution und des Bürgerkrieges nunmehr versuchten, die Revolution zu liquidieren.Wie dem auch sei, es ist unmöglich, der unfaßbaren Unterdrückung, die auch die Provinz Kalinin und ihre Vorgänger in den dreißiger Jahren heimgesucht hat, etwas Positives abzugewinnen. Neben den wirtschaftlichen Gründen für die Beendigung der \"Säuberungen\" ist auch auf die Kriegsfolgen zu verweisen. Ein großer Teil der Provinz wurde zerstört und sehr viele Soldaten kehrten nicht wieder von der Front zurück, weshalb die Behörden darauf verzichteten, gegen die Bevölkerung und die kommunistische Partei hart vorzugehen. Nach 1945 war die Zahl der Verhaftungen erheblich geringer als vor 1939.143 Es bleibt noch vieles im Ungewissen. Nur der Zugang zu den NKWD-Archiven - ihre vollständige Erhaltung vorausgesetzt - kann die großen Forschungslücken schließen, die bei der Aufarbeitung der stalinistischen \"Säuberungen\" klaffen.142 Vgl. Academy of Sciences of the U.S.S.R., Institute of History, A Short History of the USSR. Part II. Moscow 1965. S. 182.143 Es ist zweifelsohne richtig, daß Menschen, die 1945 aus deutscher Gefangenschaft zurückkeh1ien, in ein Arbeitslager geschickt wurden. Dennoch gaben in der Umfrage zwei ehemalige kriegsgefangene Soldaten an, daß ihnen erlaubt wurde, gleich nach Hause zurückzukehren.

Inhalt – JHK 1993

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